Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2017-0009
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2017
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Wie Digitalisierung die Wettbewerbsposition der Bahn im Fernverkehr verändert
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Andreas Krämer
Robert Bongaerts
Die Deutsche Bahn hat es im Fernverkehr bisher nicht geschafft, den Faktor Digitalisierung zu nutzen, um darüber strategische Wettbewerbsvorteile aufbauen oder Defizite in der Kundenwahrnehmung entscheidend abbauen zu können. Im Gegenteil: Eine Analyse der vergangenen drei Jahre verdeutlicht, dass von den veränderten technologischen Rahmenbedingungen vor allem die neuen Wettbewerber der Bahn – Fernlinienbusse und Mitfahrzentralen – profitiert haben (zudem auch der klassische Privat-PKW, der zukünftig als vernetztes Fahrzeug vermarket wird). Für die zukünftige Wettbewerbsstellung des Bahnfernverkehrs werden fünf Thesen aufgestellt und diskutiert.
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Internationales Verkehrswesen (69) 1 | 2017 26 INFRASTRUKTUR Wettbewerb Wie Digitalisierung die Wettbewerbsposition der Bahn im Fernverkehr verändert Auswirkung der Digitalisierung auf die Verkehrsmittelwahl-Entscheidung Digitalisierung, Verkehrsmittelwahl, Habitualisierung, Wettbewerbsvorteile, Bahnfernverkehr Die Deutsche Bahn hat es im Fernverkehr bisher nicht geschafft, den Faktor Digitalisierung zu nutzen, um-darüber strategische Wettbewerbsvorteile aufbauen oder Defizite in der Kundenwahrnehmung entscheidend abbauen zu können. Im Gegenteil: Eine Analyse der vergangenen drei Jahre verdeutlicht, dass von den veränderten technologischen Rahmenbedingungen vor allem die neuen Wettbewerber der Bahn - Fernlinienbusse und Mitfahrzentralen - profitiert haben (zudem auch der klassische Privat-PKW, der zukünftig als vernetztes Fahrzeug vermarket wird). Für die zukünftige Wettbewerbsstellung des Bahnfernverkehrs werden fünf Thesen aufgestellt und diskutiert. Andreas Krämer, Robert Bongaerts A nfang Januar 2017 hat das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur den Startschuss für zwölf Verbundprojekte zur digitalen Vernetzung im öffentlichen Personenverkehr gegeben [1]. Die Förderung dieser Projekte erfolgt im Rahmen der 2015 gestarteten Initiative „Digitale Vernetzung im Öffentlichen Personenverkehr“. Digitalisierung im Personenverkehr Digitale Transformation ist in aller Munde und führt nicht nur zur Überprüfung bestehender Geschäftsmodelle, sondern auch zur Entwicklung neuer „disruptiver“ Geschäftsmodelle. Die Digitalisierung macht auch vor der Mobilitätsbranche nicht halt, wie das oft als Paradebeispiel für digital disruptions genannte Beispiel „Uber“ zeigt oder aber die Diskussion um selbstfahrende Autos [2]. Die veränderte Wettbewerbssituation (stärkeres Angebot von Low-Cost-Airlines, neue Anbieter, deren Geschäftsmodelle stark auf Digitalisierung basieren, wie Fernlinienbusse (FLB) und BlaBlaCar als führende Mitfahrzentrale) setzt auch die Deutsche Bahn (DB) unter „Zugzwang“ [3]. Nicht verwunderlich, dass die DB innerhalb von zwei Jahren eine Milliarde EUR in Digitalisierungsprojekte stecken will [4]. Genutztes Verkehrsmittel [Basis: Letzte Fernreise] 1) Welches Verkehrsmittel haben Sie für die Reise von … nach … (einblenden Start und Ziel ) hauptsächlich genutzt? Falls Auto/ PKW: (a) Mit eigenem Auto, (b) Mitfahrer, (c) Mitfahrer über Mitfahrzentrale, (d) Mietwagen / Carsharing? Falls Bahn: (a) Bahn Fernverkehr (ICE / IC / EC), (b) Bahn Regionalverkehr (Regionalbahn, Regionalexpress etc.)