Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2017-0023
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Digitale Prozesskette von der Planung bis zum Fahrer
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Christian Krüger
Marc Schaffert
Der Megatrend Digitalisierung verändert den öffentlichen Verkehr nachhaltig. In immer mehr Aufgabenbereichen helfen elektronische Komponenten dabei, Abläufe zu verbessern und die Effizienz zu steigern. Das Schweizer Verkehrsunternehmen AAR bus+bahn digitalisiert nun auch die Arbeitsplätze seines Fahrpersonals.
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Internationales Verkehrswesen (69) 1 | 2017 74 Digitale Prozesskette von der Planung bis zum Fahrer Moderne Tabletlösung verändert bei AAR bus+bahn den Arbeitsalltag des Fahrpersonals Digitalisierung, Planungssystem, Informationssystem, Fahrdienst, ÖPNV-Workflow Der Megatrend Digitalisierung verändert den öffentlichen Verkehr nachhaltig. In immer mehr Aufgabenbereichen helfen elektronische Komponenten dabei, Abläufe zu verbessern und die Effizienz zu steigern. Das Schweizer Verkehrsunternehmen AAR bus+bahn digitalisiert nun auch die Arbeitsplätze seines Fahrpersonals. Christian Krüger, Marc Schaffert A ls gemeinsame Dachmarke der Wynental- und Suhrentalbahn AG (WSB) und der Busbetrieb Aarau AG (BBA) gewährleistet AAR bus+bahn mit 23 Zügen und 36 Bussen einen zuverlässigen und regelmäßigen öffentlichen Verkehr in der Stadt und in der Region Aarau. Jährlich nutzen rund 14 Millionen Fahrgäste das Angebot. Im September 2016 stattete das Unternehmen seine rund 180 Fahrdienstmitarbeitenden von Bahn und Bus mit neuen Tablets aus. Die Geräte ermöglichen es, den Informationsfluss zwischen Fahrpersonal und Disposition spürbar zu beschleunigen. Aufgrund ihrer Erfahrung mit dem Planungssystem IVU.plan von der IVU Traffic Technologies AG entschieden sich die Verantwortlichen, die gute Zusammenarbeit fortzusetzen und das IVU.pad auszurollen. Analoge Prozesse ersetzen Während Planer und Disponenten bereits seit langem überwiegend mithilfe von Software Dienst- und Umlaufpläne erstellen, Fahrzeuge einsetzen und Dienste verteilen, haben sich die Prozesse im Fahrdienst in den vergangenen Jahrzehnten wenig verändert. Noch immer bestimmen in vielen Verkehrsunternehmen weitgehend analoge Abläufe den Arbeitsalltag der Fahrerinnen und Fahrer. Auch bei AAR bus+bahn wurden Informationen bislang meist noch auf Papier ausgetauscht. Vom Dienst- oder Urlaubsplan über betriebliche Dokumente, Krankmeldungen oder Anträge für freie Tage - nichts ging ohne Aushang oder Formular. Dienstanweisungen, Schulungsunterlagen und Vieles mehr lagen ebenfalls oft ausschließlich in gedruckter Form vor. Diese Arbeitsweise kostet Verkehrsunternehmen nicht nur viel Papier, sondern auch Zeit. Denn selbst kurzfristige Änderungen von Diensten und Fahrten können Bild: Niklaus Spoerri TECHNOLOGIE Verkehrsunternehmen Internationales Verkehrswesen (69) 1 | 2017 75 Verkehrsunternehmen TECHNOLOGIE nur mit einem gewissen zeitlichen Vorlauf oder mündlich durchgegeben werden. Zudem fehlt ein Rückkanal: Die Disponenten erfahren oft nicht, ob ein Fahrer wichtige Informationen erhalten und gelesen hat. Die zahlreichen manuellen Schnittstellen verlangsamen Prozesse zusätzlich. Wenn beispielsweise Fahrer spontan frei nehmen wollen oder Dienste tauschen möchten, müssen sie das in ein Formular eintragen, der Disposition übergeben und anschließend einige Tage warten, bevor sie erfahren, ob ihr Wunsch erfüllt werden konnte. Darunter leidet auch die Datenhaltung der Verkehrsunternehmen. Oft liegen Informationen mehrfach redundant vor, etwa jeweils einmal in der Disposition, der Personalabteilung und der Lohnbuchhaltung. Die Folge sind zusätzliche Fehlerquellen und hoher Aufwand für den Datenabgleich. AAR bus+bahn zog daher im vergangenen Jahr die Konsequenzen. Die neuen Tablets sollen das Fahrpersonal