eJournals Internationales Verkehrswesen 69/1

Internationales Verkehrswesen
iv
0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2017-0008
21
2017
691

Stuttgart 21 - Durchstehen oder Umsteuern?

21
2017
Andreas Kossak
Das Bahn-Projekt mit der Bezeichnung „Stuttgart 21“ gilt seit Langem als das umstrittenste Verkehrsinfrastrukturprojekt in Deutschland. Die Begleitumstände sind unter vielen Aspekten ein „Paradebeispiel“ für fundamentale Mängel bei der Handhabung von Großprojekten in Deutschland und weltweit. Eine Chronologie bis heute.
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Internationales Verkehrswesen (69) 1 | 2017 22 Stuttgart 21 - Durchstehen oder Umsteuern? Kopfbahnhof, Durchgangsbahnhof, Großprojekt, Schlichtung, Bürgerbefragung Das Bahn-Projekt mit der Bezeichnung „Stuttgart 21“ gilt seit Langem als das umstrittenste Verkehrsinfrastrukturprojekt in Deutschland. Die Begleitumstände sind unter vielen Aspekten ein „Paradebeispiel“ für fundamentale Mängel bei der Handhabung von Großprojekten in Deutschland und weltweit. Eine Chronologie bis heute. Andreas Kossak G egenstand ist die Umwandlung des historischen Kopfbahnhofs in einen Durchgangsbahnhof in Tieflage. Als Ausgangspunkt für die breit angelegte Auseinandersetzung mit dem Thema Anfang der 1990er Jahre gelten nicht bahnbetriebliche, sondern städtebauliche Gesichtspunkte und Zielsetzungen. Die in der Regel durch umfangreiche Gleisanlagen im Vorfeld der Kopfbahnhöfe belegten Flächen in meist guter Lage sollten für Stadtentwicklungen verfügbar gemacht werden. In Betracht gezogen wurden nach unterschiedlichen Angaben zunächst 17 bis 25 Standorte [1]. Dazu gehörten Frankfurt am Main, München und Stuttgart. Ausgangspunkt und Entwicklung Die Realisierung der Projekte sollte Anfang des 21. Jahrhunderts erfolgen; aufgrund dessen wurden sie mit dem Kürzel „21“ gekennzeichnet. Nach bereits konkreten Planungen, Bewertungen und intensiven Diskussionen wurden allerdings alle mit Stuttgart 21 vergleichbaren Vorhaben ad acta gelegt [2]. Dass Stuttgart 21 als einziges 21er-Projekt übrig blieb, ist umso bemerkenswerter, als dort die Gemengelage von topographischen, geologischen, hydrologischen, ökologischen, verkehrlichen und städtebaulichen Rahmenbedingungen vergleichsweise am komplexesten und am schwierigsten zu beherrschen ist. Bei der Unterzeichnung der Rahmenvereinbarung zwischen Bahn, Bund, Land und Stadt im November 1995 zu Zeiten des Bahn-Vorstandsvorsitzenden Heinz Dürr, wurden die Kosten mit rd. 5 Mrd. DEM angenommen (rd. 2,5 Mrd. EUR). Der Nachfolger von Heinz Dürr, Johannes Ludewig, stellte das Projekt zurück. Dessen Nachfolger, Hartmut Mehdorn, veranlasste die Weiterverfolgung [3]. Kurz vor Baubeginn (Bild- 1), Anfang 2010, teilte der damals am- Foto: Harke/ Wikimedia Commons INFRASTRUKTUR Standpunkt Internationales Verkehrswesen (69) 1 | 2017 23 Standpunkt INFRASTRUKTUR tierende Vorstandsvorsitzende der Bahn, Rüdiger Grube, mit, dass die Kosten nun mit 4,1 Mrd. EUR zugrunde gelegt werden [4]. Proteste, Mediation und Volksbefragung In Reaktion auf massive Bürgerproteste wurde Ende desselben Jahres ein Mediations-Verfahren durchgeführt. Als Schlichter wurde der CDU-Politiker Heiner Geißler gewonnen. Bahn und Land beharrten dabei uneingeschränkt auf ihren Positionen. Im Widerspruch zu den Prinzipien einer Schlichtung [5] machte der Mediator einen Kompromissvorschlag zu Gunsten eines Kombibahnhofs (teils oberirdischer Kopfbahnhof, teils Durchgangstiefbahnhof - Vorbild Zürich Hbf.) [6]; der wurde jedoch von Bahn und Land abgelehnt. Die Proteste gegen das Projekt dauerten in Stuttgart unvermindert an. Daraufhin wurde eine Volksbefragung beschlossen zu der Frage, ob sich das Land weiter an dem Projekt