eJournals Internationales Verkehrswesen 69/2

Internationales Verkehrswesen
iv
0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2017-0051
41
2017
692

Digitale Lösungen für den Schienengüterverkehr von morgen

41
2017
Niko Davids
Die VTG führt einen neuen digitalen Dienst ein: Der Marktführer für Waggonvermietung und Schienenlogistik in Europa bietet seinen Kunden künftig für alle Wagen Standort- und Ereignisdaten, die Instandhaltungs- und Logistikprozesse schneller, reibungsloser und effizienter machen. Grundlage für den Dienst bildet ein Telematiksystem, das in den kommenden vier Jahren die gesamte europäische VTG-Wagenflotte vernetzen soll.
iv6920086
Internationales Verkehrswesen (69) 2 | 2017 86 Digitale Lösungen für den-Schienengüterverkehr von morgen VTG AG vernetzt ihre gesamte europäische Waggonflotte Digitalisierung, Telematik, Geofencing, Energy Harvesting Die VTG führt einen neuen digitalen Dienst ein: Der Marktführer für Waggonvermietung und Schienenlogistik in Europa bietet seinen Kunden künftig für alle Wagen Standort- und Ereignisdaten, die Instandhaltungs- und Logistikprozesse schneller, reibungsloser und effizienter machen. Grundlage für den Dienst bildet ein Telematiksystem, das in den kommenden vier Jahren die gesamte europäische VTG-Wagenflotte vernetzen soll. Niko Davids D ie Digitalisierung ist einer der wichtigsten globalen Trends unserer Zeit und Grundlage für einen enormen technologischen Wandel. Sie hat in vielen Branchen zu disruptiven Veränderungen geführt und komplett neue Geschäftsmodelle hervorgebracht - oder bestehende obsolet gemacht. Auch in der Logistik wird die digitale Transformation weitreichende Auswirkungen haben. Das zeigen die Versuche, die LKW- Hersteller im Bereich des Straßengüterverkehrs momentan unternehmen. So laufen Experimente zum sogenannten Platooning, also dem Fahren in einer vernetzten Kolonne, oder mit fahrerlosen LKW. Neben den etablierten Playern drängen seit einigen Jahren Start-Ups mit innovativen Angeboten auf den Markt, um die Logistik zu digitalisieren. Das Digitalisierungs-Potenzial ist besonders im Schienengüterverkehr groß, denn dort sind zum Teil noch jahrzehntealte Technologien zum Einsatz, darunter mechanische Kupplungen oder die analoge Dokumentation von Prozessen. Digitalisierung ist der entscheidende Schlüssel, um die Zukunftsfähigkeit der Schiene im Wettbewerb mit anderen Verkehrsträgern zu sichern und ihre Vorteile im Sinne der Gesell- Foto: VTG TECHNOLOGIE Vernetzung Internationales Verkehrswesen (69) 2 | 2017 87 Vernetzung TECHNOLOGIE schaft zu nutzen. Und die systemimmanenten Vorteile der Schiene sind beachtlich: So spart der Güterverkehr auf der Schiene im Vergleich zur Straße 80 % CO 2 -Emissionen pro Tonne und Kilometer. Zugleich entspricht das Ladevolumen eines einzigen Güterzugs dem von rund 30 bis 40 LKW - eine spürbare Entlastung für die Straßen. Den Waggons kommt bei der Digitalisierung eine zentrale Bedeutung zu: Sie sind integraler Bestandteil des Schienengüterverkehrs, und spätestens bei internationalen Transporten stellen sie die einzige Konstante im gesamten Prozess dar, während Infrastruktur und Traktion regelmäßig Systembrüchen unterliegen. Als erstes Unternehmen der Branche führt nun die VTG als Marktführer für Waggonvermietung in Europa flächendeckend den digitalen Güterwagen ein. Auf Grundlage einer Telematiktechnologie, die die gesamte europäische Flotte vernetzt, bietet das Unternehmen künftig den neuen Dienst VTG-Connect an. VTG-Connect: Intelligente Funktionen für mehr Effizienz in der Transportkette VTG-Connect bietet eine Reihe prozessoptimierender Funktionen und bringt mehr Transparenz in die Supply-Chain. Mithilfe einer Telematik-Box, dem VTG-Connector, können Nutzer auf Echtzeitinformationen der Waggons zugreifen und zum Beispiel jederzeit die aktuelle Position ihrer Wagen verfolgen. Damit lassen sich Ankunftszeiten und mögliche Verzögerungen exakt überwachen und vorhersagen. Der gesamte Streckenverlauf kann für jedes beliebige Zeitintervall abgefragt werden (Bild 1). Beim sogenannten Geofencing definieren Kunden individuelle geografische Zonen wie zum Beispiel Landesgrenzen oder Hafengebiete. Bei Wechsel der Wagen in eine andere Zone erhält der Anwender eine