Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2017-0031
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Der Ruck durch Europa
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Werner Balsen
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Internationales Verkehrswesen (69) 2 | 2017 15 D er Vortrag von Violeta Bulc auf der Veranstaltung des Verbandes der Europäischen Fertigfahrzeug-Logistiker ging zu Ende. Die Verkehrskommissarin hatte alles gesagt über ihr Lieblingsthema, die Digitalisierung. Dennoch wollte sie das Rednerpult noch nicht freigeben. Denn es läge ihr auf dem Herzen, etwas hinzuzufügen. Es folgte „zum 60. Geburtstag der EU“ ein emotionales Plädoyer für die Union: Jeder im Saal solle sich bewusst machen, was mit dem Staatenbund verloren ginge. Jeder solle mit Kraft dessen Existenz sichern. Ähnlich überraschend für die Zuhörer war eine Rede der EU-Außenbeauftragten Federica Mogherini auf der Münchner Sicherheitskonferenz. Sie teilte den Politikern und Militärs mit, wie sehr die EU in der Welt bewundert werde. Wegen des Kampfes gegen den Klimawandel. Wegen der Verlässlichkeit der Institutionen und der Politik. Wegen des Eintretens für die Menschenrechte. Man glaubt es kaum: Das führende Brüsseler Personal tritt offensiv für die Verteidigung der EU ein. Es sind dieselben Kommissare, die während der Brexit-Kampagne in Großbritannien nicht einmal auf die schlimmsten „faked news“ der EU-Gegner reagieren wollten. Und auch das: Woche für Woche gehen in diversen Städten quer durch die Union mehr Bürger auf die Straße, um für die EU zu demonstrieren. Offenbar geht derzeit so etwas wie ein Ruck durch Europa. Seit 2008 befindet sich die Union im Krisenmodus. Die Finanzkrise, die Migrationskrise, der Austritt der Briten, der anti-europäische Populismus in diversen Mitgliedsländern, die offene Missachtung demokratischer und rechtsstaatlicher Prinzipien in anderen - das waren die Themen, mit denen die EU in den vergangenen Jahren von sich reden machte. Nicht, dass sie schon vom Tisch wären. Aber jetzt werden sie plötzlich anders betont: Die Währungsunion ist in der - aus den USA importierten - Finanzkrise in Turbulenzen geraten, aber nicht auseinandergebrochen. Der größte Flüchtlingsansturm scheint überstanden - wenn auch durch ein fragiles Abkommen mit der Türkei. Und derzeit sieht es nicht so aus, als fände der Brexit Nachahmer. Im Gegenteil: Er scheint als abschreckendes Beispiel eher zum Zusammenhalt der Union der 27 beizutragen. Denn in Umfragen steigt die Zustimmung zur EU selbst in Staaten mit stark antieuropäischen Parteien. In den Niederlanden gewann der explizite EU-Gegner Geert Wilders zwar Sitze hinzu. Aber es waren weniger als erwartet. Dafür gehören ausgewiesen pro-europäische Parteien zu den Gewinnern der dortigen Parlamentswahlen. So positiv all das klingt, es wäre fatal anzunehmen, die krisengeschüttelte EU sei schon über den Berg. Leichtfertig, so zu tun, als sei das Risiko eines Auseinanderfallens bereits gebannt, als würde Europa zwangsläufig durch jede Krise nur stärker. Klar ist heute: Die europäische Integration hat nur dann eine Chance, wenn sie stärkeren und dauerhaften Rückhalt in der Bevölkerung erhält. Die Menschen in den Mitgliedstaaten müssen erkennen, dass die EU Vorteile hat - ihnen also den oft zitierten „europäischen Mehrwert“ bietet. Nur das macht sie resistent gegen Sirenengesänge für weniger Europa und mehr nationale Souveränität. Die EU-Kommission hat vor einem Monat ein Weißbuch mit verschiedenen Optionen für die Union vorgelegt. Sie reichen von einer Rückkehr zum bloßen Binnenmarkt, über ein Weiterdurchwursteln wie bislang, verschiedene Geschwindigkeiten in der Entwicklung der Union bis hin zu einem Integrationssprung nach vorne. Die gemeinsame Erklärung aller Staats- und Regierungschefs auf dem Geburtstagsgipfel Ende März in Rom formuliert eine Art Zukunftsplan für ein „sicheres“, ein „wohlhabendes“, ein „stärkeres“ und ein „soziales Europa“. Vor allem am letzten Punkt wird sich entscheiden, ob der Rückhalt der Menschen zwischen dem Schwarzen Meer und dem Atlantik (zurück-) gewonnen werden kann. Und er belegt, wie dick das Brett ist, das allein dabei zu bohren ist. Das lässt sich derzeit sehr gut an den Auseinandersetzungen in einem kleinen Sektor, dem Straßengüterverkehr beobachten. Hier gilt es einkommens- und sozialpolitische Differenzen zwischen Südost- und Nordwesteuropa in Einklang zu bringen, ohne das Reglement des Binnenmarktes zu verletzen. Im Straßengüterverkehr will die EU-Kommission das Brett bis Ende Mai gebohrt haben. Dann will sie ihre Straßeninitiative vorlegen. Noch ist nicht sicher, ob das funktioniert. Im weitaus größeren Spektrum - Rettung und Weiterentwicklung der EU - kommt es darauf an, wie ernst die Chefs der künftig 27 Mitgliedstaaten die Erklärung von Rom nehmen. Davon wird abhängen, was von dem Satz zu halten ist, der - vor zehn Jahren bereits formuliert - jetzt wieder oft zu lesen ist: „Wir Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union sind zu unserem Glück vereint.“ ■ Werner Balsen EU-Korrespondent der DVZ Deutsche Verkehrs-Zeitung B E R I C H T A U S B R Ü S S E L VON WERNER BALSEN Der Ruck durch Europa
