eJournals Internationales Verkehrswesen 68/4

Internationales Verkehrswesen
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expert verlag Tübingen
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Werner von Siemens - Erfinder, Unternehmer, Visionär

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Er war ein verantwortungsvoller Unternehmer und weitsichtiger Erfinder, der die Entwicklung der Elektroindustrie und der Mobilität, wie wir sie heute kennen, entscheidend vorangebracht hat: Mit Erfindungen wie dem elektrischen Zeigertelegrafen, dem elektrischen Generator oder der weltweit ersten elektrischen Straßenbahn leistete Werner von Siemens einen maßgeblichen Beitrag zur technischen Entwicklung unserer Welt. Zusammen mit Johann Georg Halske gründete er die „Telegraphen-Bauanstalt von Siemens & Halske“, die bereits zu seinen Lebzeiten ein Unternehmen von Weltrang wurde. Zeitgemäß interpretiert wirken sein Unternehmergeist und seine soziale Verantwortung im heutigen Weltkonzern Siemens AG bis heute nach. In diesem Jahr wird sein 200. Geburtstag gefeiert.
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Internationales Verkehrswesen (68) 4 | 2016 61 Werner von Siemens EXTRA Werner von Siemens - Erfinder, Unternehmer, Visionär Er war ein verantwortungsvoller Unternehmer und weitsichtiger Erfinder, der die Entwicklung der Elektroindustrie und der Mobilität, wie wir sie heute kennen, entscheidend vorangebracht hat: Mit Erfindungen wie dem elektrischen Zeigertelegrafen, dem elektrischen Generator oder der weltweit ersten elektrischen Straßenbahn leistete Werner von Siemens einen maßgeblichen Beitrag zur technischen Entwicklung unserer Welt. Zusammen mit Johann Georg Halske gründete er die „Telegraphen-Bauanstalt von Siemens & Halske“, die bereits zu seinen Lebzeiten ein Unternehmen von Weltrang wurde. Zeitgemäß interpretiert wirken sein Unternehmergeist und seine soziale Verantwortung im heutigen Weltkonzern Siemens AG bis heute nach. In diesem Jahr wird sein 200. Geburtstag gefeiert. W erner von Siemens entstammt einem alten Goslarer Stadtgeschlecht (Bild 1), am 13. Dezember 1816 wird er als viertes Kind des Gutspächters Christian Ferdinand Siemens geboren [1]. Der junge Mann will einen praktisch-wissenschaftlichen Beruf ergreifen, doch die wirtschaftliche Situation der Eltern erlaubt kein akademisches Studium. Um sich dennoch Zugang zu einer naturwissenschaftlichtechnischen Ausbildung zu verschaffen, tritt er Ende 1834 in die preußische Armee ein und besucht ab November 1835 als Offiziersanwärter die Artillerie- und Ingenieurschule in Berlin. Die bietet ihm eine Ausbildung auf Hochschulniveau - und eine solide Basis für seine künftigen Arbeiten. Schon während seiner Militärzeit forscht Siemens auf dem damals noch neuen Gebiet der Elektrotechnik. Im Jahr 1842 beispielsweise entwickelt er ein einfaches Verfahren, mit Hilfe von Gleichstrom aus Batterien einen Teelöffel aus Neusilber wahlweise mit Silber- oder Goldüberzug zu versehen. Für dieses Verfahren erhält er ein Patent und verkauft es an einen Juwelier. Beim Militär freilich interessiert man sich eher für schnelle und sichere Nachrichtenübertragung. Mitte des 19. Jahrhunderts bietet die Elektrizität die Chance, die Übertragung von Nachrichten grundlegend zu revolutionieren, und Werner von Siemens erkennt diese Möglichkeit: Ende 1846 entwickelt er einen Zeigertelegrafen mit Selbstunterbrechung, der zuverlässiger arbeitet als alle bisherigen Apparate dieser Art (Bild 2). Im Jahr darauf erfindet er ein Verfahren, um Drähte mit einer nahtlosen Umhüllung aus Guttapercha zu versehen - es ist bis heute Grundlage zur Herstellung isolierter Leitungen und elektrischer Kabel. Mit der Entwicklung des Zeigertelegrafen ist zugleich der Grundstein gelegt für die „Telegraphen-Bauanstalt von Siemens & Halske“, die er am 1. Oktober 1847 gemeinsam mit dem Feinmechaniker Johann Georg Halske in Berlin gründet (Bild 3). Zehn Handwerker fertigen hier an drei Werkbänken die ersten Zeigertelegrafen aus Weißblech, Kupferdraht, Holzkisten und anderen Materialien. Der 150 m 2 große Betrieb liegt in einem Hinterhaus in der Schöneberger Straße 19, unweit des Anhalter Bahnhofs