Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2017-0019
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2017
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Verkehrssystemforschung am DLR - Mobil in Deutschland 2040
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2017
Stefan Seum
Mirko Goletz
Tobias Kuhnimhof
Szenarien zukünftiger Entwicklungen des Verkehrssystems leisten einen wichtigen Beitrag zur Unterstützung von Entscheidungsprozessen. Das ist auch das Ziel der DLR-Szenarien im Projekt Verkehrsentwicklung und Umwelt (VEU). Für die Entwicklung von Szenarien stehen verschiedene methodische Ansätze zur Verfügung. Die Vor- und Nachteile werden im nachfolgenden ersten Teil des Beitrags erörtert und das Vorgehen im Rahmen der VEU-Szenarien dargestellt. In einem zweiten Teil des Beitrag werden in der nächsten Ausgabe die Storylines der entwickelten VEU-Szenarien präsentiert.
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Internationales Verkehrswesen (69) 1 | 2017 60 MOBILITÄT Wissenschaft Verkehrssystemforschung am DLR - Mobil in-Deutschland 2040 Teil 1: Der methodische Szenario-Ansatz im Projekt Verkehrsentwicklung und Umwelt Verkehrsszenarien, Szenariotechnik, Explorative Szenarien, Verkehrsforschung, Zukunft des Verkehrs, Verkehrsentwicklung Szenarien zukünftiger Entwicklungen des Verkehrssystems leisten einen wichtigen Beitrag zur Unterstützung von Entscheidungsprozessen. Das ist auch das Ziel der DLR- Szenarien im Projekt Verkehrsentwicklung und Umwelt (VEU). Für die Entwicklung von Szenarien stehen verschiedene methodische Ansätze zur Verfügung. Die Vor- und Nachteile werden im nachfolgenden ersten Teil des Beitrags erörtert und das Vorgehen im Rahmen der VEU-Szenarien dargestellt. In einem zweiten Teil des Beitrag werden in der nächsten Ausgabe die Storylines der entwickelten VEU-Szenarien präsentiert. Stefan Seum, Mirko Goletz, Tobias Kuhnimhof D ie Erarbeitung von Szenarien ist ein wesentliches Instrument, um mögliche zukünftige Situationen sowie die Entwicklung des Pfades dorthin [1] zu beschreiben. Damit unterstützen sie die Entscheidungsfindung in einem teilweise unbekannten, unsicheren und sich rasch ändernden Umfeld [2]. Zur Qualitätssicherung von Szenarien müssen diese in sich konsistent und plausibel sein. Sie unterliegen ferner dem Anspruch der Verständlichkeit und Nachvollziehbarkeit der zugrundeliegenden Annahmen (Ibid.). Das institutionell geförderte Projekt Verkehrsentwicklung und Umwelt (VEU) am Deutschen Zentrum für Luft und Raumfahrt (DLR) ist ein Gemeinschaftsprojekt von zwölf DLR und Helmholtz Instituten. Es zielt darauf ab, verschiedene Entwicklungspfade des Verkehrssystems in Deutschland bis 2040 unter ökologischen und gesellschaftlichen Gesichtspunkten zu analysieren. Im Fokus stehen Veränderungen von Mobilitätsverhalten und Technologien sowie die Wirkung auf die Umwelt (Lärm, Luftqualität und Klima), wofür ein umfangreiches Netzwerk von Modellen aufgebaut wurde [3]. Die Entwicklungspfade des Verkehrssystems wurden in VEU mit Hilfe einer Szenario-Technik konstruiert, die zum Ziel hat, die nationalen (bzw. europäischen) Stellschrauben und Handlungsoptionen für die Beeinflussung der Entwicklung des Verkehrssystems zu identifizieren. Mit den VEU-Szenarien werden Rahmenbedingungen definiert und Eingangsparameter für die Modellierung der Wirkungen zur Verfügung gestellt. Herangehensweisen verschiedener Szenario-Ansätze Im Feld der Zukunftsforschung dominieren Szenario- Ansätze, die quantitative und qualitative Elemente miteinander verbinden und die die qualitativen Elemente systematisch erfassen. Historisch lassen sich intuitive Ansätze („Scenario Writing“) sowie statische und dynamische modell-basierte Logik-Ansätze (vergl. [4, 5]) unterscheiden. Im deutschen Sprachraum wurden insbesondere Techniken basierend auf dynamischen, modellgestützten Logiken weiterentwickelt (z. B. [6, 7]). Auf der einen