eJournals Internationales Verkehrswesen 68/4

Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2016-0079
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2016
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Globalisierung neu gestalten

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2016
Werner Balsen
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Internationales Verkehrswesen (68) 4 | 2016 23 Z wei bedeutende Freihandelsabkommen liegen auf den Tischen der Politiker: die Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP) zwischen der EU und den USA sowie das Handelsabkommen zwischen der Union und Kanada (Ceta). Über TTIP verhandeln beide Seiten noch, über Ceta sind sich nur die EU-Kommission und die kanadische Regierung einig. Die EU-Mitgliedstaaten konnten sich - so der Stand bei Redaktionsschluss Ende Oktober - nicht auf den ausgehandelten Vertrag verständigen. Auch im Europäischen Parlament und in den Volksvertretungen der EU-Mitgliedstaaten ist die Zustimmung nicht sicher. Das sind die Fakten. Und das hören wir jeden Tag: TTIP wird nichts mehr, tönt der deutsche Wirtschaftsminister. Unsinn, wir verhandeln intensiv und erfolgversprechend, halten EU-Kommission und US- Regierung dagegen. Der Wirtschaftsminister schadet den deutschen Außenhandelsinteressen, kritisieren deutsche Wirtschaftsverbände. Der Minister hat es endlich begriffen, freuen sich die Hundertausende Gegner des Abkommens zwischen Flensburg und Füssen. Ceta ist gut, sagt der Wirtschaftsminister. Wer bei TTIP skeptisch ist, kann Ceta nicht gut finden, sagen Fachleute, weil beide Abkommen in den zentralen Punkten identisch sind. Eine unsägliche Kakophonie. Dennoch hat selbst die ihr Gutes. Denn sie hat dafür gesorgt, dass der weltweit ungehinderte Handel, kurz: die Globalisierung, endlich kritischer gesehen wird - und das nicht nur in taktisch geprägten Politiker-Statements, sondern auch bei Wirtschaftswissenschaftlern. Galt der freie, weder durch Zölle noch durch nicht-tarifäre Hindernisse gezügelte Handel jahrzehntelang als Heilsbringer schlechthin, gestehen heute selbst seine Befürworter ein, dass die Globalisierung neben Gewinnern auch Verlierer hervorbringt. Wer sich einen kritischeren Blick auf den gesamten Globus bewahrt hatte als die ordo-liberale Wirtschaftswissenschaft auf der Nordhalbkugel, der wusste längst, dass die ökonomisch potenten Industrienationen Profiteure, die Staaten auf der Südhalbkugel mit ihren weniger starken Volkswirtschaften dagegen eher Opfer der Globalisierung sind. Spätestens mit dem Erstarken von rechtspopulistischen politischen Bewegungen in der EU und in den USA wird deutlicher, dass es Benachteiligte der Globalisierung auch in den Industrienationen gibt. Und die lassen sich - anders als bei der Kurvendiskussion im volkswirtschaftlichen Seminar - eben nicht rasch in andere Sektoren und andere Berufe verschieben, sondern belasten die Sozialkassen und werden politisch zum Risiko für die etablierten Parteien. Kurzum: Die Globalisierung hält nicht alles, was ihre Befürworter landauf landab vollmundig versprochen haben. Deshalb müssen ihr Zügel angelegt werden. Staaten auf der Südhalbkugel müssen ihre schwachen Volkswirtschaften schützen dürfen - so wie es die Länder des Nordens getan haben, als ihre Ökonomien noch fragil waren. Und überall muss viel mehr für die soziale Sicherheit getan werden, um die zu schützen, die durch die Globalisierung ihre Jobs und ihre Zukunftsperspektiven verlieren. Dem weltweiten Handel auf diese Weise seine unbegrenzten Freiräume zu nehmen, heißt nicht, ihn abzuschaffen. Es heißt, ihn zu reformieren. Und nur eine solche Reform wird ihn retten können. Beim Espresso verriet ein Beamter der EU- Kommission, er hätte aus erster Hand erfahren, dass ein Industrieverband intensiv an einer „Buy-European“-Kampagne arbeite. Ein solches Konzept ist auch eine Reaktion auf die „Buy-American“-Aufrufe, die im Wahlkampf in den USA erstmals auftauchten und dort eine Konstante im Wahlkampf des republikanischen Präsidentschaftskandidaten sind: „America first“. Mit anderen Worten: Schluss mit der Globalisierung. In Europa meldet die EU-Kommission, in den vergangenen acht-Jahren habe das Arsenal an handelbehindernden Instrumenten, die die wichtigsten Wirtschaftspartner der Union einsetzen, zugenommen. In Frankreich steht die Regierung unter enormem Druck von Rechtspopulisten, Importe aus dem Ausland einzuschränken. Es scheint nur noch eine Chance zu geben, nach Jahren des ungezügelten internationalen Freihandels einen Rückfall in die schlechten alten Zeiten des Protektionismus zu verhindern: Der Politik muss es gelingen, die Globalisierung so zu gestalten, dass alle - und nicht nur einige - von ihren Versprechen überzeugt sein können. Das kann durchaus bedeuten, die derzeit kritisch diskutierten Freihandelsabkommen TTIP und Ceta erst mal vom Tisch zu nehmen, sie kritisch zu überprüfen und notfalls in ihrer derzeitigen Form zu verwerfen. Auch wenn das Vielen nicht gefällt. ■ Werner Balsen EU-Korrespondent der DVZ Deutsche Verkehrs-Zeitung B E R I C H T A U S B R Ü S S E L VON WERNER BALSEN Globalisierung neu gestalten