im heutigen Bezirk Friedrichshain (Bild 4), und die beiden Unternehmensgründer ziehen gleich mit ein: „Ich wohne Parterre, die Werkstatt eine Treppe, Halske zwei Treppen hoch, in Summa für 300 Taler [jähr- Bild 1: Werner von Siemens um das Jahr 1885 Alle Bilder: Siemens AG/ Siemens Historical Institute Internationales Verkehrswesen (68) 4 | 2016 62 EXTRA Werner von Siemens lich]“, schreibt Werner von Siemens an seinen Bruder Wilhelm in London [1, 2]. Schnell entwickelt sich dieses Start-up, das bald Läutewerke für Eisenbahnen, Wassermesser, Drahtisolierungen mit Guttapercha sowie elektrische Telegrafen und Telegrafenanlagen herstellt, zu einem international operierenden Unternehmen. Den ersten staatlichen Großauftrag erhält Siemens & Halske schon 1848 mit dem Bau einer mehr als 500 Kilometer langen Telegrafenlinie zwischen Berlin und Frankfurt am Main. Für die russische Telegrafenverwaltung errichtet die Firma ab 1853 unter Leitung des jüngeren Bruders Carl von Siemens ein rund 10 000 Kilometer umfassendes Telegrafennetz von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer und übernimmt auch den Service. Und in England gelingt Bruder Wilhelm, der sich später William Siemens nennt [3], mit der Herstellung telegrafischer Seekabel und später 1874/ 75 mit der Verlegung eines Überseekabels von Irland in die USA internationaler Erfolg. Neben seiner Unternehmertätigkeit ist Werner von Siemens auch in anderen wissenschaftlichen Fachgebieten aktiv. Er entwickelt beispielsweise 1857 die Ozonröhre, die elektrisch erzeugtes Ozon zur Reinigung von Trinkwasser verwendet. Und er formuliert das Gegenstromprinzip, eine beim Wärme- oder Stoffaustausch angewandte Methode, bei der zwei Stoffströme in entgegengesetzter Richtung aneinander vorbeigeführt werden - später großtechnisch genutzt durch den Kältetechnik-Pionier Carl von Linde. Grundlage für die Mobilität, wie wir sie heute kennen, ist jedoch die Entwicklung des ersten elektrischen Generators ohne Dauermagneten im Jahr 1866 (Bild 5). Der Dynamo verändert die Welt Das dynamoelektrische Prinzip ist zwar bereits vom Dänen Søren Hjorth und ebenfalls vom Ungarn Ányos Jedlik entdeckt worden. Siemens allerdings erkennt als Erster die Tragweite der Entdeckung - und glaubt an den Siegeszug der elektrischen Energie [4]. Seine Dynamomaschine, angetrieben durch Dampfmaschine oder Wasserrad, kann mechanische Energie auf wirtschaftliche Weise in elektrische Energie umwandeln. Diese Innovation ist nicht nur Voraussetzung für eine industrielle Stromerzeugung. Die Erzeugung und Übertragung elektrischer Energie in großem Umfang erlaubt den flexiblen Einsatz des Elektromotors, der gemeinsam mit dem Verbrennungsmotor bis zum Ende des 19. Jahrhunderts die Dampfmaschine ablöst und die zweite industrielle Revolution einleitet. Werner von Siemens will den Elektromotor auch als neue Antriebstechnik für die Beförderung von Personen und Waren nutzen. Auf der Berliner Gewerbeausstellung 1879 präsentiert Siemens & Halske die erste elektrische Lokomotive der Welt mit Fremdstromversorgung über die Schienen (Bild 6). Mit einer Geschwindigkeit von sieben Stundenkilometern zieht eine kleine Lok drei offene Wagen mit je sechs Sitzplätzen über einen 300 Meter langen Rundkurs. Stolz berichtet Werner von Siemens an seinen Bruder Carl: „Unsere electrische Eisenbahn […] macht jetzt hier viel Spectakel. Sie geht in der That über Erwartung gut.“ [1] Die erste Elektrische kommt an Nur zwei Jahre später errichtet Siemens & Halske auf eigene Kosten im Berliner Vorort Groß-Lichterfelde die erste Straßenbahn der Welt. Die 2,5 km lange Strecke verbindet die Station Lichterfelde der Anhaltinischen Bahn, heute Bahnhof Lichterfelde Ost, mit der Kadettenanstalt in der Zehlendorfer Straße, heute Finckensteinallee. Sie fährt zunächst im Probebetrieb auf der zum Bau der Kadettenanstalt genutzten Eisenbahnstrecke, später dann im regulären Betrieb. Allein in den ersten drei Monaten befördert die Trambahn 12 000 Fahrgäste. Zu Beginn ist die „Telegraphen-Bauanstalt von Siemens & Halske“ ein reiner Handwerksbetrieb. Erst 1863 wird für die normierte Serienfertigung von Einzelteilen eine Dampfmaschine angeschafft. Fünf Jahre