eJournals Internationales Verkehrswesen 69/1

Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2017-0014
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Zahlen, was tatsächlich gefahren wird

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Knut Rigat
Seit dem 15. April 2016 testet der Rhein-Main-Verkehrsverbund (RMV) als erster Verkehrsverbund Deutschlands einen Relationstarif in einem großflächigen Modellprojekt. Über 13 000 Teilnehmer kaufen dabei ihren Fahrschein im Tarifpiloten RMVsmart nicht für Flächenzonen, sondern zahlen für die tatsächlich genutzte Verbindung. Vertrieben wird das neue Tarifangebot über das Smartphone.
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Internationales Verkehrswesen (69) 1 | 2017 42 MOBILITÄT ÖPNV-Tarif Zahlen, was tatsächlich gefahren wird Deutschlands größter Feldversuch mit einem Relationstarif erfolgreich gestartet Rhein-Main-Verkehrsverbund, Tarifmodell, Mobilitätsverhalten, RMVsmart Seit dem 15. April 2016 testet der Rhein-Main-Verkehrsverbund (RMV) als erster Verkehrsverbund Deutschlands einen Relationstarif in einem großflächigen Modellprojekt. Über 13 000 Teilnehmer kaufen dabei ihren Fahrschein im Tarifpiloten RMVsmart nicht für Flächenzonen, sondern zahlen für die tatsächlich genutzte Verbindung. Vertrieben wird das neue Tarifangebot über das Smartphone. Knut Ringat U m der Region FrankfurtRhein- Main einen einheitlichen Tarif zu geben, wählten die Gründungsmitglieder des RMV im Jahr 1995 ein Tarifsystem aus großflächigen Waben, sogenannten Tarifzonen, die sich an den Stadt- und Kreisgrenzen orientieren. Die damalige Entscheidung war richtig, orientierte sie sich doch am Mobilitätsverhalten der Menschen in den 1990er Jahren. Nach dem Modell der Tarifwaben wurden seinerzeit in ganz vielen Verkehrsverbünden Deutschlands die Tarifgebiete so neu geordnet und verwirklicht. Was vor 20 Jahren richtig und sinnvoll war, ist heute korrekturbedürftig. Ein wesentlicher Treiber der Erneuerung ist dabei das geänderte Mobilitätsverhalten unser Fahrgäste. Viele Menschen im Rhein-Main- Gebiet halten die heute bestehenden Tarifstrukturen inzwischen für nicht mehr zeitgemäß - eine Einschätzung, die wir beim RMV teilen. Doch wie kommen wir zu dieser Einschätzung? In einer immer enger zusammenwachsenden Metropolregion spielen heute Stadt- und Kreisgrenzen kaum noch eine Rolle für die Menschen. Mit der Pendlerhauptstadt Frankfurt bewegt sich der RMV in einer polyzentrischen Region mit einem monozentrischen Ansatz zu Frankfurt. Verbindungen zwischen unmittelbar benachbarten Städten und Stationen sind so zu Recht zum Sinnbild für die Kritik geworden: Die Flächenzonen erlauben einerseits lange Fahrten innerhalb der großen Tarifzonen. Andererseits schlägt jedes Überqueren einer Tarifgrenze mit einem preislichen Sprung zu Buche. Stark vereinfacht: Manch kurze, starkfrequentierte Strecke zwischen zwei Metropolkernen ist im Vergleich zu einer langen Strecke am Rande des Ballungsraums unverhältnismäßig teuer. Aufbauend auf dem RMV-HandyTicket, das seit Jahren ein überexponentiell stark wachsendes Vertriebselement darstellt, hat sich der RMV dazu entschieden, mittels einer Pilotierung eines Relationstarifs seine Tarifstruktur neu zu denken und gemeinsam mit den Fahrgästen und den Stakeholdern