? Hochrechnung der reporteten Reisen. Fernreisen in Deutschland (ab 50 km): Verteilung der genutzten Verkehrsmittel (2016) 1) Auto / PKW Bahn Flugzeug Fernlinienbus Sonstiges 80,0% 12,2% 2,1% 2,5% 3,1% Gesamtmarkt Deutschland 60% 40% DB Regio DB FV 88% 7% 0% 5% Eigenes Auto Mietwagen/ Carsharing Mitfahrer MFZ Veränderung seit 2014 Detaillierung Bahn Detaillierung PKW Bild 1: Verkehrsmittelnutzung in Deutschland auf Reisen > 50 km einf. Entfernung (2016) Internationales Verkehrswesen (69) 1 | 2017 27 Wettbewerb INFRASTRUKTUR Im vorliegenden Beitrag wird untersucht, welche Auswirkungen die Digitalisierung auf die Verkehrsmittelwahl-Entscheidung aus Sicht der Verbraucher hat und welche Konsequenzen sich daraus für die Wettbewerbsposition der Bahn ergeben. Die Ergebnisse werden in fünf zentralen Thesen zusammengefasst. Zunächst wird die Ausgangssituation bezogen auf die Verkehrsmittelwahl dargestellt. Verkehrsmittelwahl in Deutschland (Reisen > 50 km einfache Entfernung) PKW ist das dominierende Verkehrsmittel Die gemeinsam von exeo und der Rogator AG seit 2013 durchgeführte Studie Mobilitätstrends [5] beleuchtet Trends im Mobilitätsmarkt und deren Einflüsse auf die Modalanteile. Aktuellen Ergebnissen für 2016 zufolge entfallen knapp 80 % aller Reisen über 50 km einfache Entfernung in Deutschland auf das Auto. Das Auto ist damit das mit weitem Abstand wichtigste Transportmittel, gefolgt von der Bahn mit 12 % Anteil. Die Produktbereiche Nah- und Fernverkehr (IC/ ICE) sind dabei im Verhältnis 40 : 60 aufgeteilt. Auf das Flugzeug, wie auf FLB, entfallen nur ca. 2 % (vgl. Bild-1). Besonders dynamisch ist das Angebot an FLB-Reisen in den ersten drei Jahren der Marktliberalisierung gewachsen. Allerdings sind weitere starke Erhöhungen des FLB- Marktanteils innerhalb Deutschland nicht zu erwarten, schon 2016 hat sich das Marktwachstum deutlich verlangsamt [6]. Die PKW-Nutzung lässt sich in weitere Subsegmente unterteilen, wobei die Nutzung der Mitfahrzentrale auf einen Anteil von weniger als 1 % kommt. Bahnnutzer erwägen vor allem das Auto als alternatives Verkehrsmittel Bei Betrachtung der Wettbewerbsbeziehungen zwischen den genutzten Verkehrsmitteln aus Verbrauchersicht [5] zeigt sich, dass insbesondere PKW-Nutzer nur zu ca. 20 % ein anderes als das genutzte Verkehrsmittel erwogen haben (vgl. Bild 2). Speziell die Entscheidung für den PKW ist somit besonders stark habitualisiert. Hingegen erwägen die Hälfte der Fernlinienbus-Nutzer auch andere Verkehrsmittel bzw. andere Fernlinienbus-Anbieter. Bahnnutzer erwägen vor allem das Auto als konkurrierendes Verkehrsmittel (ca. 20 %) gefolgt vom Fernlinienbus (ca. 9 %). Der Zeitreihen-Vergleich 2016 zu 2014 zeigt eine gewisse Dynamik im Markt. Ändert sich z. B. die Wettbewerbsstellung eines Verkehrsmittels (z. B. durch Digitalisierung), sind entsprechende Reaktionen auf der Verbraucherseite sehr wahrscheinlich. Die Fixierung der Entscheider auf nur ein Verkehrsmittel nimmt tendenziell ab. Das betrifft generell alle Verkehrsmittel, während der Rückgang spezifisch bei Bahn und Flugzeug besonders stark ist - ein Indikator für einen insgesamt intensivierten Wettbewerb im Markt. Besonders gering ist der Grad der Habitualisierung in der Verkehrsmittelwahl bei den Nutzern des FLB: 15 % geben an, als Alternative den PKW erwogen zu haben, 24 % die Bahn. Damit wird erkennbar, dass die Substitutionsbeziehungen zwischen FLB und Bahn besonders stark sind. Vor diesem Hintergrund sowie der kritischen Ergebnislage des DB Fernverkehrs stellt sich die Frage, welche Chancen sich durch die Digitalisierung für die Deutsche Bahn ergeben. Auswirkung der Digitalisierung auf die Bahn These 1: