eJournals Internationales Verkehrswesen 69/2

Internationales Verkehrswesen
iv
0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2017-0037
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2017
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Luftfracht der Zukunft

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2017
Marie-Louise Seifert
Andreas Schmidt
Korbinian Leitner
Neue Anforderungen an das internationale Versandwesen sorgen besonders in der Luftfracht für veränderte Logistikkonzepte. Die Komplexität einer klassischen Luftfrachtkette wird durch digitale und automatisierte Prozessabwicklung reduziert und es entstehen neue Formen der Kooperation unter den beteiligten Akteuren. Klassische Luftfracht-Carrier suchen verstärkt den direkten Anschluss an die Produktion. Parallel dazu erweitern Luftfrachtspediteure ihr Dienstleistungsportfolio und bieten zunehmend integrierte Logistikleistungen an.
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Internationales Verkehrswesen (69) 2 | 2017 33 Strategie LOGISTIK Luftfracht der Zukunft Neue Modelle integrierter Logistikketten am Beispiel des-Flughafens München Luftfracht, Logistikkette, Versand, Integrator, Air Cargo, Flughafen München Neue Anforderungen an das internationale Versandwesen sorgen besonders in der Luftfracht für veränderte Logistikkonzepte. Die Komplexität einer klassischen Luftfrachtkette wird durch digitale und automatisierte Prozessabwicklung reduziert und es entstehen neue Formen der Kooperation unter den beteiligten Akteuren. Klassische Luftfracht-Carrier suchen verstärkt den direkten Anschluss an die Produktion. Parallel dazu erweitern Luftfrachtspediteure ihr Dienstleistungsportfolio und bieten zunehmend integrierte Logistikleistungen an. Marie-Louise Seifert, Andreas Schmidt, Korbinian Leitner E ffiziente und intelligente Verkehrs- und Logistikströme sind entscheidende Faktoren für die Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit von Industrie- und Wirtschaftsstandorten. Sie sind die Grundlage zur vernetzten Fertigung und der Vernetzung von Unternehmen auf nationaler und internationaler Ebene. Der Luftfrachtverkehr ermöglicht den Unternehmen die Bedienung und Erschließung neuer ausländischer Märkte und darüber hinaus das Agieren in weltweit geteilten Wertschöpfungsketten. Damit sichert sich insbesondere die deutsche Wirtschaft ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit. 1 Wert und Volumen Die Luftfracht und ihre Geschwindigkeit auf langen Distanzen spielen insbesondere im interkontinentalen Handel mit Amerika, Asien, Afrika, Australien und Neuseeland eine wichtige Rolle. 2 Typischer Weise ist der durchschnittliche Wert einer Luftfrachtsendung deutlich höher als bei anderen Verkehrsträgern, d. h. während das absolute Luftfrachtvolumen im Vergleich relativ gering ausfällt, ist der per Luftfracht transportierte Warenwert besonders hoch. Bild 1 stellt die gehandelte Warenmenge Deutschlands dem Warenwert gegenüber. Dargestellt sind deutsche Importe und Exporte des so genannten „Extrahandels“ mit Ländern außerhalb der Europäischen Union. 3 Ökonomische Bedeutung Das globale Luftfrachtaufkommen, gemessen in Frachttonnenkilometer (FTK), ist in den vergangenen Jahren stetig gestiegen. Die anhaltende Globalisierung wird dieses Wachstum weiter fortsetzen. Da der Transport per Luftfracht in der Regel unmittelbar und ohne längere Warte- und Lagerzeiten erfolgt, eignet sich das globale Luftfrachtaufkommen auch als Indikator für die gesamtwirtschaftliche konjunkturelle Entwicklung weltweit. Sie geht der allgemeinen Entwicklung im Welthandel voraus und kann damit als Frühindikator interpretiert werden. 