weiterzuentwickeln. Die Idee des RMVsmart war im RMV-Aufsichtsrat geboren. Mit dem RMVsmart geht der Verbund den entscheidenden Schritt Mit dem Pilotversuch RMVsmart vollzieht der RMV den entscheidenden Schritt seiner seit rund zehn Jahren laufenden stufenweisen Tarifstrukturreform. Bezogen sich die bisherigen Stufen der Tarifstrukturreform auf das Zeitkarten-Segment (spezielle Angebote für Senioren, Schüler, Studenten) werden in einer ersten Stufe im RMVsmart zunächst nur Angebote für den Gelegenheitsverkehr getestet. Die Gründe dafür sind gewichtig: Selbst geringe prozentuale Veränderungen bei den Fahrkartenverkäufen wirken sich sofort in einer immensen Größenordnung auf die Einnahmen des Verbundes aus. Die Einnahmen sind wiederum direkte Grundlage eines gesicherten Verkehrsangebotes. Und Bild 1: Das Smartphone ermöglicht einfaches und intuitives Handling. Foto: RMV/ Markus Hammrich Internationales Verkehrswesen (69) 1 | 2017 43 ÖPNV-Tarif MOBILITÄT die mit der Größe des RMV einhergehende Vielzahl an Relationen muss von allen Verkaufsgeräten abgebildet werden können. Da aber die Vertriebslandschaft im RMV äußerst heterogen ist und längst nicht alle Verkaufsgeräte den avisierten Relationstarif abbilden können, wird das entwickelte Tarifmodell zunächst über das Smartphone erprobt. Hier erlaubt die vorhandene Technik mit einem leistungsfähigen Hintergrundsystem, auch komplexe Strukturen zu hinterlegen. Für den Kunden ist die Erprobung auf dem Smartphone zudem von Vorteil, da das Smartphone ein möglichst einfaches und intuitives Handling ermöglicht, so wie vom HandyTicket gewohnt und erprobt. Insbesondere um die Akzeptanz der Fahrgäste testen zu können - welche für den Erfolg des Tarifpiloten entscheidend ist - ist der RMVsmart als ein auf drei Jahre ausgelegter Pilotzeitraum mit einem umfassenden Kundendialog für bis zu 20 000 Testkunden vorgesehen (Bild 1). Wie beim Taxi RMVsmart, zunächst begrenzt auf Einzelfahrkarten für Erwachsene, basiert auf zurückgelegten Tarifkilometern und gewählten Verkehrsmitteln. Analog einer Fahrt mit dem Taxi zahlt jeder Fahrgast nur das, was er tatsächlich nutzt. Das Tarifangebot setzt sich dabei aus einigen wenigen, übersichtlichen Bausteinen zusammen. Als Basis aller Bausteine gilt in einem ersten Schritt ein fester Grundpreis von 1,69- EUR pro Fahrt. Für den gefahrenen Kilometer zahlen die Fahrgäste dann in Regionalzügen, S-Bahnen und U-Bahnen einen klar entfernungsabhängigen Preis: Im engmaschigen und dicht getakteten Kernnetz im Großraum Frankfurt 21,8 Euro-Cent (ct) je Kilometer, im übrigen RMV-Gebiet (Regionalnetz) 10,9 ct je Kilometer. Für jede Relation, die Fahrgäste mit diesen Verkehrsmitteln zurücklegen, errechnet sich ein individueller Fahrpreis. Für Fahrten mit Bus oder Straßenbahn gibt es übersichtliche Pauschalpreise - je nach Größe der durchfahrenen Orte bzw. Städte (Bild 2). Dabei dienen Bausteine und Tarifräume gegenüber dem Fahrgast aber nur als Hintergrundinformation. Im Fahrscheinkauf und in der Verbindungswahl wird dem Fahrgast in der dazugehörigen Smartphone-App nur der jeweilige individuelle Preis angezeigt. Dafür wurde die erfolgreiche RMV- App weiterentwickelt. Der Pilotversuch zu RMVsmart erlaubt es zudem erstmals, innovative neue Anreizsysteme im Verbundverkehr konkret