vollständig in den bereits bestehenden Workflow integrieren, so dass künftig alle wichtigen Aufgaben auf digitalem Wege erledigt werden können. Vom Konzept in die Praxis Als Pilotkunde für das damals noch neue IVU.pad konnte AAR bus+bahn wesentlich auf die Entwicklung der Software Einfluss nehmen. Um die App möglichst früh in der Praxis einzusetzen, vereinbarten AAR bus+bahn und IVU eine iterative Entwicklung. Die App startete daher zunächst in einer Basisversion und wurde schrittweise erweitert. Das Verkehrsunternehmen legte dabei besonders Wert darauf, Funktionen von Beginn an produktiv und fehlerfrei nutzen zu können. Rund sechs Monate nach Projektstart, in denen die Software den Anforderungen entsprechend vorkonfiguriert wurde, erhielten die Fahrdienstleistenden die erste Version der App. Sie enthielt bereits wesentliche Grundfunktionen wie die Möglichkeit, auf das Mitarbeiterportal zuzugreifen, den persönlichen Dienstplan und Kontostände abzurufen sowie sich eine Dienst- und Abwesenheitsübersicht anzeigen zu lassen. Das Fahrpersonal kann den Empfang von Dokumenten quittieren und der Disposition so mitteilen, dass wichtige Informationen gelesen wurden (Bild 1). Eine Feedback-Funktion erlaubt es den Mitarbeitern zudem, ihre Erfahrungen mit der Bedienung und den Funktionen des Tablets unkompliziert an die Projektverantwortlichen zu senden. In der folgenden Projektphase, die ab März 2017 ausgerollt wird, ergänzen die Entwickler die Anwendung um einen Dienstfahrplan für die Mitarbeitenden der Bahn (Bild 2). Das Fahrpersonal bekommt damit die wichtigsten Informationen zu seinem Dienst direkt auf das Tablet. Zudem wird auch das Mitarbeiterportal mit der zweiten Version offline-fähig (Bild 3). Fahrdienstleistende können dann auch unterwegs die Dienstmitteilungen der Disposition einsehen und Nachrichten verfassen. Ab August 2017 erhält das Fahrpersonal von AAR bus+bahn schließlich ein eLearning-Modul sowie dynamische Formulare. Dazu zählt etwa auch die Möglichkeit, Fahrzeugschäden mit Unterstützung des Geräts zu dokumentieren. Eine interaktive Checkliste vereinfacht beispielsweise die Schadensaufnahme und hilft dabei, in Stresssituationen nichts zu vergessen. Auch offline mobil Besonders wichtig im Fahrbetrieb ist die Fähigkeit, alle Dokumente auch offline vorzuhalten und abzulegen. Das IVU.pad ermöglicht es daher Fahrerinnen und Fahrern seit der ersten Version zu jeder Zeit - auch bei fehlendem oder schwachem Empfang - auf die hinterlegten Informationen zuzugreifen. Auf diese Weise schafft das System die Voraussetzung für den papierlosen Führerstand. Damit Dokumente jederzeit zur Verfügung stehen, überträgt die Software alle Daten beim Abruf vollständig auf das Tablet. Formulare, wie etwa zur Schadenserfassung, funktionieren auch dann, wenn kein Kontakt zum Server möglich ist. Alle Eingaben werden so lange auf dem Gerät gespeichert, bis die Verbindung wiederhergestellt wurde, und dann automatisch mit dem Hintergrundsystem synchronisiert. Das hat nicht nur im Hinblick auf die Nutzbarkeit und Verlässlichkeit Vorteile. Die umfassende Offline-Fähigkeit ermöglicht es auch, preisgünstigere Hardware anzuschaffen. AAR bus+bahn verzichtete etwa auf teurere mobilfunkfähige Tablets und die dafür notwendigen Tarife. Stattdessen setzt das Unternehmen auf Geräte, die lediglich mit WLAN ausgestattet sind. Synchronisiert wird dann im Betriebshof oder an bestimmten Punkten auf der Route. Offene Plattform Ein wichtiger Aspekt bei der Entwicklung war, hinsichtlich des eingesetzten Planungssystems Flexibilität zu wahren. Obgleich AAR bus+bahn bereits die Lösung der IVU verwendet, ist das IVU.pad nicht darauf an- Bild 2: Der Dienstfahrplan enthält einen Tag-/ Nacht-Modus, damit das Display das Fahrpersonal bei dunkler Umgebung nicht blendet. Bild 1: Bereits in der ersten Version des Tablets enthalten: Fahrer können Dokumente per Lesebestätigung quittieren. Alle Screenshots: IVU Internationales Verkehrswesen (69) 1 | 2017 76 TECHNOLOGIE Verkehrsunternehmen gewiesen. Dafür sorgt ein eigenständiges Hintergrundsystem, das zwischen Planung und Tablet steht. Es erhält die Daten über standardisierte Schnittstellen aus der Planungsumgebung, bereitet sie auf und gibt sie dann an die App weiter. Das garantiert Unabhängigkeit und erleichtert die Systemkonfiguration. Eine Administrationsoberfläche erlaubt es der Disposition, Informationen im Hintergrundsystem zu hinterlegen und zu bearbeiten (Bild 4). Sie kann dabei flexibel entscheiden, ob Dokumente und Nachrichten allen Fahrdienstmitarbeitenden, einer Gruppe - etwa Lokführer oder Busfahrer - oder einem einzelnen Mitarbeitenden zugestellt werden sollen. Die Kriterien lassen sich frei festlegen. Auf diese Weise kann die Disposition gezielt den Informationsfluss steuern und hat stets den Überblick, wer worüber informiert ist - ein wesentlicher Vorteil im Vergleich zum alten Anschlagbrett. Auch die Wahl von HTML5, dem gängigen Programmierstandard für Webseiten, als technische Basis für die Benutzeroberfläche trägt zur Offenheit und Flexibilität der Lösung bei. Die App bleibt dadurch weitgehend unabhängig von plattformspezifischen Besonderheiten. Neue Funktionen lassen sich zudem schnell auf allen Systemen umsetzen. Ein responsives Design sorgt dafür, dass das System auch in unterschiedlichen Auflösungen funktioniert. Das erlaubt es Verkehrsunternehmen, Tablets nach eigenen Anforderungen zu beschaffen. AAR bus+bahn entschied sich für iPads von Apple, doch eignen sich Android-Geräte ebenso für den Einsatz. Einfach muss es sein Die enge Zusammenarbeit zwischen AAR bus+bahn und der IVU gewährleistet, dass das System die Anforderungen von Unternehmen und Fahrpersonal praxisgerecht abbildet. Als Pilotkunde hat das Schweizer Verkehrsunternehmen die Chance genutzt, seine Erfahrungen in die Entwicklung der Software einfließen zu lassen. Zahlreiche Detailverbesserungen in der Funktionalität gingen auf die Anmerkungen der Fahrerinnen und Fahrer zurück und stehen künftig allen Anwendern des IVU.pads zur Verfügung. Dem Fahrpersonal von AAR bus+bahn ist auch eine zentrale Erkenntnis des Implementierungsprojekts zu verdanken: Die analogen Methoden haben sich über Jahrzehnte bewährt. Um sie erfolgreich abzulösen, müssen die neuen Prozesse ebenso einfach und zuverlässig funktionieren wie die alten. Die Aufmerksamkeit der IVU-Entwickler liegt daher besonders auf intuitiven Benutzeroberflächen und nachvollziehbaren Arbeitsabläufen, die es den Anwendern erleichtern, ihre Aufgaben zu erfüllen (Bild 5). Dadurch konnte AAR bus+bahn komplett auf Schulungen verzichten. Nach einer kurzen Einführung bei der Übergabe der Tablets verwendeten die Fahrdienstleistenden das System bereits nach kürzester Zeit produktiv im betrieblichen Alltag. Mit dem IVU.pad legt AAR bus+bahn den Grundstein für eine vollständige Digitalisierung seiner Prozesskette von der Planung bis zum Fahrpersonal. Bereits zu Beginn der zweiten Phase zeigt sich eine breite Nutzerakzeptanz für die neue Software. Die einfache Handhabung und der praktische Mehrwert für den gesamten Betrieb helfen dabei, manuelle Abläufe nach und nach abzulösen. Diese Vorteile kommen an: Inzwischen haben sich auch weitere Verkehrsunternehmen, etwa die Karlsruher Albtal-Verkehrs- Gesellschaft (AVG), für die App der IVU entschieden. ■ Christian Krüger Projektingenieur IVU.pad, IVU Traffic Technologies AG, Berlin (DE) christian.krueger@ivu.de Marc Schaffert Niederlassungsleiter Schweiz, IVU Traffic Technologies AG, Basel (CH) marc.schaffert@ivu.de Bild 3: Mit dem offlinefähigen Mitarbeiterportal können Fahrerinnen und Fahrer auch unterwegs ihre Dienste einsehen. Bild 4: In der Administrationsoberfläche verwaltet die Disposition Dokumente und Mitteilungen. Bild 5: Der Startbildschirm in der aktuellen Version: Alle wichtigen Funktionen sind leicht zu erreichen.