4 Bild 2 zeigt die Korrelation der beiden Wachstumspfade. 5 Zusammensetzung der Luftfrachtkette Der Lufttransport kann in Form einer Transportkette dargestellt werden. Je nach Anforderung an den Versand stehen zwei verschiedene Transportdienstleister zur Verfügung. Wählt man den ‚klassischen Luftfrachtspediteur‘, nimmt die Ware ihren Weg entlang der ‚klassischen Luftfrachtkette‘. Hierbei wirken viele einzelne Akteure zusammen, um den Warentransport insgesamt abzuwickeln (vgl. Bild 3). Sie setzt sich idealtypisch zusammen aus Absender, Versandspediteur, Airline, Empfangsspediteur und Empfänger, wobei Versand- und Empfangsspediteur zwei Niederlassungen ein und derselben Firma sein können. Die klassische Luftfrachtkette ist damit von einer Vielzahl an Schnittstellen gekennzeichnet, an denen die Ware umgeschlagen, d. h. übergeben wird. Allerdings transportiert der klassische Luftfrachtspediteur nahezu jede Art und Form von Gütern und Warengruppen. Dagegen bildet der so genannte ‚Integrator‘ die gesamte Transportkette in eigener Regie ab, d. h. die einzelnen Schritte werden „aus einer Hand“ heraus ohne Beteiligung Dritter erbracht. Ein Integrator transportiert auf diese Weise größten Teils standardisierte Sendungen normierter Größenordnung und Gewichtsklassen. Beispielsweise ist das maximal zulässige Gewicht auf 31,5- kg begrenzt. Der Vorteil ist, dass der Transportablauf dieser kleineren Frachtgüter in den Logistikzentren hoch automatisiert über Paketbänder erfolgen kann. Da- 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 Menge Import Wert Import Menge Export Wert Export 99,3 71,1 94,7 75,5 0,7 28,9 5,3 24,5 Luftfracht sonstige Verkehrsträger Bild 1: Im- und Exporte Deutschlands aus Übersee Internationales Verkehrswesen (69) 2 | 2017 34 LOGISTIK Strategie durch spart der Integrator Kosten und erzielt einen größerern Durchlauf. 6 Nicht alle Waren und Produkte, die per Luftfracht versendet werden sollen, entsprechen allerdings den Standards dieses Leistungsportfolios. Erweiterte Anforderungen Beide Formen der Transportdienstleistung waren bisher mehr oder weniger in „friedlicher Koexistenz“ vorzufinden. Der Wettbewerbsdruck am Luftfrachtmarkt hat in den letzten Jahren jedoch spürbar zugenommen, was sich u. a. an der Höhe der Margen im Versand ablesen lässt. Insbesondere haben die Anforderungen seitens der Versender in Form erhöhter Flexibilität, Zuverlässigkeit und Transparenz in der Lieferkette zugenommen. Besonderes Augenmerk legen die Kunden etwa auf standardisierte Verfahren des ,tracking & tracing‘, um ihre Sendung nachverfolgen zu können. Hinzu kommen Mehrwertdienste zum Versand, beispielsweise Lagerhaltung, Kommissionierung der Waren und Verpackung, die an die spezifischen Wünsche und Bedürfnisse der Kunden angepasst werden. Dies hat, vereinfacht gesagt, dazu geführt, dass der klassische Luftfrachtspediteur sein Portfolio in Richtung Integrator erweitert und u. a. standardisierte Transportverfahren anbietet. Umgekehrt versuchen Integrator zunehmend auch komplexere Transporte darzustellen, die bisher überwiegend von Spediteuren abgewickelt worden sind. Neue Kooperationen Der beschriebene Wettbewerbsdruck führt zu einer strukturellen Veränderung in der Luftfrachtbranche. Beispielsweise kooperieren zunehmend Luftfracht-Carrier mit Versendern, um die Standorte eines Unternehmens direkt zu versorgen. In der Branche spricht man von ‚Werkversorgungsflügen‘, die von Spediteuren oder so genannten ‚Charterbrokern‘ gehandled werden. Direkte Transporte werden von Unternehmen auch deshalb organisiert, um Waren zuverlässig und zum richtigen Zeitpunkt am Markt platzieren zu können. Vorreiter dieser Entwicklung sind Unternehmen aus der Textilbranche, der