in deren Wirkung zu testen. Damit eröffnet sich eine vollkommen neue „Tarifwelt“ - vorausgesetzt, das Angebot stößt bei den Fahrgästen auf Akzeptanz. Der Feldversuch wird von einem Innovationsdialog begleitet, bei dem Testnutzer, Experten, Verbands- und Politikvertreter den Tarifpiloten auf den Prüfstand stellen - in Befragungen, Online-Debatten und Diskussionsveranstaltungen. Schließlich bestehen unterschiedlichste tarifliche, politische, verkehrliche, unternehmerische und nutzungsbezogene Anforderungen an ein solches Tarifprodukt, die es auszutarieren gilt. Dies zeigen auch die in Teilen sehr emotional geführten Diskussionen in den ersten Monaten - obwohl RMVsmart parallel zum bestehenden Tarifangebot getestet wird. Alle klassischen Tarifangebote bleiben parallel erhalten während des Testes. Mittelpunkt der Diskussion ist auch in dem Tarifpiloten der Preis. So wird es für einige Fahrgäste mit dem RMVsmart deutlich billiger, für andere teurer. Transparent können nun alle Preise nachvollzogen werden. Dabei haben die Fahrgäste weiterhin die Wahl zwischen RMVsmart und dem konventionellen RMV-Tarif (Bild 3). Grundannahme für die Preissetzung im RMVsmart war eine konstante Tarifergiebigkeit. Im heutigen Wabentarif ist je nach Relation die tatsächliche Entfernung je- Preisstufe sehr unterschiedlich. Für 4,80- EUR (Preisstand 2017 - Preisstufe 4) gibt es z. B. Relationen zwischen 10 und 60- km, deren Nachfrage in der Abbildung durch die Größe der Kreise abgebildet wird. Eine entfernungsabhängige Tarifierung unter der Annahme konstanter Tarifergiebigkeit führt zu einer Geraden, die kürzere Relationen billiger und längere Relationen teurer macht. Versuch und Dialog liefern richtungsweisende Erkenntnisse für die Weiterentwicklung von Verbundtarifen. Im nächsten Schritt des Testes werden folgend verschiedene Tarifhöhen und Pauschalangebote getestet. Auch Anreizmodelle für Kundengruppen bis hin zu Zeitkarteninhabern werden eingebunden. Eine Entscheidung über deren Ausgestaltung erfolgt voraussichtlich im ersten Halbjahr 2017. Am Ende des Pilotversuches werden die Ergebnisse dem Aufsichtsrat vorgelegt, der dann auf dieser Grundlage darüber entscheidet, ob und welin Orten 50.000 < 0,35 Euro/ Fahrt M in Städten 50.000 - 200.000 0,47 Euro/ Fahrt L in F / WI / MZ 0,67 Euro/ Fahrt XL Kernnetz InnErOrtS ÜbErland 0,218 Euro/ tarif-km regionalnetz 0,109 Euro/ tarif-km mit F / WI / MZ 2,35 Euro/ Fahrt ohne F / WI / MZ 1,13 Euro/ Fahrt XL+ M+ L+ Grundpreis 1,69 Euro/ Fahrt Bild 2: Preissegmente des RMVsmart Internationales Verkehrswesen (69) 1 | 2017 44 MOBILITÄT ÖPNV-Tarif che Elemente in einen künftigen Tarif übernommen werden. Rekrutierung und Verteilung der Testkunden Der RMV setzt zur Rekrutierung der Kunden zum einen auf klassische, zum anderen auch auf digitale Werbemaßnahmen. Als besonders effektiv und zeitgleich kostengünstig hat sich dabei die Nutzung der eigenen Kanäle, insbesondere der RMV-App bewährt. Es werden aber auch offline-Kanäle genutzt, um bisherige Nicht-RMV-HandyTicket-Kunden zu erreichen. Die Werbemaßnahmen wurden dabei im gesamten RMV-Gebiet gestreut. Ziel ist es, in jeder der 27 Gebietskörperschaften des RMV mindestens 100, möglichst 400 Testkunden, zu generieren. Inzwischen spiegelt die tatsächliche Verteilung der RMVsmart-Testkunden sowohl Bevölkerungsdichte und Art der ÖPNV-Nutzung als auch bisherige RMV-HandyTicket-Nutzung wider. Fast 50 % der Testkunden stammen aus dem großstädtischen Raum (Frankfurt, Mainz, Wiesbaden, Darmstadt, Offenbach), ca. 25 % aus den eher städtisch geprägten Landkreisen im Umfeld der Großstädte (z. B.