Selbstfahrende PKW als Ergebnis fortschreitender Digitalisierung sind eher längerfristig zu erwarten. In der Diskussion rund um Mobilität und Digitalisierung liegt der Fokus häufig auf der Vision des autonomen Fahrens. Grund dafür ist die Vielzahl an Projekten innerhalb der Mobilitätsbranche zu diesem Thema - fast alle großen Autobauer entwickeln autonom fahrende PKW mit erwarteter Marktreife in den nächsten zehn Jahren [7] - aber auch die große Medienwirksamkeit, die die Vorstellung straßentauglicher Prototypen verursacht. Autonome Mobilität ist grundsätzlich nicht neu und umfasst alle Bereiche im Transportwesen. Autonomes Fahren ist im ÖPNV schon heute vielfach Realität. So kommt eine aktuelle Studie zum Ergebnis, dass in Europa jährlich ca. 1 Mrd. Passagiere fahrerlos mit U-Bahnen unterwegs sind [8]. Allerdings wurden mehr als 30-Jahre benötigt, um dieses Volumen von weniger als 5 % aller ÖPNV-Passagiere in der EU zu erreichen. Gemeinsames Kennzeichen erfolgreich eingeführter fahrerloser Mobilität ist, dass sie in geschlossenen Bereichen oder Systemen funktioniert (z. B. Shuttle mit nur einer Linie, oder Container-Carrier in abgetrennten Terminal-Bereichen bzw. Lagern). Eine Erwägung anderer als der genutzten Verkehrsmittel [% Reisen] 1) 1) Sie haben angegeben, dass Sie das Verkehrsmittel (einblenden) … genutzt haben. Haben Sie für diese Reise auch erwogen, ein anderes Verkehrsmittel oder einen anderen Anbieter zu nutzen? Berücksichtigung anderer Verkehrsmittel [Basis: Letzte Fernreise in Deutschland] Nein, kein anderes Verkehrsmittel und keinen anderen Anbieter erwogen Flugzeug (anderer Anbieter) Fernlinienbus (anderer Anbieter) Auto Bahn (anderer Anbieter) Sonstiges Reise mit dem Fernlinienbus Reise mit dem PKW Reise mit dem Flugzeug 85% 1% 3% 3% 10% 0% 80% 2% 4% 6% 10% 1% 69% 4% 13% 11% 10% 0% 54% 9% 12% 15% 24% 0% 70% 18% 1% 11% 3% 0% 51% 14% 8% 26% 16% 1% 2014 2016 Reise mit der Bahn 72% 2% 9% 17% 1% 0% 68% 2% 9% 20% 2% 3% Online- Kauf direkt beim Anbieter: ca. 80 % Online- Kauf direkt beim Anbieter: ca.40 % Online- Kauf direkt beim Anbieter: >50 % Bild 2: Erwägung anderer als der genutzten Verkehrsmittel auf Reisen > 50 km einf. Entfernung in Deutschland [% Reisen] Internationales Verkehrswesen (69) 1 | 2017 28 INFRASTRUKTUR Wettbewerb Ausweitung fahrerloser Angebote auf offene Systeme, also z. B. auf Trassen, die von verschiedenen Zügen genutzt werden müssen, ist bisher nicht umgesetzt oder wird nur im Rahmen von Prototypen getestet. Erwartet wird, dass die Digitalisierung kurzfristig im Automobilbereich vor allem zur Entwicklung von halbautonomen Fahrerassistenzsystemen und erst mittel- oder langfristig zu vollständig autonomem Fahren führt [9]. Selbstfahrende PKW müssen auf dem Weg zu einer Marktrelevanz noch vielfältige technische, rechtliche und regulatorische Hürden nehmen [10]. Dies wiederum bedeutet, dass sich die Verkehrsmittelwahl-Entscheidung der Verbraucher hierdurch kurzfristig kaum nachhaltig verändern dürfte. These 2: Durch die Digitalisierung werden private PKW-Transportkapazitäten zunehmend stärker angeboten. Private Autos bleiben mehr als 23 Stunden am Tag ungenutzt [11]. Werden sie für Fernverkehrsreisen genutzt, beträgt die Auslastung deutlich unter 50 %. Damit ist das Auto im Vergleich zu allen anderen das am geringsten ausgelastete Verkehrsmittel (Auslastung Bahn und FLB ca. 50 %, Flug > 80 %). Die Konsequenz dieser sehr großen nicht genutzten Transportkapazität sind relativ hohe Kosten pro effektiv gefahrenem Kilometer. Hier setzen die Geschäftsmodelle der Shared Mobility-Anbieter für Privat-PKW an. Sie können nach Art des Mobilitätsangebots (nur Auto, Auto und Fahrer) sowie nach der Auswirkung auf die Nutzung des PKW (unverändertes bzw. zusätzliches Fahrtenvolumen) unterschieden werden (vgl. Bild-3): So vermarktet Uber als der bekannteste Anbieter Taxidienste, die von Privatpersonen mit ihrem Privatauto angeboten werden. Ansatzpunkt ist hier, die Fahrleistung des Autos zu erhöhen und zusätzliche Erlöse zu generieren. Den gleichen Ansatzpunkt verfolgen auch Anbieter wie Drivy, allerdings werden hier nicht Fahrdienste, sondern nur die Privatautos angeboten. Einen anderen Ansatzpunkt verfolgen die klassischen Mitfahrzentralen oder auch Online-Dienste wie BlaBlaCar [3]. Hier wird versucht, die Auslastung bei bereits geplanten Fahrten zu verbessern, um die laufenden Kosten zu reduzieren. Der Carsharing-Ansatz ist nicht neu, neu ist aber die konsequente Ausrichtung der Vermittlungsdienste auf eine vollständige Online-/ Mobile-Abwicklung. Der Carsharing-Prozess ist bisher eher komplex (Termine sind abzustimmen, eine physische Schlüsselübergabe muss erfolgen, oftmals sind Übergabeprotokolle für die Versicherung auszutauschen). Anbieter wie Getaway erarbeiten Lösungen, die ohne persönliche Übergabe und auch ohne Kontakt zum Privateigentümer auskommen. Dank eines am teilnehmenden Auto eingebauten Toolkits kann das Auto per Smartphone gefunden und geöffnet werden. Versicherungsrechtliche und abrechnungsrelevante Prozesse werden ebenfalls online abgewickelt. Die Digitalisierung bringt hier Angebot und Nachfrage auf einfachste Weise zusammen. Es ist davon auszugehen, dass die Digitalisierung die Möglichkeiten der Shared Mobility weiter verstärken wird, so dass kurzfristig von einem starken Zuwachs im Angebot privater Beförderungsleistungen auszugehen ist. Carsharing wird aus Verbrauchersicht positiv beurteilt. Eine emnid-Studie aus 2015 kommt zum Schluss, dass über 60 % der Bevölkerung Carsharing-Angebote nutzen würden. Auch eine Bereitschaft, das eigene Auto anzubieten, ist vorhanden, wenn auch die deutliche Mehrheit (ca. 80 %) sich eine Vermietung nur an Bekannte und nur ca. 10 % an Fremde vorstellen kann [12]. Um die Auswirkungen solcher Dienste auf die Verkehrsmittelwahlentscheidung abzuschätzen, erfolgte im Dezember 2016 eine empirische Analyse des tatsächlichen Fahrtenangebots unterschiedlicher Verkehrsmittel auf identischen Strecken. Im Fokus standen dabei neben dem Mitfahrangebot von BlaBlaCar der FLB, die Bahn sowie Flug-Reisen (soweit verfügbar). Ermittelt wurden die günstigsten verfügbaren Preise, die Verfügbarkeit des Angebots sowie die Fahrtdauer auf sechs verschiedenen Strecken mit unterschiedlichen Entfernungen. Die Buchungsanfrage erfolgte immer für eine Abfahrt zwischen 6 und 9 Uhr am Folgetag oder in zehn Tagen. Einen Überblick der Ergebnisse zeigt Tabelle 1. Auf den analysierten Strecken liegen die Angebotspreise der Mitfahrangebote von BlaBlaCar etwa auf dem Niveau der FLB-Anbieter, aber in der Regel deutlich unter den Bahnpreisen. Auf kürzeren und mittleren Strecken ist die Reisedauer von Auto und Fernlinienbus in etwa gleich lang, während auf längeren Strecken die Fahrt mit dem PKW schneller ist. Auf den betrachteten Strecken stellt das Verkehrsmittel Bahn immer das schnellste Verkehrsmittel dar, allerdings zu einem im Durchschnitt höheren Preis. Eine vorausschauende Reiseplanung begünstigt die Reise mit der Bahn stärker als die Wettbewerber. Die Folge ist, dass bei konstantem Zeitvorteil der Preisnachteil der Private Mobilitätsvermarktung Nur PKW Nutzung Privat-PKW Status Quo Privat-PKW-Nutzung PKW-Bestand: 45 Mio. (D, 2015)*; PKW-Verfügbarkeit in Haushalten: 75% (D, 2013)** Private