entsprechende Meldung, um zum Beispiel operative Vorbereitungen für das Be- oder Entladen treffen zu können oder Prozesse wie die Rechnungserstellung auszulösen. Eine Reihe von Alarmfunktionen informiert zudem umgehend bei bestimmten Transportereignissen wie Schockstößen oder längerem Stillstand. Anwender haben damit die Möglichkeit, Informationen zu Umläufen, Nutzungsintensität und Laufleistung auszuwerten und diese Kennzahlen zu nutzen, um die Wagendisposition zu optimieren und damit die Produktivität zu erhöhen sowie gleichzeitig Stillstands- und Umlaufzeiten zu verringern. VTG-Connect legt auch die Basis für eine vorausschauende Instandhaltung: Die Informationen zur genauen Laufleistung der Wagen können in Zukunft bei der Planung von Wartungsintervallen berücksichtigt werden, um diese dann anzusetzen, wenn sie tatsächlich erforderlich sind. VTG-Connector: Hardware-Grundlage für den neuen Dienst Die komplette Waggonflotte in Europa wird in den kommenden vier Jahren mit dem VTG-Connector ausgestattet - der Hardware, die den neuen Dienst ermöglicht. Die rund 30 x 9 x 5 cm große Box, entwickelt in Zusammenarbeit mit der Nexiot AG als Spin-off der ETH Zürich, ist nach IP67- Standard zertifiziert. Demnach ist das Gerät staubdicht und spritzwassergeschützt, so dass zum Beispiel Regen oder die Wagenreinigung keine Probleme verursachen. Stoß- und Schocksensoren zeichnen Erschütterungen im Bereich von +16 bis -16 g auf, ein weiterer Sensor erfasst die Umgebungstemperatur. Der VTG-Connector hat einen Temperatur-Betriebsbereich von -40 bis +85 °C. Bei tieferen Temperaturen wird die Funktion vorübergehend eingeschränkt, das Gerät nimmt aber keinen Schaden. Energy Harvesting für häufigere Taktung - und genauere Positionsbestimmung Zur Energiegewinnung verfügt der VTG- Connector über eine Solarzelle und ist damit für den autonomen Betrieb ausgerüstet. Nach dem Prinzip des Energy Harvesting erzeugt das Solarpanel genügend Energie, um einen leistungsstarken integrierten Lithium-Ionen-Akku zu laden. Sowohl das Erfassen der Position mithilfe des GPS-Empfängers als auch das Senden der Daten ist so deutlich häufiger möglich als bei bisherigen Diensten - im Zehn-Minuten-Intervall. Ist die Solarzelle verschmutzt oder defekt, hält der Akku bei leicht reduzierter Sendehäufigkeit noch mehrere Monate, sodass ausreichend Zeit für einen Reparatureinsatz verbleibt. Auch die dunkle Winterzeit in Nordeuropa ist dadurch überbrückbar. Positionsbestimmung per Satellit, Datenübertragung per Funk Die Positionsbestimmung erfolgt nicht nur per GPS, sondern auch mithilfe der Satellitensysteme Glonass und Galileo. Durch diese Kompatibilität ist der VTG-Connector optimal auf alle Ortungsaufgaben eingestellt. Steht kein Satellitensignal zur Verfügung, ermittelt das Gerät anhand der bekannten Standorte von Mobilfunkmasten eine ungefähre Position, die der exakten Lokalisierung nahe kommt. Die Genauigkeit ist dabei abhängig vom Abstand der Mobilfunkmasten zueinander. VTG-Connect umfasst eine Daten-Flatrate für alle europäischen Länder, mit der die Übertragung per GSM ermöglicht wird. Die Verbindung zu externen Geräten oder Sensoren stellt der VTG-Connector per Funk über WPAN IEEE 802.15.4 im 2,4-GHz-Frequenzband her. Über Funk besteht künftig auch die Möglichkeit, weitere Module anzubinden. Denkbar sind beispielsweise ein externer Sensor für die Temperaturüberwachung von Ladegütern oder ein Verschluss-Schalter. Der genannte Funkstandard ist ein unter Telematik-Herstellern im Rahmen der Industrieplattform Telematik und Sensorik im Schienengüterverkehr (ITSS) festgelegter Standard zur Kommunikation zwischen Sensoren und Telematik-Geräten, an dessen Entwicklung die VTG beteiligt ist. Der Vorteil: Sensoren eines Herstellers sollen mit Telematik-Geräten anderer Hersteller über Bild 1: Funktionsweise des Telematiksystems VTG-Connect Internationales Verkehrswesen (69) 2 | 2017 88 TECHNOLOGIE Vernetzung diesen Standard kommunizieren können, sodass zum Beispiel Nachrüstung und Austausch mit zugelassenen Sensoren jederzeit möglich sind. Darüber hinaus werden im Zuge der Telematik-Ausrüstung für die einfache Identifizierung der Wagen im Feld auch alle Waggons der europäischen Flotte mit QR-Code-Aufklebern und NFC-Chips