Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2017-0035
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2017
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Autonomes Rangieren auf der Bremischen Hafeneisenbahn
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Iven Krämerd
Frank Arendt
Der Betrieb im Bereich der Hafeneisenbahnen in deutschen und europäischen Häfen ist durch eine hohe Anzahl an Akteuren und einer fehlenden übergreifenden Planung und Optimierung aller komplexen Prozesse gekennzeichnet. Innovative Technologien und Geschäftsprozesse sind geeignet, wichtige Schritte auf dem Weg zum Ziel einer Gesamtoptimierung zu leisten.
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Internationales Verkehrswesen (69) 2 | 2017 26 LOGISTIK Prozessautomatisierung Autonomes Rangieren auf der Bremischen Hafeneisenbahn Innovationen auf der letzten Meile im Bahnverkehr Letzte Meile, Schienengüterverkehr, Digitalisierung, Automatisierung Der Betrieb im Bereich der Hafeneisenbahnen in deutschen und europäischen Häfen ist durch eine hohe Anzahl an Akteuren und einer fehlenden übergreifenden Planung und Optimierung aller komplexen Prozesse gekennzeichnet. Innovative Technologien und Geschäftsprozesse sind geeignet, wichtige Schritte auf dem Weg zum Ziel einer Gesamtoptimierung zu leisten. Iven Krämer, Frank Arendt E in wesentlicher Teil der europäischen Schienengüterverkehre hat seinen Ursprung bzw. sein Ziel in einem See- oder Binnenhafen. Den Häfen selbst kommt damit für das System Schiene und die hier dringend erforderliche Innovationsorientierung eine deutlich größere Rolle als die der reinen Schnittstelle von See- und Landtransporten zu. Gerade den Häfen mit eigener Bahn-Infrastruktur fällt hier eine besondere Verantwortung zu. Insofern besteht die Zielrichtung der Bremischen Hafeneisenbahn, die bereits jetzt einen europaweit führenden Bahnanteil im Modal-Split aufweist, darin, die Möglichkeiten der Digitalisierung umfassend aufzugreifen. Wesentliche Schritte dafür liegen in der Optimierung und stufenweisen Automatisierung der bahnbetrieblichen Prozesse auf der letzten Meile einschließlich der notwendigen modernen und transparenten IT-Systeme bis hin zur Gestaltung autonomer Rangierprozesse. Hierfür wurde gemeinsam mit mehreren Partnern aus der Industrie, dem Verband deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) und verschiedenen Forschungseinrichtungen beim Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur ein Projektantrag im Rahmen eines Programms zur Förderung Innovativer Hafentechnologien (IHATEC) eingereicht. Die grundlegenden Überlegungen für einen autonomen Rangierbetrieb werden nachfolgend skizziert. Ausgangslage - „Seit Jahrzehnten bewährter Bahnbetrieb“ Allgemein bekannt und zugleich erschreckend ist, dass der Bahntransport trotz seiner positiven Umweltwirkung über die vergangenen Jahrzehnte vergleichsweise wenig innovationsorientiert war. Deutlich wird dies aus der Hafenperspektive darin, dass ein Seeschiff mit einer Transportkapazität von heute bis zu 22 000 Containern nur wenige Minuten nach dem Anlegen im Hafen bereits be- und entladen wird. Ähnlich verhält es sich im Hinterlandverkehr mit LKW oder auch mit dem Binnenschiff. In diesen Fällen sind die hafenbetrieblich-logistischen Prozesse grundsätzlich so gestaltet, dass zwischen der Ankunft im Terminal und der Be- und Entladung der Waren keine Leerläufe und unnötige Wartezeiten entstehen. Um dies zu ermöglichen, erfolgte - maßgeblich getrieben durch die Terminalbetreiber - kontinuierlich eine Anpassung von Technologien und Prozessen. Anders verhält es sich leider im Bahnverkehr, denn hier wird auf einen „seit Jahrzehnten bewährten Bahnbetrieb“ gesetzt. Konkret bedeutet dies, dass nach der Einfahrt eines Zuges in das Hafengebiet bzw. analog dazu auch in ein Inlandterminal zunächst die Streckenlok vom Zug getrennt wird. Danach erfolgt der Transport der Züge bzw. Waggons per Rangierlok zu den Terminals, in denen zunächst Kontrollarbeiten am Zug und an der Ladung erforderlich werden. In der Konsequenz erfolgen die ersten Ladungsbewegungen an einem Güterzug erst Stunden nach der Ankunft im Hafengebiet. Ähnlich verhält es sich nach Abschluss der Ladearbeiten. Züge mit Importwaren benötigen durch die vorgeschriebenen Bremsproben, durch Ladungskontrollen und Rangierarbeiten im Mittel etwa zwei Stunden, bevor sie das Hafengebiet zu ihren Zielorten im europäischen und im nationalen