Seite stehen die Zielszenarien (oder normative Szenarien) mit der Fragestellung, wie bestimmte (Umwelt-)ziele erreicht werden können [8, 9]. Eine aktuelle Anwendung auf den Verkehr sind die Szenarien in Renewbility III [10], die auf einer vollständigen Dekarbonisierung des Verkehrssektors im Jahr 2050 als Grundbedingung basieren ohne auf den Entwicklungspfad dorthin näher einzugehen. Vor dem Hintergrund dieser Zielsetzung wird davon ausgegangen, dass sämtliche eingesetzten Energien aus erneuerbaren Quellen stammen. Renewbility III liefert somit wichtige Hinweise, welche Optionen zur Dekarbonisierung des Verkehrs der Gesellschaft zu welchen Kosten zur Verfügung stehen. Dem gegenüber stehen explorative Szenarien, die der Frage nachgehen, welche unterschiedlichen denkbaren Projektionen des Verkehrssystems möglich und konsistent sind, wenn verschiedene Einflussfaktoren explorativ miteinander kombiniert werden. Ein Beispiel ist die Studie Zukunft der Mobilität [11], die in verschiedenen Zukunftsbildern für den Verkehr aufzeigt, wie das Leben Internationales Verkehrswesen (69) 1 | 2017 61 Wissenschaft MOBILITÄT und die Mobilität in Deutschland im Jahr 2035 aussehen könnten. Der mikro-explorative Szenario-Ansatz der DLR-Verkehrssystemforschung Im Folgenden wird eine Weiterentwicklung des explorativen Szenario-Ansatzes beschrieben, die wir als mikroexplorativ bezeichnen. Mit diesem Ansatz verfolgen wir in VEU das Ziel, solche Einflussfaktoren zu identifizieren, die für die Entwicklung des Verkehrssystems besonders relevant sind und die in einem national-staatlichen Kontext veränderbar sind. Die Makro-Faktoren, wie Bevölkerungsentwicklung und ökonomische Entwicklung, die in explorativen Szenarien häufig die Veränderungen dominieren, wurden hingegen für alle Szenarien gleich gesetzt. Die Erweiterung zu einem mikro-explorativen Ansatz beruht auf zwei Prinzipien: Hintergrund der Festlegung der Makro-Faktoren ist der Gedanke, dass Verkehrspolitik nicht der treibende Faktor der Bevölkerungsentwicklung sein wird und zweitens, dass - gleich welcher verkehrlichen Entwicklung - eine stabile und ökonomisch tragfähige Entwicklung nicht zur Disposition gestellt wird. Das heißt im Umkehrschluss, dass gleichgültig welcher Entwicklungspfad für das Verkehrssystem projiziert wird, dieser mit einem positiven ökonomischen Entwicklungspfad vereinbar sein muss. Als Konsequenz können die Makro-Faktoren festgesetzt werden, um durch Variation der Mikro-Faktoren heraus zu arbeiten, welche Bedeutung diesen bei der Transformation des Verkehrssystems zukommt. Ein wesentliches Qualitätskriterium für Szenarien sind die Konsistenz und die Plausibilität der Projektionen. Um diese zu gewährleisten, sind wir einem Vorgehen gefolgt, das mittels „Identifikation von Einflussfaktoren“, „Definition der Entwicklungsvarianten“, „Bewertung der Wechselwirkungen“ und „Ermittlung konsistenter Szenarien“ konsistente Rahmendaten erzeugt [12]. Die Identifikation von Einflussfaktoren erfolgte zunächst in einem Experten-Prozess unter Einbeziehung von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen verschiedener Disziplinen 1 . Aus den thematischen Bereichen Gesellschaft, Technologie und Energie, Wirtschaft, Umwelt und Politik wurden zunächst Faktoren benannt, denen relevanter Einfluss auf das Verkehrssystem und Verkehrsgeschehen zugesprochen werden und für die unterschiedliche zukünftige Entwicklungen denkbar sind. Anfangs 240 Einflussfaktoren wurden in einem zweiten Schritt zu 79 sogenannten Deskriptoren 2 konsolidiert (Bild 1). Zum weiteren Eingrenzen der Deskriptoren wurden diese mit einer Impact-Uncertainty-Analyse im Hinblick auf zwei Aspekte bewertet: 1. Wie stark sind die (positiven oder negativen) Auswirkungen einer Veränderung des Deskriptors auf die Verkehrsentwicklung (Aufkommen, Technologie, Verhalten)? 