- Main-Taunus-Kreis, Darmstadt-Dieburg etc.). 25 % der Testnutzer stammen aus dem restlichen RMV-Gebiet und von außerhalb des RMV-Gebiets (7 %). Die Rekrutierung erfolgte in zwei Wellen mit unterschiedlichen Botschaften. Während in der ersten Welle unter dem Titel „Nachbarschaftlich fahren, fair bezahlen“ das Thema (Leistungs-)Gerechtigkeit im Vordergrund stand, fokussierte die zweite Kampagne unter dem Slogan „RMVsmart - meine Strecke, mein Preis“ auf die Themen Einfachheit und individueller Preis. Die begleitende Eingangsbefragung bezüglich der Motivation zur Teilnahme an RMVsmart belegt, dass diese Botschaften von den Testkunden wahrgenommen wurden: Die Testkunden, die sich in den ersten Monaten bei RMVsmart angemeldet hatten, nannten signifikant häufiger den Grund „Gerechtigkeit“ als Motivation als diejenigen, die sich später angemeldet haben, welche wiederum „Preis“ und „Einfachheit“ als Motivation nannten (Bild 4). Die Einnahmen haben sich rasant entwickelt, nach einen guten halben Jahr liegt der Umsatz bereits über dem Volumen, das touch&travel nach fünf Jahren erreicht hatte. Eine gute Vergleichsbasis besteht zum konventionellen RMV-HandyTicket, über das etwa 5 % der Einzelkarten im RMV vertrieben werden. Etwa 85 % der Kunden nutzen mit RMVsmart bisher eine Relation, für die sie mit dem konventionellen Tarif einen höheren Preis gezahlt hätten. Das spricht für eine große Preis-Sensibilität der Kunden. Der Durchschnittspreis pro Ticket liegt im RMVsmart bisher etwa 4 % unter dem Vergleichswert im konventionellen Tarif. Für eine differenzierte Analyse ist es jedoch noch zu früh. Hierfür ist eine größere Datenbasis erforderlich. Erste Reaktionen der Öffentlichkeit Bereits seit dem Aufsichtsratsbeschluss im Dezember 2015 und der damit verbundenen Bekanntmachung von RMVsmart steht der Pilotversuch unter öffentlicher Beobachtung von Politik, Presse, Fachkollegen aus der ÖPNV-Branche und Lobbygruppen. Die Beschäftigung mit RMVsmart reicht dabei von Neugier und Informationsinteresse bis zur Formulierung konkreter Anforderungen an das Projekt. Als besondere Herausforderung gestaltet sich dabei, immer wieder den Projektcharakter von RMVsmart hervorzuheben, da das Tarifprodukt oft als „der neue RMV-Tarif“ wahrgenommen wird und mit entsprechend hoher Emotionalität diskutiert und Anforderungen mit Vehemenz formuliert werden. Der RMV nimmt die Diskussionsbeiträge der Kunden, Politik und Fahrgastverbände offen auf und leitet daraus für den weiteren Projektverlauf und die zukünftig noch zu testenden Komponenten von RMVsmart weitere Aufgaben ab. Wichtig ist zu betonen, dass der RMVsmart als ein erstes Angebot für Gelegenheitsfahrer konzipiert wird, dem Angebote für Dauernutzer folgen. ■ Knut Ringat, Prof. Geschäftsführer und Sprecher der Geschäftsführung, Rhein-Main-Verkehrsverbund GmbH, Hofheim a.Ts. k_ringat@rmv.de Bild 4: Entwicklung der Anzahl Testkunden und Einnahmen Bild 3: Leistungsgerechtes Preisangebot durch RMVsmart-Tarif