Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2017-0041
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2017
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Güter auf die Bahn?
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2017
Dirk Engelhardt
Die verkehrspolitische Diskussion im Warentransport kreist seit Jahrzehnten um den Slogan „Güter gehören auf die Bahn“. Aber warum eigentlich? Betrachtungen über den Wettbewerb der Verkehrsträger im Warentransport von Prof. Dr. Dirk Engelhardt, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes Güterkraftverkehr Logistik und Entsorgung (BGL) e.V., Frankfurt am Main.
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Internationales Verkehrswesen (69) 2 | 2017 42 LOGISTIK Standpunkt Güter auf die Bahn? E igentlich gehören Güter ja nicht auf die Bahn, sondern zum Empfänger - und zwar in der richtigen Art, Menge, Beschaffenheit und natürlich rechtzeitig. Wenn dann auch noch der Preis stimmt, ist alles in Ordnung. Um diese Anforderungen erfüllt zu bekommen, stehen den Empfängern unterschiedliche Verkehrsträger zur Verfügung, die mit spezifischen systemimmanenten Vor- und Nachteilen behaftet sind. Diese werden in der verkehrspolitischen Diskussion jedoch oft vernachlässigt zugunsten einer Reduzierung auf den Preis als einzigen Grund für die Verkehrsmittelwahl. Vielfach ist der mantraartig wiederholte Satz zu hören, die eigentlich „auf die Bahn“ gehörenden Güter würden mit dem LKW transportiert, weil dieser zu billig sei. Deshalb wurden und werden iterativ Verteuerungen aller Art für den Straßengüterverkehr gefordert - sowohl direkte Kostenerhöhungen als auch indirekte z. B. über Gewichts- oder Längenbeschränkungen aller Art. Viele dieser Forderungen sind in den vergangenen Jahrzehnten auch tatsächlich umgesetzt worden. Inwieweit dieses „Drehen an der Preisschraube“ den gewünschten Effekt nach sich zog, zeigt eine nähere Betrachtung von Bild 1, in dem der Modal Split im Güterverkehr von 1950 bis 2016 in Deutschland dargestellt wird (die Daten für 2015 und 2016 sind z. T. noch vorläufiger Natur). Wir greifen hier auf die prozentualen Anteile auf der Basis „Tonnenkilometer“ zurück, da diese Kennziffer aufgrund der darin berücksichtigten Transportentfernung aussagekräftiger ist als die reine Tonnage - bei der reinen Tonnage-Betrachtung läge der Anteil des Straßengüterverkehrs seit der Nachwendezeit bei über 80 %. Wenn wirklich nur der Frachtpreis für die Verkehrsträgerwahl ausschlaggebend wäre, sollte sich die eine oder andere Delle nach Umsetzung der markantesten direkten oder indirekten Verteuerungen für den Straßengüterverkehr im Verlauf der LKW-Anteilskurve finden lassen. Beginnen wir mit der ab 01.12.1951 von 22 m auf 20 m reduzierten höchstzulässigen Lastzuglänge: Der Anteil des LKW stieg im Folgejahr von 21,0 % auf 22,5 % und 1953 sogar auf 26,3 %. Ab 01.05.1956 war der zweite LKW-Anhänger verboten. Der Anteil des LKW erhöhte sich im Folgejahr von 27,9 % auf 28,0 % und lag ab 1958 durchgängig oberhalb der 30 %-Marke. 1964 reagierte die damalige Deutsche Bundesbahn mit einer massiven Senkung ihrer Güterverkehrstarife um durchschnittlich rund ein Viertel auf den vermeintlichen Preiswettbewerb. Vermeintlich deswegen, weil die Tarife im Straßengüterverkehr bis 1993 grundsätzlich so ausgestaltet waren, dass der LKW seine Transportleistungen nicht billiger anbieten konnte als die Deutsche Bundesbahn. Dennoch erhöhte sich der Anteil des LKW 1965 gegenüber dem Vorjahr von 35,8 % auf 36,1 %. Ab dem 01.04.1999 wurde bis 2003 die fünfstufige Ökosteuer eingeführt. Dennoch lag 2003 der LKW-Anteil mit 70,5 % erstmals über der 70 %-Marke. Auch die Einführung der LKW-Maut in Deutschland zum 01.01.2005 korrespondierte nur kurzzeitig mit einem Rückgang des LKW-Anteils auf 69,4 % gegenüber 69,7 % aus dem