Auto-Vermietung Anbieter: Drivy, Rent-n-Roll, Getaway, Croove Privater Mitfahr-Dienst Anbieter: Blablacar; Pendler: Waze Carpool, Uber Carpool Privater Taxi-Dienst Anbieter: Uber, Lyft, Gett, La‘ZooZ PKW & Fahrer 3 2 Bisherige Fahrten Ansatz: Deckung fixe PKW-Kosten Einsatzgebiet: Lokal / regional / überregional Ansatz: Deckung fixe & variable PKW-Kosten Einsatzgebiet: Lokal Ansatz: Deckung variable PKW-Kosten Einsatzgebiet: Eher regional, überregional; Pendler-Dienste: Lokal Zusätzliche Fahrten 1 * StBA (2016): Verkehr aktuell Ausgabe 12/ 2016. ** StBA / WZB (2016): Datenreport 2016. Ausgangspunkt für die Diskussion zur Shared Economy (unten links) Bild 3: Geschäftsmodelle Shared Mobility für Privat-PKW (Auswahl) Internationales Verkehrswesen (69) 1 | 2017 29 Wettbewerb INFRASTRUKTUR Bahn abnimmt. Im Falle der Relation Gießen - Hannover liegt der günstigste Bahnpreis bei Buchung 10 Tage vor Abfahrt bei 29 EUR (kurzfristig 48 EUR). Somit ist der Preisnachteil gegenüber dem FLB mit 2 EUR nur gering. Bei steigenden Preisen des FLB gewinnt die Bahn an Wettbewerbsfähigkeit, weil die Zahlungsbereitschaft für die Verkürzung der Reisezeit und für den Komfort der Bahn bei ca. 8-10 EUR pro Ticket liegt [13]. Eine dynamische Steuerung der Sparpreise wirkt innerhalb des Digitalisierungstrends positiv für den Bahnfernverkehr. Kunden mit BahnCard erhalten zusätzliche Rabatte auf den dargestellten Preis (25 % auf Sparpreise). Teilweise erreicht der Bahnfernverkehr mit Aktionen (wie dem 19-EUR Sparpreis in 2015 oder dem Lidl DB Ticket im Okt. 2016) das Preisniveau der Wettbewerber. These 3: Vermittler privater Car-Sharing- Angebote erreichen (noch) nicht die erforderliche kritische Masse. In Summe zeigt sich, dass die Mitfahrangebote preislich und im Vergleich zu FLB auch bezogen auf die Reisezeit sehr attraktiv sein können. Preisaffine Bahnnutzer, die aufgrund der deutlich längeren Reisezeit bisher nicht die FLB-Angebote genutzt haben und keine weiteren Ansprüche an den Reisekomfort stellen, könnten durchaus zunehmend Richtung Mitfahrangebote abwandern. Bei kurzfristiger Buchung ist mittels Mitfahrerzentrale eine PKW-Fahrt zu Kosten von ca. 4-7 ct pro km möglich. Damit unterlaufen die Angebotspreise nicht nur die Wettbewerber FLB, Bahn und Airline: Auch die Kosten der Nutzung des eigenen PKW werden deutlich unterboten. Die mittleren wahrgenommenen Kosten pro km liegen in Deutschland bei ca. 20 ct [14]. Selbst wenn nur variable Kosten eingesetzt werden, liegen diese bei 7-10 ct. Grund für das derzeit begrenzte Marktpotenzial der Mitfahrzentrale ist vor diesem Hintergrund nicht der Faktor Preis, sondern es sind eher Themen wie Komfort und Verfügbarkeit. In der empirischen Analyse wurde aus diesem Grund für die betrachteten Strecken auch die Verfügbarkeit zum gewünschten Reisezeitfenster untersucht. Im Ergebnis zeigt sich, dass das Mitfahrangebot zwischen Großstädten und bei kurzfristiger Buchung an nahezu allen Untersuchungstagen verfügbar war (vgl. Tabelle 1). Auf den untersuchten Strecken abseits der großen Großstädte (z. B. Gießen - Hannover und Münster - Freiburg) ist das Angebot an Mitfahrangeboten jedoch deutlich stärker eingeschränkt. Erkennbar ist hier, dass die erforderliche (Angebots-)Masse noch nicht erreicht ist, um Mitfahrangebote im Mindest der Verkehrsmittelwahlentscheidung fest zu verankern. These 4: Digitalisierung wird zum wichtigen Wettbewerbsfaktor - für die Bahn bisher eher ein Wettbewerbsnachteil. Digitalisierungsinitiativen sind nicht nur im Bahnbereich, sondern bei allen Verkehrsmitteln zu beobachten. Die physische Reise selbst kann nicht „digitalisiert“ werden, Leistungen