Güterverkehr verlassen können. Das bedeutet, dass die Schiene im Operation auf der letzten Meile deutlich benachteiligt ist - und dies in erster Linie durch bahnbetriebliche Regelungen und Vorschriften. Im kombinierten Verkehr auf den europäischen Güterverkehrskorridoren ließe sich folglich allein durch eine Optimierung des Bahnbetriebs auf der letzten Meile mindestens 20 % Produktivitätssteigerung erzielen. Der Handlungsbedarf ist offenkundig, und es erscheint geradezu fahrlässig, dass viele der bisherigen Bahn-Innovationsvorstöße erfolglos geblieben sind. So sind automatische Kupplungen, automatische Bremsproben, Fernsteuerungen von Zügen, automatisierte Ladungskontrollen, Hindernisdetektionen und viele weitere bahntechnische Optimierungen längst technisch möglich bzw. erprobt. Sie konnten sich, von Einzellösungen abgesehen, am Markt bislang aber u. a. wegen aufwändiger Zulassungsprozesse nicht etablieren, so dass die Schiene ohne eine klare Hinwendung zu technischen Innovationen und digitalen Prozessoptimierungen im Verkehrsträgervergleich weiter zurückzufallen droht. Beispiel Hafenbahnbetrieb in-Bremerhaven Das diskriminierungsfrei zugängliche Hafen-Eisenbahnnetz in Bremerhaven ist Teil des öffentlichen Infrastrukturunternehmens Bremische Hafeneisenbahn. Es gehört zur Freien Hansestadt Bremen, die sich mit ihren betrieblichen und technischen Dienstleistern um die Infrastruktur kümmert. Auf den Gleisen der Bremischen Hafeneisenbahn verkehren inzwischen regelmäßig über 30 europäische Eisenbahnverkehrsunternehmen, weitere 50 verfügen über entsprechende Nutzungsverträge. Diese Unternehmen verbinden die Bremischen Häfen mit den Zielen und Ursprungsorten im nationalen und europäischen Hinterlandverkehr. Internationales Verkehrswesen (69) 2 | 2017 27 Prozessautomatisierung LOGISTIK Zum Status quo übernehmen mehrere im Wettbewerb zueinander stehende Rangierdienstleister die Aufgabe, die Züge bzw. Waggons, die in Bremerhaven vorwiegend mit Automobilen und Containern beladen sind, von den Einfahrtsgleisen zu den Umschlagterminals und umgekehrt zu transportieren. Sie übernehmen diese Dienstleistung im Auftrag der jeweiligen Eisenbahnverkehrsunternehmen, die wiederum dafür Sorge tragen, dass die elektrisch betriebenen Streckenlokomotiven mit den jeweiligen Lokführern für die Ein- und Ausfahrt aus dem Hafengebiet rechtzeitig zur Verfügung stehen. Aktuell werden am Standort Bremerhaven an 360 Tagen des Jahres im 24/ 7-System insgesamt 13 Rangierlokomotiven unterschiedlicher Bauart und unterschiedlichen Alters, vollständig auf Dieselbasis, betrieben. Zum Betrieb einer Rangierlok sind jeweils der Lokführer und ein Rangiermitarbeiter notwendig. Die Einsatzplanung erfolgt über die ebenfalls vor Ort mit Büroarbeitsplätzen ansässigen Disponenten der entsprechenden Rangierunternehmen. Der eigentliche Fahr- und Rangierbetrieb erfolgt nach den Vorgaben der Betriebsführung der Bremischen Hafeneisenbahn, wobei die dortigen Disponenten die entsprechende Gleisnutzung vorgeben und die Fahrdienstleiter auf den Stellwerken die Fahrtstrecken festlegen und freigeben. Die Umschlagbetriebe definieren mit dem Be- und Entladen der Waggons letzlich den Gesamttakt für die Zugbewegungen. Grundsätzlich folgen in Bremerhaven die Lade- und Löschprozesse sowohl im Containerals auch im Automobilverkehr zuvor definierten Slotzeiten. Die tatsächlichen Abläufe berücksichtigen darüber hinaus die jeweiligen Ladezustände der Waggons, so dass möglichst keine Leerläufe und Wartezeiten entstehen. Eine unmittelbare vertragliche Beziehung zwischen den Terminals, der Hafenbahn-Betriebsführung und den Rangierdienstleistern besteht nicht, so dass der Kommunikation und Abstimmung der Beteiligten untereinander eine besondere Rolle zukommt. Im Zuge dieser Kommunikation wurde und wird auch gemeinsam über weitergehende Optimierungen des Bahnbetriebes nachgedacht und man hat sich auf die langfristige Zielrichtung eines autonomen Rangierbetriebes verständigt, z. B. auch um dem wachsenden Nachwuchsproblem bei Lokführern Rechnung zu tragen. Zielstellung des autonomen Rangierbetriebes (Rang-E 4.0) Ein vollständig autonomer Rangierbetrieb ist dabei als Langfristperspektive zu bewerten, der viele Zwischenschritte der Prozessautomatisierung und auch die Schaffung entsprechender infrastruktureller und rechtlicher Voraussetzungen vorausgehen müssen. Ein maßgeblicher Zwischenschritt wird die Einführung eines zentral ferngesteuerten