Vorjahr. Die durchschnittlich 50 %-ige Erhöhung der LKW- Maut zum 01.01.2009 zog noch im selben Jahr einen LKW-Anteil von 71,2 % nach sich - neuer Rekord! Überlegungen, diese Verteuerungen seien nur nicht ausreichend dimensioniert gewesen, um sich auf den Modal Split durchzuschlagen, muss jedoch anhand des Beispiels „Schweiz“ eine Absage erteilt werden. Denn die dort 2001 eingeführte LSVA (Leistungsabhängige Schwerverkehrsabgabe) beträgt ein Mehrfaches der deutschen LKW-Maut. Trotzdem ist der Schienenanteil im Schweizer Güterverkehr nach Einführung der LSVA anstatt zu steigen, gesunken (siehe Bild 2). Bis einschließlich 2015 war der Schienenanteil im Schweizer Güterverkehr niedriger als vor Einführung der LSVA. Für den rein alpenquerenden Güterverkehr durch die Schweiz (siehe Bild 3) gilt dasselbe. Allerdings liegen hier schon die Zahlen für 2016 vor: Erstmals war im vergangen Jahr der Schienenanteil im alpenquerenden Verkehr durch die Schweiz höher als vor Einführung der LSVA. Aufgrund des zuvor Gesagten liegt es nahe, nichtmonetäre Ursachen für die Verkehrsträgerwahl in Betracht zu ziehen, die für den LKW sprechen. Stichwort Flexibilität: Man kann aus eisenbahnbetriebstechnischen Gründen nicht einfach schnell mal einen Zug von z. B. Süditalien nach Norddeutschland fahren. Abgesehen von dem dafür benötigten, doch recht beträchtlichen Ladungsaufkommen, müsste man in drei Ländern eine den zeitlichen Anforderungen der Kunden entsprechende Fahrplantrasse (so vorhanden) beantragen, wobei berücksichtigt werden muss, wie lang und schwer der Zug sein wird, was für eine Lok (Diesel oder Elektro/ Zugkraft/ Höchstgeschwindigkeit) benötigt wird, welche Wagen zum Einsatz kommen sollen (Geschwindigkeitsklassen), wie der konkrete Leitungsweg des Zuges aussieht (welche Grenzübergänge) - denn die vorhanden Strecken unterscheiden sich z. B. nach den auf ihnen Die verkehrspolitische Diskussion im Warentransport kreist seit Jahrzehnten um den Slogan „Güter gehören auf die Bahn“. Aber warum eigentlich? Betrachtungen über den Wettbewerb der Verkehrsträger im Warentransport von Prof. Dr. Dirk Engelhardt, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes Güterkraftverkehr Logistik und Entsorgung (BGL) e.V., Frankfurt am Main. Internationales Verkehrswesen (69) 2 | 2017 43 Standpunkt LOGISTIK maximal zugelassenen Achslasten, Geschwindigkeiten oder auch Lichtraumprofilen (maximale Höhe und Breite der Waggons und der auf ihnen befindlichen Ladung). Der Preis muss unabhängig davon natürlich auch noch stimmen. Ist dies alles bedacht, fährt der Zug jedoch noch lange nicht los. Der Zug muss von Rangierern und einer Rangierlok aus den richtigen Waggons (so vorhanden) zusammengestellt und die Waggons von einem Zugabfertiger bezettelt werden. Jeder Waggon hat in einem Zettelkasten einen sog. Laufzettel, auf dem Leitungsweg und Grenzübergang notiert sind, damit man unterwegs z. B. beim Umrangieren auch weiß, wohin die Ladung gehört. Ein Wagenmeister muss kontrollieren, dass Waggons und Ladung in Ordnung sind. Die Stellwerksbesatzung muss den Zug sicher vom Bahnhofsbereich auf das Streckengleis leiten. Unterwegs müssen jede Menge Fahrdienstleiter dem Zug auf ihrem jeweiligen Streckenabschnitt die Weichen und Signale stellen. Für die Hauptstrecke werden mehrere Lokführer benötigt, die nicht nur eine Zulassung für den betreffenden Lok-Typ haben, sondern auch für den jeweiligen Fahrtabschnitt „Streckenkenntnis“ nachweisen müssen, d. h. den betreffenden Abschnitt schon mehrfach unter Aufsicht gefahren sind, sowie die Landessprache beherrschen müssen, um die Kommunikation mit den Fahrdienstleitern sicherzustellen. An den Grenzübergängen wechselt im Normalfall nicht nur die Bahngesellschaft, sondern auch das Stromsystem und das Signalsystem, mittels dem Lok und Strecke miteinander