finanziell beteiligen und damit die Fortführung sicherstellen solle. Sie fand am 27. November 2011 statt. Dabei haben sich 58,9 % der Abstimmenden gegen einen Ausstieg des Landes ausgesprochen [7]. Damit fühlte sich die neue grün-rote Landesregierung verpflichtet, die Weiterführung in der von der Bahn verfolgten Konfiguration zu unterstützen, obschon die nun stärkste Partei, die Grünen, dem weiterhin ablehnend gegenüber stand. Dazu Ministerpräsident Winfried Kretzschmann: „Inhaltlich ist das Ergebnis für mich eine harte Entscheidung, und ich hätte mir natürlich einen anderen Ausgang der Abstimmung gewünscht. Aber selbstverständlich akzeptieren wir das Votum … ohne Wenn und Aber. Denn in der Demokratie ist die Entscheidung der Bürgerinnen und Bürger das Maß aller Dinge.“ [7] Bemerkenswerterweise wurde dabei nicht in Frage gestellt, ob sich die hochkomplexe Thematik überhaupt für eine Bürgerbefragung eignet [8] (zumal für eine landesweite), auch wenn im Rahmen der medialen Kommunikation der Schlichtung vergleichsweise viele Informationen öffentlich vermittelt worden waren. Die politische Informationspolitik der Vorgängerregierung sowie die lokale und regionale Pressekommunikation vor der Befragung konzentrierten sich allerdings weniger auf eine sachliche Kommunikation der maßgeblichen Details des Projektes, als auf dessen Bewerbung, verbunden mit dem Duktus, die Gegner seien innovationsfeindlich. Insofern ist das Ergebnis von der Sache her eher als höchst fragwürdig zu bewerten, anstatt als Erfolg der Demokratie, wie es von den Befürwortern gefeiert wurde [7]. Streitpunkt Bahnsteigsneigung Maßgebliche Aspekte einer Bahnhofsgestaltung sind Kundensicherheit (Übersichtlichkeit, Zugänglichkeit und Kapazität der Fluchtwege, Minimierung der Verrauchung im Brandfall etc.) und Kundenfreundlichkeit (Länge der Wege, Überwindung von Höhendifferenzen, Übersichtlichkeit etc.). In beiden Komplexen ist der Kopfbahnhof dem Tiefbahnhof in der Regel eindeutig überlegen. Ein spezieller Schwachpunkt von Stuttgart 21 ist die Bahnsteigneigung: Mit 15,143 ‰ übersteigt sie die für moderne Fernbahnhöfe regelgerechte maximale Längsneigung von 2,5 ‰ um mehr als das 6-fache [9]. Dabei geht es vor allem um die Vermeidung der Gefahr der unkontrollierten Bewegung der Züge während des Fahrgastein- und -ausstiegs. Nicht nur für gestandene Eisenbahner ist nicht nachzuvollziehen, dass das Eisenbahnbundesamt diese Konfiguration genehmigt hat. Das gilt umso mehr vor dem Hintergrund des Umstandes, dass genau solche kritischen Vorgänge auch in jüngster Zeit wiederholt vom Köln Hbf. gemeldet wurden; Das ist der einzige deutsche Großbahnhof, bei dem die Fernbahnsteige das Regelmaß deutlich übersteigen. Aufgrund der speziellen Rahmenbedingungen (vorhandene Rheinbrücken etc.) wurde dort eine seinerzeit unter anderen bahntechnischen Voraussetzungen noch akzeptable Neigung von 5,16 ‰ zugelassen - das ist ein Drittel der Neigung bei S 21. Mit örtlicher wissenschaftlicher Unterstützung wird in diesem Zusammenhang regelmäßig auf die Bahnsteigs-Längsneigung des S-Bahnhofs Stuttgart-Feuersee von sogar 20 ‰ verwiesen [10]. Die bahntechnischen Bedingungen des S-Bahnbetriebs sind in der betreffenden Hinsicht jedoch nicht mit denen des Fernbahnbetriebs vergleichbar. Stattdessen wäre beispielsweise eher die Orientierung am Längenprofil der „Durchmesserlinie Zürich“ im Bereich des dortigen Hauptbahnhofs geboten gewesen [11]. Der Vorgang ist umso bemerkenswerter, als die Lösung bei Stuttgart 21 nicht ortsbedingt „zwingend“ ist. Selbst die Umwelt- und Verkehrsministerin in der Regierung Mappus, Tanja Gönner, die maßgeblich an der Mediation beteiligt war, hat in einem Zeitungs-Interview eingeräumt, dass man das ändern könne: „Das würde allerdings ziemlich viel Geld in Anspruch nehmen“ [12]. Neue Kostensteigerungen und-Risiken Seither setzten sich die Kontroversen um das Projekt unvermindert fort. Im März 2013 genehmigte der Aufsichtsrat der Bahn eine Kostensteigerung auf nunmehr 6,5-Mrd. EUR - verbunden mit der Aufforderung, Teile der Mehrkosten gegenüber der bisherigen Annahme von inzwischen 4,5 Mrd. EUR bei den Projektpartnern einzuwerben. Aus der betreffenden Aufsichtsratssitzung wird als Zitat des Vorstandsvorsitzenden Grube überliefert: „Wenn wir damals gewusst hätten, was wir heute wissen, hätten wir das Projekt nicht begonnen.“ [13] Bezug nehmend auf die weiteren Kostensteigerungen und Zeitverzögerungen forderten Grüne und Linke im Bundestag kurz vor Weihnachten 2014 eine neue „Kosten-Nutzen-Berechnung“ [14]. Zwar handelt es sich bei Stuttgart 21 weit überwiegend um ein eigenwirtschaftliches Projekt der Deutschen Bahn. Da sich die DB im Besitz des Bundes befindet und in erheblichem Umfang vom Steuerzahler alimentiert wird, sollte jedoch prinzipiell der gleiche Maß- Bild 1: Das denkmalgeschützte Hauptgebäude des Stuttgarter Hauptbahnhofs vor dem Teilabriss für S 21 Foto: Dagmar Hollmann/ Wikimedia Commons Internationales Verkehrswesen (69) 1 | 2017 24 INFRASTRUKTUR Standpunkt stab hinsichtlich des Nutzen-Kosten-Verhältnisses solcher Vorhaben gelten, wie für die Bestimmung der Realisierungswürdigkeit und Priorität von großen Verkehrsinfrastrukturprojekten des Bundes, der Länder und der Kommunen. Die Bundeshaushaltsordnung verbietet die Realisierung von Projekten, deren Nutzen-Kosten-Koeffizient niedriger als 1,0 liegt (weniger Nutzen als Kosten). Im Lichte der massiven Kostensteigerungen und zunehmender Zweifel an der Effizienz von Stuttgart 21 hätte längst eine aktualisierte Überprüfung diesbezüglich erfolgen müssen - allerdings nicht in Form der methodisch höchst fragwürdigen „standardisierten Bewertung“, sondern unter Anwendung eines der spezifischen Komplexität des Projektes angemessenen und angepassten Verfahrens. Im vergangenen Jahr wurden dann selbst die gegenüber dem Stand der Entscheidung für das Projekt inzwischen um ein Mehrfaches erhöhten Kostenannahmen durch Neubewertungen des Bundesrechnungshofes und privater Fachinstitute noch einmal maßgeblich infrage gestellt. Nunmehr wurde ein Kostenvolumen von bis zu rd. 10 Mrd. EUR oder gar mehr genannt. Von beträchtlichem Einfluss war dabei die Einordnung des Kostenrisikos in Folge der besonderen geologischen und hydrologischen Bedingungen (Anhydrid) im Zuge der Tunnelstrecken im Zusammenhang mit dem Tiefbahnhof; das basierte unter anderem auf dem Urteil eines weltweit renommierten Fachmanns der ETH Zürich [15]. Die Bahn widersprach dem umgehend mit Verweis auf die Bewertung des eigenen Gutachters und eigener Erfahrungen. Ihre Argumentation, man werde etwaige Auswirkungen auf den Kosten- und Zeitplan im weiteren Projektverlauf durch geeignete Maßnahmen kompensieren können, steht im diametralen Widerspruch zu den Erkenntnissen aus vergleichbar komplexen Projekten weltweit. Danach ist in der Regel nicht nur keine Kompensation zu erreichen, sondern mit weiteren beträchtlichen Kostensteigerungen und Zeitverzögerungen zu rechnen [16]. Verweigerung der Alternativvorschläge Immerhin sah sich der Bahnvorstand nun gezwungen, zuzugeben, dass die Bauarbeiten nicht in 2021, sondern frühestens in 2023 abgeschlossen sein werden. In diesem Zusammenhang musste sogar der bis dahin zuständige Vorstand Volker Kefer zurücktreten. Spätestens in dieser Situation wäre zu erwarten gewesen, dass sich die Bahn ernsthaft mit den inzwischen vorliegenden Vorschlägen von Architekten und Stadtplanern für einen Umstieg auf ein modernes Kopfbahnhof-Konzept beschäftigt