später setzt im Zuge der Modernisierung des Produktionsprozesses und der Einführung der Massenfertigung eine Phase der „sprunghaften Mechanisierung“ ein, die bis 1873 anhält: Der Handwerksbetrieb Siemens & Halske wird zur Fabrik. Schon in den 1880er Jahren kommt es zu Spezialisierung der Produktion. Entwicklung und Herstellung von Dynamomaschinen, Fertigung elektrischer Bogenlampen und Produktion aller sonstigen starkstromtechnischen Er- Bild 2: Nachbau des Zeigertelegrafen von 1847 Bild 3: In der neuen Konzernzentrale in München hat Siemens die historische Werkstatt des Firmengründers nachbauen lassen. Bild 4: Die erste Werkstatt von Siemens & Halske in der Schöneberger Straße 19 in Berlin. Internationales Verkehrswesen (68) 4 | 2016 63 Werner von Siemens EXTRA zeugnisse werden im sogenannten Charlottenburger Werk konzentriert (Bild 8). Sozialpolitisch der Zeit voraus Werner von Siemens gilt nicht nur wegen seiner technischen Innovationen und gewagten Unternehmungen als fortschrittlicher Unternehmer, sondern auch wegen seiner zahlreichen sozialpolitischen Initiativen. Bereits 1866 vergibt Siemens & Halske erstmals eine sogenannte Inventurprämie, Vorläuferin der heutigen Erfolgsbeteiligung der Mitarbeiter. Zum 25-jährigen Firmenjubiläum 1872 etabliert Siemens eine betriebliche Altersversorgung - über ein Jahrzehnt vor Gründung der gesetzlich geregelten Alters- und Hinterbliebenenversorgung. Am Gründungskapital dieser Pensions-, Witwen- und Waisenkasse beteiligt sich auch Johann Georg Halske, der dem Unternehmen damals schon nicht mehr angehört, mit 10 000 Mark. Eine weitere sozialpolitische Maßnahme ist 1873 die Einführung einer täglichen Arbeitszeit von neun Stunden. Das entspricht bei der damaligen Sechstagewoche einer Wochenarbeitszeit von 54 Stunden - überall sonst sind noch 72 Wochenstunden üblich. Freilich verfolgt Werner von Siemens nicht nur soziale, sondern auch personalpolitische Ziele. Angesichts eines akuten Mangels an qualifizierten Arbeitskräften und hoher Fluktuation will er eine Stammbelegschaft aufbauen und die Facharbeiter langfristig an sein expandierendes Unternehmen binden. Die freiwilligen Sozialleistungen sind demnach „nicht allein Humanismus, sondern wesentlich gesunder Egoismus“ ([5], S. 18). Werner von Siemens erkennt zudem früh die Verbindung von Wissenschaft und Technik. Eine großzügige Stiftung soll helfen, die erste staatliche Einrichtung zur Grundlagenforschung auf deutschem Boden einzurichten: 1887 wird die Physikalisch-Technische Reichsanstalt in Berlin gegründet. Sie ist unter dem Namen „Physikalisch-Technische Bundesanstalt“ bis heute eine der renommierten Institutionen innerhalb der deutschen Forschungslandschaft. In Anerkennung seiner Verdienste für Wissenschaft und Gesellschaft erhält der Elektropionier im Laufe seines Lebens zahlreiche Auszeichnungen und wird schließlich 1888 von Kaiser Friedrich III. in den erblichen Adelsstand erhoben. Als er 1892 stirbt, produziert das Unternehmen Siemens & Halske pro Jahr 1000 Dynamomaschinen und setzt fast 20 Millionen Mark um - und der Name Siemens ist zum Synonym für Elektrotechnik geworden. ■ AE/ red QUELLEN [1] Siemens AG (online): 200 Jahre Werner von Siemens - Informationen, Fotos und Dokumente zu Leben und Werk des Firmengründers. http: / / www.wvs200.com/ de [2] Siemens Historical Institute. https: / / www.siemens.com/ history/ de/ siemens_historical_institute/ [3] Die Gründergeneration (online): https: / / www.siemens.com/ history/ de/ persoenlichkeiten/ gruendergeneration.htm [4] Siemens, W.: Ueber die Umwandlung von Arbeitskraft in elektrischen Strom ohne Anwendung permanenter Magnete. In: Annalen der Physik. Band 206, Nr. 2, 1867, S. 332-335. DOI: 10.1002/ andp.18672060113 [5] Werner von Siemens: Lebenserinnerungen. Hg. von Wilfried Feldenkirchen, München 2008, ISBN 978-3-492-05269-6. Als PDF: https: / / www.siemens.com/ lebenserinnerungen/ lebenserinnerungen.html Bild 5: Nachbau der Dynamomaschine von 1866 Bild 6: Präsentation der weltweit ersten elektrischen Eisenbahn auf der Berliner Gewerbeausstellung 1879 Bild 7: Erste elektrische Straßenbahn, 1881 Bild 8: Arbeiter 1890 im Charlottenburger Werk von Siemens & Halske