High-Techals auch der Automobilindustrie. Diese Entwicklung geht in manchen Bereichen sogar noch einen Schritt weiter: Erste Unternehmen integrieren die gesamte Versandlogistik inklusive des Lufttransports zurück ins eigene Haus. So hat beispielsweise der Online-Versandhändler Amazon in den USA bereits eigene Transportflugzeuge angeschafft, um zeitnah die Versandware in den lokalen Distributionszentren für die Auslieferung bereitzustellen. Hierbei sind direkte Kooperationen mit den Luftfracht-Carriern denkbar, sollten eigene Kapazitäten nicht ausreichen. Integrierte Luftfrachtkette Die Rückführung von Logistikprozessen in die hauseigene Distribution ist ein Beispiel der integrierten Luftfrachtkette. Alternativ können die bisher separat an der Luftfrachtkette beteiligten Akteure ihre (Teil-) Prozesse zusammenführen und dem Kunden einen einzigen, geschlossenen und durchgehend nachverfolgbaren Versandprozess anbieten. Die Entwicklung einer zunehmend integrierten Luftfrachtkette wird von weiteren Faktoren getrieben. Neben neuen Standorten und zusätzlicher Abfertigungskapazitäten kommen neue Flugzeugtypen zum Einsatz. Darüber hinaus wächst das Bewusstsein aller Akteure der Luftfracht, dass die Vernetzung und Verwendung einheitlicher Standards bei Systemen und Infrastruktur entscheidend sind für den kommerziellen Erfolg der Branche. Neue Standorte Für den schnellen und direkten Transport wird die Luftfracht zunehmend dezentral versendet. Während in Deutschland bisher der Flughafen Frankfurt der zentrale Standort in der Luftfracht war, werden Transporte nun auf weitere Gateways verlagert. Diese ‚Evolution‘ lässt sich konkret anhand der Luftfrachtentwicklung am Flughafen München erkennen. Wie Bild 4 zeigt, hat sie sich im Vergleich zu Frankfurt überdurchschnittlich positiv entwickelt. 7 Neue Abfertigungskapazitäten Seit den 2000er Jahren haben deutsche Verkehrsflughäfen massiv in die Erweiterung ihrer Abfertigungskapazitäten für Luftfracht investiert. Insbesondere sind der Neubau der ‚Cargo City Süd‘ in Frankfurt und die großflächige Erweiterung des Cargo-Terminals am Flughafen München hervorzuheben. Neues Gateway München Der Standort München hat die Entwicklungen in der Luftfracht vorausschauend erkannt und das Air Cargo Center entsprechend erweitert. Im Rahmen der Planungen wurde besonders auf kurze Wege zur schnellen Frachtabfertigung geachtet. Damit kann die Fracht zwischen dem Lager des Spediteurs und der Abfertigungshalle der Fluggesellschaft direkt umgeschlagen werden. Es entfallen aufwendige Zwischentransporte mit LKWs. Damit verringert sich auch das Risiko von Beschädigungen und Verspätungen. 8 Ein weiterer Vorteil am Standort München ist die Vielzahl an Interkontinentalverbindungen. Bild 2: Entwicklung des Luftfrachtaufkommens (rot) versus Entwicklung des Welthandels Transport Abgangsflughafen Abgangsort Zielort Empfangsflughafen Bild 3: Akteure der klassischen Luftfrachtkette (eigene Darstellung) Internationales Verkehrswesen (69) 2 | 2017 35 Strategie LOGISTIK Neue Flugzeugmuster Luftfracht kann sowohl in reinen Frachtfliegern als auch als Beiladung auf Passagierflugzeugen transportiert werden. Die Beiladung im ‚lowerdeck‘ der Maschinen wird im Fachjargon auch als ,belly-load‘ bezeichnet. Die Größe und Traglast des Frachtraums in Passagierflugzeugen ist mit Einführung neuer Flugzeugmuster zunehmend größer geworden. 9 Während alte Flugzeuge wie die Boeing 757-200 bzw. 767-300 eine maximale Zuladung von durchschnittlich 4 bzw. 11- t hatten, können die heute eingesetzten Maschinen, wie die Boeing 777-300 und 787- 800, eine Zuladung von bis zu 19 t erreichen (vgl. Bild 5). Die erweiterten Kapazitäten zur Frachtbeiladung führen dazu, dass Luftfracht in größeren Mengen auf immer mehr direkten und regelmäßigen Verbindungen mittransportiert werden kann, gänzlich unabhängig vom Angebot reiner Frachtflieger. 