kommunizieren; ohne Mehrsystemlok bedeutet dies einen zeitaufwändigen Lokwechsel, für den wieder Rangierpersonal benötigt wird. Außerdem erfolgt an den Landesgrenzen eine ebenfalls zeitaufwändige Übergabe und Kontrolle der Zugbegleitpapiere. Am Zielbahnhof angekommen, ist wieder eine Stellwerksbesatzung für die Einfahrt vom Streckengleis in den Bahnhofsbereich notwendig. Alles Weitere verläuft umgekehrt analog zum oben ausgeführten Procedere. Welche nichtmonetären Argumente sprechen noch für den LKW? Da wäre die Eigentümerstruktur: Während in 45 000 zumeist familiengeführten Unternehmen des Gewerblichen Güterkraftverkehrs ebenso viele Chefs mit ihren durchschnittlich 14 (! ) Mitarbeitern sich einer erdrückenden Konkurrenz aus den MOE-Staaten Mittel- und Osteuropas gegenübersehen, hat der Staatskonzern „Deutsche Bahn AG“ im Güterverkehr lediglich eine dreistellige Anzahl von Wettbewerbern zu fürchten. Da überrascht es nicht sonderlich, dass kürzlich auf einer Schienengüterverkehrsveranstaltung des Regionalverbandes „FrankfurtRheinMain“ im Beisein von Hessens Verkehrsminister Tarek Al-Wazir Vertreter der verladenden Wirtschaft bemängelten, bei neuen Projekten im Schienengüterverkehr sei der richtige Ansprechpartner im DB-Konzern kaum zu finden. Weiterhin spielen dem LKW und seiner Flexibilität der sog. Güterstruktureffekt mit immer kleiner werdenden Sendungsgrößen aufgrund der immer weiter sinkenden Fertigungstiefe, die Just-intime-Logistik mit ihren häufigen und oft erst kurzfristig angeforderten Lieferfrequenzen sowie der wachsende Onlinehandel in die Hände. Laut einer DHL-Prognose erwartet man dort für den Zeitraum von 2012 bis 2018 eine Verdoppelung der Päckchen pro Kopf von 12 auf 24. Die Massengutverkehrsträger Eisenbahn und Binnenschiff sind hier durch ihre Wegegebundenheit eindeutig im Nachteil. Dem kann nur der Kombinierte Verkehr abhelfen. In ihm verbinden sich die spezifischen Vorteile der verschiedenen Verkehrsträger: Bündelung großer Mengen über lange Entfernungen mit Bahn und Binnenschiff sowie flächendeckende Feinverteilung mit dem LKW. Das Fazit: Alle Verkehrsprognosen für die kommenden Jahre und Jahrzehnte verweisen auf einen Güterverkehr, der so stark ansteigt, dass man alle Verkehrsträger brauchen wird, um ihn bewältigen zu können. Deshalb ist unserer Ansicht nach geboten, gemeinsam über Lösungen zu diskutieren, wie die begrenzt vorhandenen Ressourcen an Zeit, Geld und Energie so eingesetzt werden können, dass jeder Verkehrsträger seine Vorzüge möglichst effizient zur Geltung bringen kann - alleine, oder in Kombination mit anderen Verkehrsträgern. ■ Aktualisiert: März 2017 Quellen: DIW, Berlin; ITP+Ralf Ratzenberger, München; Statistisches Bundesamt, Wiesbaden; Kraftfahrt-Bundesamt, Flensburg; TCI Röhling, Waldkirch und Berechnungen des BGL 0 100 200 300 400 500 600 700 1950 1952 1954 1956 1958 1960 1962 1964 1966 1968 1970 1972 1974 1976 1978 1980 1982 1984 1986 1988 1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 2010 2012 2014 2016 Milliarden Tonnenkilometer Transportleistung der Verkehrsträger im Bundesgebiet 1950-2016 Total Lkw Eisenbahn Binnenschiff Pipeline Flugzeug Aktualisiert: März 2017 Quelle: Bundesamt für Statistik, Neuchatel 42% 42% 40% 39% 40% 39% 40% 39% 39% 36% 37% 37% 36% 37% 38% 39% 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 Schweiz: Schienenanteil am gesamten Güterverkehr nach tkm 2000-2015 - Vor und nach der Einführung der LSVA anno 2001 - BGL/ Bul, aktualisiert am 27.03.2017 Quelle: Bundesamt für Verkehr, Bern 70% 66% 64% 64% 65% 65% 66% 64% 64% 61% 63% 64% 64% 66% 68% 69% 71% 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 Anteil an der transportierten Tonnage Schweiz: Schienenanteil nur Alpenquerender Güterverkehr 2000-2016 (Vor und nach der Einführung der LSVA anno 2001) Bild 3 Bild 2 Bild 1