hätte. Diese sehen die Integration eines beträchtlichen Teils der bereits erfolgten Baumaßnahmen mit anderen orts-relevanten Nutzungen vor (Bild 2). Das würde mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer Vermeidung der Mehrkosten und der zusätzlichen Kosten-Risiken führen [17]. Dem hat sich die Bahn jedoch strikt verweigert. In der unabhängigen Tagespresse wurde dies unter der Überschrift „Starrsinn vor Vernunft“ eingeordnet: „Dass der Bahnvorstand bisher nicht einmal über diese Alternativen nachdenkt, zeigt, wie tief die Bahn in der Krise steckt“ [17]. Stattdessen wurde gedroht, die Projektpartner auf Beteiligung an den Mehrkosten zu verklagen, falls diese sich diesbezüglich verweigerten. Kurz vor Weihnachten 2016 wurde dann tatsächlich beim Verwaltungsgericht Stuttgart Klage mit dem Ziel eingereicht, dass die Projektpartner 65 % der aktuell geltend gemachten Mehrkosten übernehmen [18]. Mit einer Entscheidung des Gerichts ist erfahrungsgemäß allerdings erst in mehreren Jahren zu rechnen. Während dessen würden die Mehrkosten sehr wahrscheinlich noch weiter ansteigen. Appell zum Handeln Vor diesem Hintergrund sollte das weitere Vorgehen von einer aktuellen Bewertung der realistischen Kosten, Nutzen und Risiken einer Weiterverfolgung des derzeitigen Konzepts (Tiefbahnhof ) und des Umstiegs auf eine der Alternativen (Kombibahnhof, Kopfbahnhof+) abhängig gemacht werden - möglichst durch ein Gremium hochrangiger externer Fachleute. Da der Bahnvorstand sehr wahrscheinlich von sich aus nicht zu einem solchen Vorgehen bereit sein wird, sollten die Projektpartner umgehend nachdrücklich darauf dringen. Gegebenfalls sollte tatsächlich der Umstieg im Sinne eines der Alternativkonzepte verfolgt werden. ■ LITERATUR  [1] Wikipedia: Bahnhof 21; Stand 13.01.2017  [2] Kossak, A.: Eisenbahnknoten Frankfurt.Rhein-Main - Diskussionspapier im Auftrag des RMV; Hamburg, 20.02.2002  [3] stuttgarter-zeitung.de: Timeline Stuttgart 21  [4] o.V.: Zeitleiste Stuttgart 21; Hamburger Abendblatt, 10.09.2010  [5] o.V.: Fragen und Antworten: Was macht ein Mediator? Badische Zeitung, 8.10.2010  [6] Borcholte, A.: Kompromissvorschlag zu Stuttgart 21 - Von allen Geißlern verlassen; Spiegel Online, 30.07.2011  [7] Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg: Volksabstimmung zu Stuttgart 21 am 27. November 2011; Stuttgart 2011  [8] Kossak, A.: Projekt „California bullet train“ … und was daraus zu lernen ist; ETR - Eisenbahntechnische Rundschau 10/ 2016  [9] Andersen, S. (Bundesbahndirektor a.D.): persönliche Information des Verfassers [10] Martin, U. (Verkehrswissenschaftliches Institut an der Universität Stuttgart e.V): Stellungnahme zu Diskussionen um Stuttgart 21; Schreiben vom Dezember 2009 [11] Bauer, F. (SBB): Durchmesserlinie Zürich und Stuttgart 21; Vorlesung an der TU Berlin, 28.04.2014 [12] o.V.: „Ich sehe meine Zukunft im Land“ - Interview mit Tanja Gönner; Pforzheimer Zeitung, 18.11.2010 [13] Milancovic, C.: „Wir machen hier nicht Jugend forscht“ - Interview mit Rüdiger Grube zu Stuttgart 21; Stuttgarter-Zeitung.de, 10. 12. 2016 [14] SIR/ dpa: Neue Kosten-Nutzen-Rechnung gefordert; Stuttgarter- Zeitung.de, 02.01.2015 [15] Wüpper, T.: Stuttgart 21 - Gutachter warnen vor Tunnel-Risiken; Stuttgarter-Zeitung.de, 02.12.2016 [16] Flyvbjerg, B. und Sunstein, C.: The Principle of the Malevolent Hiding Hand…, Oxford / Harvard 2015 [17] Kessler, W.: Stuttgart 21 - Starrsinn vor Vernunft; Frankfurter Rundschau, 23.06.2016 [18] Schwarz, K.: Stuttgart 21 - Bahn vergibt S-21-Klage an US-Kanzlei; Stuttgarter-Zeitung.de, 23.12.2016 Andreas Kossak, Dr.-Ing. Kossak Forschung & Beratung, Hamburg drkossak@aol.com Bild 2: Vorschlag zu einem optimierten Kopfbahnhof Bild: Aktionsbündnis K21