10 In München werden nahezu 80 % der verflogenen Fracht in den Bäuchen von Passagierflugzeugen verladen. Dies generiert zusätzliche Erträge von etwa 15 % auf den angebotenen Flugverbindungen. Neue Hubs Im Zuge neuer Formen der Zusammenarbeit schließen sich Spediteure zu Einkaufsgemeinschaften zusammen und kaufen beispielsweise Warenumschlagskapazitäten bei Lagerbetreibern an den Flughäfen ein, die gemeinsam genutzt werden. Am Standort München etablieren zudem immer mehr Speditionsunternehmen so genannte „Consolhubs“, die als solche bisher nur in Frankfurt betrieben wurden. Sie dienen als zentrale Sammelstelle bei der Zusammenführung von unterschiedlichen Luftfrachtsendungen aus Süddeutschland und den angrenzenden Nachbarländern wie Italien und Österreich. Fazit Neue Anforderungen an das internationale Versandwesen sorgen für strukturelle Veränderungen im Luftfrachtmarkt und generieren neue Formen der Kooperation zwischen den beteiligten Akteuren an der Luftfrachtkette. Effiziente Handlingsprozesse und die regelmäßig zur Verfügung stehenden Frachtkapazitäten auf Interkontinentalverbindungen etablieren den Air Cargo Hub München weiter als zweites Fracht- Gateway in Deutschland. ■ 1 Pompl, Wilhelm (2006): Luftverkehr: Eine ökonomische und politische Einführung. Springer Verlag. 2 Statistisches Bundesamt (2016): Außenhandel, zusammenfassende Übersichten für den Außenhandel, Fachserie 7, Reihe 1; Bundesverband der deutschen Luftverkehrswirtschaft (2016): Report Luftfahrt und Wirtschaft, www.bdl. aero. 3 Waren, wie beispielsweise Erdgas, die per Rohrleitung transportiert werden, sind nicht berücksichtigt. 4 Jansen, Jean-Peter (2002): Die zukünftige Entwicklung der Luftfracht in Neuntes Kolloquium Luftverkehr an der Technischen Universität Darmstadt, Herausgeber: Arbeitskreis Luftverkehr der Technischen Universität Darmstadt, Darmstadt 2002. 5 IATA (2017) und IATA, Annual Review 2016, www.iata.org. 6 Cossel, von, Johannes (2011): Analyse der zeitlichen Konnektivität von Luftfrachtgesellschaften. Reihe Arbeitspapiere Güterverkehr und Logistik, Nr. 5, Herausgeber: Institut für Wirtschaftspolitik und Wirt-schaftsforschung (IWW). 7 Eigene Angaben der Flughäfen Frankfurt und München. 8 Paffenberger, Ulrich (2015) Der Fracht wachsen Flügel, in: Wirtschaft - Das IHK-Magazin für München und Oberbayern (02/ 2015). 9 Noß, Martina und Wenzel, Daniel (2015): Luftfracht(er) markt - Einschätzungen und Prognosen, in: Nord/ LB: Sector Research: „Aviation Special Cargo“ vom 8. Juli 2015. 10 Lufthansa Cargo: (o. J.): “Networking the world”; Flughafen München Andreas Schmidt, Fachbetreuer Luftfracht, Industrie- und Handelskammer für München und Oberbayern, München, schmidt@muenchen.ihk.de Korbinian Leitner, Dr. Referatsleiter Verkehrsinfrastruktur und Logistik, Industrie- und Handelskammer für München und Oberbayern, München leitner@muenchen.ihk.de Marie-Louise Seifert, Referentin für Luftverkehr und Logistik, Industrie- und Handelskammer für München und Oberbayern, München marie-louise.seifert@muenchen.ihk.de 0 4 8 12 16 20 B 757-200 (Inbetriebnahme 1983) B 767-300 (Inbetriebnahme 1983) B 777-300 (Inbetriebnahme 2004) B 787-800 (Inbetriebnahme 2011) in Tonnen durchschnittliche Ladekapazität in Tonnen 80 100 120 140 160 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 Flughafen München Flughafen Frankfurt Bild 5: Durchschnittliche Ladekapazität verschiedener Flugzeugmodelle Bild 4: Indexvergleich der Frachtentwicklung an den Flughäfen Frankfurt und München