um diesen Kern herum schon. Digitalisierungsprojekte beziehen sich vor allem auf den Vor- und Nachlauf zur Reise, vertriebliche Aspekte, wie z. B. personalisierte Preise [15], WLAN-Zugang während der Reise sowie Reisenden-Informationen. Eine Analyse der vergangenen drei Jahre verdeutlicht, dass von den veränderten technologischen Rahmenbedingungen vor allem die neuen Wettbewerber der Bahn - FLB und Mitfahrzentralen - profitiert haben (zu dem auch der klassische Privat- PKW, der zukünftig als vernetztes Fahrzeug vermarket wird). Ohne eine stärkere Nutzung von Smartphones, die Bereitstellung von Onlinetickets und die Bündelung von Strecke Frankfurt - Mannheim Berlin - Leipzig Berlin - Hamburg Gießen - Hannover Münster - Freiburg Köln - Berlin Entfernung (in km) 85 190 289 300 543 570 Ø-Preis der Fahrt (EUR) BlaBlaCar 8,00 9,08 14,57 14,50 36,00 30,50 Fernlinienbus 5,78 13,23 13,99 27,17 32,90 25,16 Bahn 19,43 43,31 45,71 47,64 88,52 96,45 Ø-Reisezeit (in min) BlaBlaCar 101 136 195 220 450 394 Fernlinienbus 81 128 187 425** 643** 561* Bahn 38 77 119 152** 350 286* Verfügbarkeit in % (Anteil an Tagen mit mind. 1 Angebot im Reisezeitfenster) BlaBlaCar 50% 93% 100% 14% 7% 86% Fernlinienbus 100% 100% 100% 86% 79% 100% Bahn 100% 100% 100% 100% 100% 100% * teilweise Umstiegsverbindung; ** Umstiegsverbindung Tabelle 1 - Verkehrsmittelvergleich für ausgewählte Strecken mit Abfahrt am Folgetag (Analysezeitraum Dez. 2016) Die ausführliche deutsch- und englischsprachige Stellenausschreibung ist auch im Internet abrufbar unter: http: / / www.personalabteilung.tu-berlin.de/ menue/ jobs An der Technischen Universität Berlin Fakultät V - Verkehrs- und Maschinensysteme - Institut für Land- und Seeverkehr ist eine Universitätsprofessur - BesGr. W3 für das Fachgebiet "Bahnbetrieb und Infrastruktur" zu besetzen. Kennziffer: V-646/ 16 (besetzbar ab 01.10.2017 / unbefristet / Bewerbungsfristende 07.04.2017) Aufgabenbeschreibung: Die Professur soll Forschung und Lehre in den Gebieten des Bahnbetriebs und der Schieneninfrastruktur vertreten. Dazu zählen im Einzelnen folgende Bereiche: • Weiterentwicklung der Leit- und Sicherungstechnik, insbesondere des European Train Control Systems (ETCS), also des europäischen Zugsicherungssystems • Strategische Untersuchungen zur Optimierung des öffentlichen Personenverkehrs und des Schienengüterverkehrs zur Effizienzsteigerung, Stichwort "Deutschland-Takt" • Optimierung betrieblicher Abläufe und der Netznutzung im Schienenverkehr, um die politische Forderung "Mehr Güter auf die Schiene" zu erfüllen • Entwurf und Infrastrukturplanung auch mit Reduktion von Schienenverkehrslärm durch betriebliche und bauliche Maßnahmen Die Lehre (auch in englischer Sprache) umfasst das ingenieurwissenschaftliche Bachelor- und Masterstudium Erwartete Qualifikationen: Erfüllung der Berufungsvoraussetzungen gemäß § 100 BerlHG Internationales Verkehrswesen (69) 1 | 2017 30 INFRASTRUKTUR Wettbewerb Nachfrage über Mobilitätsplattformen wäre es zu einer Expansion von Reisen mit dem FLB (ca. 17 Mio. Fahrten [6] innerhalb Deutschlands in 2016) nicht gekommen. Während die DB beim Thema Digitalisierung bisher eher reaktiv geblieben ist, wird es zukünftig darum gehen, mittels Digitalisierung die bestehenden strategischen Wettbewerbsvorteile (Integration des gesamten Bahnangebots auf einem Ticket; flächendeckender Vertrieb; Netzwerkeffekte aus dem Angebot; Integration von Vor- und Nachlauf wie z. B. mittels City-Ticket; hoher Stammkunden-Anteil etc.) zu erhalten bzw. auszubauen. Alle Prozessschritte entlang der Reisekette, die digitalisierbar sind, werden zukünftig digitalisiert. Für