2. Wie hoch ist die Unsicherheit, mit der die zukünftige Entwicklung des Deskriptors abgeschätzt werden kann? Ziel der Impact-Uncertainty-Analyse ist es, die Deskriptoren zu gruppieren und solche auszuwählen, die für die Szenario-Entwicklung besonders relevant sind. Die aus dem unternehmerischen Umfeld stammende Impact- Uncertainty-Analyse unterscheidet vier Bereiche 3 : • Kritische Planungs-Deskriptoren - große Wirkung, geringe Unsicherheit. • Kritische Szenario-Deskriptoren - große Wirkung, hohe Unsicherheit. • Wichtige Szenario-Deskriptoren - mittlere Wirkung, mittlere Unsicherheit. • Andere nicht berücksichtigte Deskriptoren (mittlere Wirkung, geringe Unsicherheit und geringe Wirkung und geringe Unsicherheit). Das Besondere an der VEU-Deskriptoren-Analyse ist die Mischung von vergleichsweise allgemeinen Deskriptoren, einschließlich der gesetzten Makro-Faktoren, mit verkehrsspezifischen Deskriptoren. Ziel dieser Mischung ist es, spezifische Deskriptoren mit einem hohen Einflussgehalt zu identifizieren und deren Entwicklung in einen größeren Zusammenhang einzubetten sowie die Konsistenz mit allgemeinen Rahmenentwicklungen (d. h. den Makro-Einflussfaktoren) herzustellen. Als Ergebnis lagen die Makro-Faktoren (z. B. BIP, Ölpreis) allesamt im Bereich high impact - low uncertainty (kritische Planungs-Deskriptoren). Weiter fielen eine Reihe von Deskriptoren eindeutig in den Bereich high impact - high uncertainty und sind für die Szenario-Entwicklung prädestiniert (kritische Szenario-Deskriptoren, siehe Bild 1). Drei Planungs-Deskriptoren (Bevölkerungs-, BIP- und Ölpreisentwicklung, jeweils fix) und zehn Szenario-Deskriptoren wurden für die weitere Analyse ausgewählt (Tabelle 1). Für die Arbeitsschritte Definition der Entwicklungsvarianten, Bewertung der Wechselwirkungen und Ermittlung konsistenter Szenarien wurde eine Cross-Impact-Analyse (CIA) angewandt und mit Hilfe von Software des Zentrums für interdisziplinäre Risiko und Innovationsforschung der Universität Stuttgart (ZIRN) ausgewertet 4 . Diese Methode, auf Basis der Beziehungen zwischen den Deskriptor-Ausprägungen untereinander die Konsistenzen abzuleiten, stellt eine Weiterentwicklung der reinen Konsistenzprüfung von Parametern dar. Für jeden der zehn Szenario-Deskriptoren wurden zwei bis drei denkbare Ausprägungen mit dem Zieljahr Bild 1: Grafische Darstellung der 79 Deskriptoren und der Grenzziehung für kritische und wichtige Planungs- und Szenario-Deskriptoren. Internationales Verkehrswesen (69) 1 | 2017 62 MOBILITÄT Wissenschaft 2040 formuliert. In einem nächsten Schritt haben wir schriftlich und mittels Workshop die unterschiedlichen Entwicklungspfade miteinander in Beziehung gesetzt. In einer Matrix wurden die Ausprägungen der Szenario- Deskriptoren im Hinblick darauf bewertet, ob sie gegenseitig stark, moderat oder schwach hemmend bzw. fördernd sind oder keinen Einfluss aufeinander haben. Diese Matrix diente als Grundlage für die CIA und wurde mit der ZIRN Software ausgewertet. Das Ergebnis der Cross-Impact-Analyse waren neun voll-konsistente Kombinationen von Deskriptor-Ausprägungen. Aus diesen haben wir ein Referenz-Szenario und zwei möglichst weit auseinanderliegende Kombinationen als Grundlage für zwei weitere Szenarien ausgewählt. Aufbauend auf den Beschreibungen der Deskriptoren Ausprägungen haben wir dann die Storylines für die VEU-Szenarien „geregelter Ruck“ und „freies Spiel“ erstellt (dazu Teil 2 des Beitrags). Das Vorgehen erlaubte uns, spezifische Politikmaßnahmen und Entwicklungen narrativ zu beschrieben und mit Annahmen so auszugestalten, dass sie als Eingangsparameter für das Netzwerk von Modellen in VEU verwendet und damit einer Bewertung zugänglich gemacht werden können. Fazit und Vergleich verschiedener Szenario-Ansätze Mit den VEU-Szenarien hat das DLR eine Erweiterung des explorativen Szenario-Ansatzes beschritten, den wir als mikro-explorativ bezeichnen. Das Ziel ist die Herleitung von konsistenten und plausiblen Entwicklungspfaden des Verkehrssystems sowie