Rangierbetriebes sein, der bei einem aktiven Engagement aller am Bahnprozess Beteiligten bereits im kommenden Jahrzehnt möglich ist. Die grundlegende Überlegung besteht darin, den Gesamtprozess des Hafeneisenbahn-Rangierbetriebes autonom zu gestalten. Im Ergebnis würden weniger Lokomotiven als bisher am Standort zum Einsatz kommen. Die elektrisch betriebenen autonomen Rangierlokomotiven Rang-E 4.0 würden die heute wegen mangelnder Abstimmung und Optimierung üblichen Leerfahrten nahezu vollständig vermeiden. Sie würden die Fahrtaufträge aufgrund einer vollständigen Vernetzung bzw. optimierter IT-Schnittstellen mit den Terminalbetrieben und mit der Hafeneisenbahn-Betriebsführung sowie gegebenenfalls auch mit der DB Netz AG und den Eisenbahnverkehrsunternehmen stets vorausschauend und kapazitätsoptimiert durchführen und so zu einer Prozessoptimierung im Schienengüterverkehr beitragen. Konzepte aus aktuellen Innovationsfeldern wie Industrie 4.0, Internet der Dinge, Digitalisierung im Hafen und Selbststeuerung logistischer Einheiten finden hier ein praxisbezogenes Anwendungsfeld. Eine selbständig agierende Rangierlokomotive Rang-E 4.0 müsste über sämtliche Statusinformationen der Eisenbahninfrastrukturunternehmen wie der Bremischen Hafeneisenbahn, der Hafen-Terminals aber natürlich auch der DB Netz AG verfügen, so dass sie stets einen vollständigen Überblick über die betriebliche Situation hätte. Zugleich müsste über standardisierte IT- Schnittstellen ein kontinuierlicher Zugriff auf Informationen zu den jeweiligen Systemzuständen mit Planungen und Störungen, zu den Lade- und Löschzeiten in den Terminals, zu geplanten Slots, zu den tatsächlichen An- und Abfahrtzeiten der Züge, zur Verfügbarkeit der Lokführer etc. gesichert werden. Auf Basis dessen wäre die autonom operierende Rangierlokomotive Rang-E 4.0 in der Lage, stets zu wissen, welche Rangieraufträge als nächstes, übernächstes und überübernächstes zu erledigen wären, wodurch sich automatisch eine optimierte Nutzung von Fahrstraßen und eine optimierte Belegung von Gleisen (Infrastrukturoptimierung) ergäbe. Sie würde sich bzgl. der Aufträge mit den anderen Rangierlokomotiven abstimmen (z. B. im Sinne einer Auktion, wie sie zur Optimierung in selbststeuernden Systemen bereits eingesetzt wird), die notwendige Infrastruktur buchen und wäre im Störungsfall in der Lage, diesen weitgehend selbstständig im Verbund mit ihren „Kolleginnen“ aufzulösen. Im Vergleich zu den heute üblichen bahnbetrieblichen Abläufen im Hafengebiet bräuchte Rang-E 4.0 keine Pausen und würde emissionsfrei fahren. Selbstverständlich ist davon auszugehen, dass vor der Einführung eines solchen autonomen Rangierbetriebes auf der Bremischen Hafeneisenbahn eine Vielzahl betrieblicher, eisenbahnrechtlicher, unternehmerischer, finanzieller und organisatorischer Fragen zu klären wäre bzw. ist. Das Gebot der Stunde Wie bereits dargestellt, ist die Zielstellung eines vollständig autonom betriebenen Rangierbetriebes auf einer der bedeutendsten europäischen Hafeneisenbahnen (noch) eher symbolischer Natur, aber dennoch lassen sich mit dieser Perspektive erhebliche Effizienzgewinne mit der konkreten Verfolgung und Umsetzung von Zwischenschritten erreichen. Von besonderer Bedeutung sind dabei die Themenfelder der Funkfernsteuerung von Lokomotiven sowie Automatisierungen in den Bereichen der Bremsprobe, der Kupplung, der Zugabfertigung, der Kontrolle der Zugkonfiguration, der Zugschlusserkennung usw. In all diesen Bereichen gibt es technische Lösungen und zum Teil auch praktische Anwendungsfelder. Diese zum Wohle des gesamten Bahnsektors miteinander zu verbinden und zum gemeinsamen Durchbruch zu bringen, ist das Gebot der Stunde. Es gilt folglich, den im Eisenbahnsektor weit verbreiteten Ansatz des „Bewahrens des Bewährten“ aufzubrechen und zu einer klaren Innovationsorientierung zu gelangen, wie sie im Bereich des Straßengüterverkehrs vollkommen selbstverständlich ist. Wir arbeiten daran, die ersten Schritte auf dem Weg zur Realisierung dieser Vision im Land Bremen in Angriff zu nehmen. ■ Iven Krämer, Dr. Referat Hafenwirtschaft und Infrastruktur, Senator für Wirtschaft, Arbeit und Häfen, Bremen iven.krämer@wuh.bremen.de Frank Arendt, Prof. Dr. Wissenschaftlicher Geschäftsführer für Informationslogistik, Professor im Studiengang Integrated Safety and Security Management (ISSM), Leiter des Institute for Safety and Security Studies (ISaSS), Hochschule Bremerhaven arendt@isl.org