den Wettbewerb und die Kundenentscheidung wesentlich ist, welcher Anbieter dies am besten und verständlichsten umsetzt. Aus Sicht des Kunden führt dies zu einer Vereinfachung der Reise. Daraus resultierende Wettbewerbsvorteile gelten gleichermaßen für alle Verkehrsmittel, die Vorzüglichkeit aus Sicht der Entscheider ändert sich möglicherweise effektiv kaum. Die marktbeherrschende Position von Flixbus und der hohe Onlinebuchungsanteil werden zu einer Nachfragelenkung zur Buchungsseite von Flixbus führen. Der Aufsatzpunkt für die Deutsche Bahn im Fernverkehr ist denkbar schwierig. Im Vergleich zu den Bahnen in den Nachbarländern wird die DB aus Sicht der Verbraucher besonders kritisch gesehen [16]. Digitalisierung und die damit bezweckte Verbesserung der Customer Experience kann nur erfolgreich sein, wenn die Kernleistung überzeugt. Gerade hier zeigt die DB in 2016 erneut Defizite (z.B. wurden die selbst gesteckten Pünktlichkeitsziele nicht erreicht). These 5: Mittelfristig führt die Digitalisierung nicht zu einer Beherrschung des Mobilitätsmarkts durch das selbstfahrende Auto, sondern durch die Koordination freier PKW-Kapazitäten. Kritischer Erfolgsfaktor für die Geschäftsmodelle, die auf „Shared Economy“ aufbauen, ist es, Angebot und Nachfrage punktgenau zu koordinieren. Die Erreichung einer kritischen Masse ist dafür Voraussetzung: Uber und Airbnb haben diese erreicht, der analysierte größte Anbieter von Mitfahrgelegenheit, Blablacar, offenbar noch nicht. Indikator dafür sind die Ergebnisse der Verfügbarkeitsanalyse. Dabei besitzen auch andere Unternehmen das Potenzial, die verfügbare PKW-Kapazität mit individuellen Reisewünschen zu koordinieren ohne selbst über Kapazitäten zu verfügen. Voraussetzung hierfür ist ein Zugriff auf mobilitätsbezogene Online-Suchanfragen (z. B. Routenplaner, Buchungsportale, touristische Informationen) aber auch auf Ortungsdaten (z. B. über Smartphone oder PKW mit Internetzugang). Google besitzt bereits heute sehr detaillierte Mobilitätsprofile und hat somit beste Voraussetzungen zur Übernahme der Koordinationsrolle. Aber auch andere Internetgiganten wie Apple oder Amazon als besonders kundenzentrierte Unternehmen verfügen über individuelle Mobilitätsdaten, wenn auch Amazons Kernkompetenzen in der Logistik und im Kundenprozess liegen. Diskussion und Ausblick Es ist kaum anzunehmen, dass wir bereits jetzt die stärksten Struktureffekte im Mobilitätssektor auf Basis der zunehmenden Digitalisierung erfahren haben. Sollten neben BlaBlaCar auch weltweite Player die Bedeutung und Chancen in der Ausnutzung bereitstehender privater PKW-Kapazitäten entdecken, ließen sich durch entsprechende Netzwerkeffekte Plattformen aufbauen, die eine „kritische Masse“ für Angebot und Nachfrage von privaten PKW-Mitfahrten erreichen. Dieses Szenario stellt mittelfristig für die Bahn ein viel größeres Risiko dar als die vieldiskutierten selbstfahrenden PKW. Anderseits haben es die etablierten Anbieter selbst in der Hand, die Möglichkeiten der Digitalisierung für eine Verbesserung der Customer Experience und damit langfristig für den Aufbau von Kundenloyalität zu nutzen. Voraussetzung dafür ist ein verändertes Kundenbild: Weg vom Kunden als „Beförderungsfall“ (im Massenmarkt), hin zu einem erkennbaren individuellen Kundenverständnis. Hier spielt Digitalisierung eine zentrale Rolle z.B. durch den Aufbau eines zentralen Kundenkontos zur Abwicklung aller kundenrelevanten Prozesse. ■ LITERATUR [1] BMVI (2017): BMVI fördert E-Ticketing mit 16 Millionen Euro. Abruf am 12.01.2017 unter http: / / www.bmvi.de/ SharedDocs/ DE/ Artikel/ G/ bmvi-foerdert-e-ticketing.html. [2] Bongaerts, R., Kwiatkowski, M., König, T. (2017): Disruption Technology in Mobility - Customer Acceptance and Examples, in: Khare, A., Schatz, R., Stewart, B. (Hrsg.): Phantom Ex Machina: Digital disruption’s role in business model transformation, Springer 2017, S. 119-135. [3] Krämer, A. (2016): Zukunft Bahnpersonenverkehr: Wie wettbewerbsfähig ist das deutsche Bahnsystem unter veränderten Konkurrenzbedingungen? ZEVrail 140 (4), S. 138-145. [4] HORIZONT Online / dpa (2016): Deutsche Bahn will eine Milliarde Euro in Digitalisierungsprojekte investieren. Abruf am 12.01.2017 unter http: / / www.horizont.net/ marketing/ nachrichten/ Bahnchef- Grube-Deutsche-Bahn-will-eine-Milliarde-Euro-in-Digitalisierungsprojekte-investieren-143935. [5] Krämer, A.; Wilger, G., Hercher, J. (2016): Die Mär vom induzierten Verkehr. Planung & Analyse, Jg. 44, Heft 3/ 2016, S. 60-61. Weitere Informationen zur Studie MobilitätsTRENDS sind verfügbar unter https: / / www.rogator.de/ unternehmen/ studien.html. [6] Check my bus (2017): Deutscher Fernbusmarkt 2016 wächst nur leicht auf 25,3 Millionen Fahrgäste. Abruf am 12.1.2017 unter http: / / www.newstix.de/ ? session=abe05a85cbac79f5e73915dafe02d347&si te=actual&startentry=10&entmsg=true&mid=34764#sthash.oY- P4uTZ6.dpuf. [7] Bloomberg, McKinsey (2016): An integrated perspective on the future of mobility. Download unter http: / / www.mckinsey.com/ business-functions/ sustainability-and-resource-productivity/ our-insights/ an-integrated-perspective-on-the-future-of-mobility. [8] Allianz pro Schiene (2016): Selbstfahrende Metros in Europa: Eine Milliarde Fahrgäste jedes Jahr. Abruf am 12.01.2017 unter https: / / www.allianz-pro-schiene.de/ presse/ pressemitteilungen/ uebersicht-selbstfahrende-metros-europa/ . [9] Claudel, M., Ratti, C. (2015): Full speed ahead: How the driverless car could transform cities. McKinsey Quarterly (August 2015). [10] McKinsey (2016): Automotive revolution - perspective towards 2030. Download unter https: / / www.mckinsey.de/ files/ automotive_revolution_perspective_towards_2030.pdf. [11] N.N. (2015): What the rise of the sharing economy means for transport. Abruf am 12.01.2017 unter http: / / 2015.internationaltransportforum.org/ shared-economy#sthash.9hVcyuCO.dpuf. [12] TNS Emnid (2015): Sharing Economy. [13] Krämer, A., Hercher, J. (2016): MobilitätsTRENDS 2016 Sparpreise: Wirkungsvolles Instrument der Bahn im Wettbewerb Bonn, Dezember 2016. Verfügbar unter https: / / www.rogator.de/ files/ content/ Unternehmen/ Studie/ exeo_MobilitätsTRENDS_Sparangebote%20 der%20Bahnen_im_D-A-CH-Gebiet.pdf. [14] Krämer, A. (2016): Kostenwahrnehmung bei PKW-Reisen - Empirische Analyse zur Schätzung der PKW-Kosten und der wahrgenommenen Kostenkomponenten bei Autofahrern im DACH-Gebiet. Internationales Verkehrswesen, 68(4), 2016, S. 16-19. [15] Krämer, A., Friesen, M, Shelton, T. (2017): Are airline passengers ready for individualized pricing? A study of German consumers. Journal of Pricing & Revenue Management, erscheint in 2017. [16] Krämer, A., Bongaerts, R. (2017): Kundensegmentierung und -strukturanalyse für den Personenfernverkehr in der DACH-Region ZEVrail, 141(1/ 2), Jan. 2017. Die Autoren verweisen auf die Publikation „Digitalisierung und Wettbewerbsfähigkeit im Mobilitätsbereich“, die auf www.exeo-consulting.com abrufbar ist. Andreas Krämer, Prof. Dr. Professor an der Business and Information Technology School, Iserlohn, und Vorstand der exeo Strategic Consulting AG, Bonn andreas.kraemer@ exeo-consulting.com Robert Bongaerts, Dr. Vorstand der exeo Strategic Consulting AG, Bonn robert.bongaerts@ exeo-consulting.com