die Identifizierung von konkreten Maßnahmen und Entwicklungen, die im Einflussbereich der Nationalstaaten liegen. Im Gegensatz zu zielorientierten Szenarien liegt bei den explorativen Szenarien der Schwerpunkt auf dem Entwicklungspfad und den aus heutiger Sicht denkbaren Entwicklungen. Im Gegensatz zu makro-explorativen Szenarien wird der häufig dominierende Einfluss von Makro-Faktoren bei dem mikro-explorativen Ansatz ausgeklammert. Allen Szenario-Ansätzen inhärent ist das Setzen von Annahmen und damit verbunden auch eine jeweilige Weichenstellung bezüglich ihrer Aussagefähigkeit. Ein mikro-explorativer Ansatz ist dabei insbesondere in der Lage, gezielt spezifische Einflussfaktoren für ein Themenfeld herauszuarbeiten und den Diskurs beispielsweise zur Transformation des Verkehrssystems konstruktiv zu bereichern (Tabelle 2). ■ Teil 2 des Beitrages lesen Sie in Internationales Verkehrswesen 2 | 2017 1 An dem Prozess waren 33 Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen aus zehn Instituten des DLR, KIT und HZG beteiligt. 2 Der Begriff Deskriptor bezeichnet die für die Szenario-Erstellung operationalisierten Einflussfaktoren. 3 Begrifflichkeiten übernommen in Anlehnung an: Stewart Brand, Thinking Futures, Internet: http: / / de.slideshare.net/ mkconway/ introduction-toscenario-planning 4 Szenario-Wizard: http: / / www.cross-impact.de/ index.htm Kriterium Ziel-orientierte Szenarien Makro-explorative Szenarien Mikro-explorative Szenarien Konsistenz der Einflussfaktoren Konsistenzen treten u.U. zum Zweck einer Zielerreichung in den Hintergrund Logische Ableitung in sich konsistenter Entwicklungen Logische Ableitung in sich konsistenter Entwicklungen Offenheit für Einflussfaktoren Durch Zielorientierung eingeschränkt Prinzipiell ja, aber durch makroskopische Faktoren dominiert Offen für spezifische Faktoren; Blendet makroskopische Faktoren als Treiber aus Identifikation von Politiken und Maßnahmen Teilweise; Zeigen Handlungsfelder auf, bewerten aber nicht die kontextuale Wirkung von Handeln Die Vielschichtigkeit der Faktoren und Effekte erschwert eine Ableitung konkreter Handlungsfelder Zielt auf die Ableitung von Politiken und Maßnahmen Typische Anwen-dungsbereiche Politikberatung über Optionen einer Zielerreichung „Was-wäre-wenn“ Analysen Systemische Analysen von Themenfeldern Tabelle 2: Vergleich verschiedener Szenario-Ansätze (DLR, eigene Darstellung) Nr. Thematische Kategorien Kritische Szenario-Deskriptoren Kommentar zum Ableiten von Entwicklungen und dahinter liegenden Maßnahmen 1 Politische Kultur und Governance Ordnungspolitische Regulierungen z. B. Fahru. Flugverbote; Grenzwerte für Luftschadstoffe 2 Umweltpolitisch motivierte Finanz- und Steuerpolitik Energiebesteuerung, Fahrzeugbesteuerung, Kostengerechtigkeit der Verkehrsträger 3 Internationale Klimaschutzvereinbarungen; verkehrsbeeinflussend Luftverkehrsabgaben, Fahrbeschränkungen; getrieben von internationaler (auch europäischer) Politik 4 Gesellschaft, Lebens- und Arbeitsstrukturen Berufliche Reiseintensitäten und Verflechtungen Raumentwicklung, Konzentration Wirtschaftskraft, internationale Verflechtungen, Reiseweiten 5 Wohn-Standortentscheidungen Zeit-Kosten-Sätze, Raumentwicklungen 6 Neue Technologien und Energieentwicklung Nationale Energiewende; Art und Anteil erneuerbare Energien Erneuerbare Elektrizität, Power-tot-Gas, Wasserstoff, Biogas 7 Förderung E-Mobilität; einschließlich Ladeinfrastruktur flächendeckende Umsetzung urban; Reichweiten 8 Intermodalität und Attraktivität Öffentliche Verkehre ÖV Finanzausstattung (SPFV, SPNV, ÖPNV) Infrastrukturmaßnahmen, Ausbau Schiene nah & fern 9 Förderung modal Shift (Fuß, Rad, ÖV) urban Infrastrukturmaßnahmen, Förderungen, Beschränkungen des MIV 10 Verkehrsinfrastruktur (einschließlich Finanzierung) Erhalt und Entwicklung/ Ausbau Infrastuktur; Modale Schwerpunktsetzung Tabelle 1: Darstellung der zehn kritischen Szenario-Deskriptoren