ausgestattet. Die werden beispielsweise von kundenspezifischen Apps für Smartphones oder Tablets genutzt. Alle Daten des Dienstes laufen im Online-Portal der VTG zusammen und werden in Dashboards aufbereitet, sodass die relevanten Informationen schnell und übersichtlich verfügbar sind. Darüber hinaus ist eine Anbindung an kundeneigene Systeme möglich. Die gewonnenen Daten werden dabei ausschließlich verschlüsselt übertragen, Auswertung und Verarbeitung erfolgen nach höchsten Sicherheitsstandards in einem deutschen Rechenzentrum. Digitalisierung als Grundlage für die Zukunft der Schienenlogistik Der VTG-Connector bietet in der Grundausstattung alle zentralen Funktionen, die für Wagennutzer von Interesse sind. Sollten Kunden darüber hinaus Informationen zu einzelnen Parametern wünschen, kann die Basisversion durch zusätzliche Hardware- Lösungen erweitert und so an individuelle Nutzerbedürfnisse und konkrete Use-Cases angepasst werden. Denkbar ist zum Beispiel eine exakte Verwiegung von Waggons, die etwa für Holztransporte angefragt wird. Durch die Fokussierung auf die wichtigsten Funktionen lässt sich die Basisversion des Dienstes zu einem sehr attraktiven Preis anbieten. Das ist entscheidend für ein möglichst schneller Roll-out. In den kommenden vier Jahren werden die Wagen nicht nur im Rahmen regulärer Wartung und Instandhaltung dafür ausgerüstet, sondern auch durch gezielte Montage-Aktionen an einzelnen Knotenpunkten. Denn nur durch die flächendeckende Einführung des Dienstes und der entsprechend umfassenden Erhebung der Daten können Supply Chains und Instandhaltungssysteme nachhaltig verändert und verbessert werden. Dafür ist es wichtig, die gewonnenen Daten sinnvoll in den Logistikprozess der Kunden zu integrieren und nutzbar zu machen. VTG arbeitet in dem Zusammenhang mit verschiedenen Partnern an innovativen Lösungen, die in Zukunft neue Workflows ermöglichen könnten - zum Beispiel Augmented Reality-Anwendungen oder ein digitales Touch-Table, mit dem die Disposition einfacher und übersichtlicher wird. Mit VTG-Connect legt das Unternehmen also einen Grundstein für die Digitalisierung der Schienenlogistik. ■ NACHGEFRAGT Fünf Fragen an … Sven Wellbrock, Geschäftsführer VTG Rail Europe GmbH Herr Wellbrock, wie aufwändig ist die Vernetzung Ihrer Wagenflotte? Wir betreiben die größte privatwirtschaftliche Flotte in Europa. Bedenkt man zudem, dass sich die Waggons nicht an einem zentralen Ort befinden, sondern im Dienst unserer Kunden auf dem ganzen Kontinent unterwegs sind, kann man sich vorstellen, dass die Ausrüstung der Flotte mit dem VTG-Connector eine große Aufgabe ist. Was ist das Besondere an Ihrer Lösung? Mit VTG-Connect haben wir einige Hürden gemeistert, die der Digitalisierung bisher im Weg standen. Mit dem Solarmodul etwa werden wir der Tatsache gerecht, dass die Waggons nicht über eine Stromversorgung verfügen. Das Prinzip des Energy Harvesting, bei dem das Solarpanel einen integrierten Akku lädt, ermöglicht wesentlich häufigere Sende-Intervalle als die anderer Dienste. Auch den traditionell sehr langen Produktlebens- und Investitionszyklen der Branche - bei Güterwagen durchschnittlich mehrere Jahrzehnte - werden wir gerecht: Der VTG-Connector wird zwar am Waggon montiert, bleibt aber an sich eine unabhängige Einheit. Was uns besonders wichtig war: Wir wollten den Dienst zu so niedrigen Kosten wie möglich anbieten. Der Schienengüterverkehr ist sehr preissensibel. Welchen Stellenwert hat die Digitalisierung überhaupt für die Branche? Sie ist essentiell für die Zukunft des Schienengüterverkehrs. Die Daten, die wir unseren Kunden künftig zur Verfügung stellen können, bieten uns völlig neue Möglichkeiten: Durch eine optimierte Disposition beispielsweise kann die Auslastung der Waggons gesteigert und Leerzeiten reduziert werden. Zudem legen die Informationen zu Umlaufzeiten den Grundstein für eine vorausschauende Instandhaltung. Wir können künftig Wartungsintervalle viel genauer vorhersagen als bisher und dadurch Wagenteile austauschen, bevor ein Defekt eintritt. All das hilft uns dabei, die Schiene im Wettbewerb mit anderen Verkehrsträgern zu stärken. Wie verändert die Digitalisierung das Kräfteverhältnis zwischen Schiene und Straße? Digitalisierung bietet enormes Potenzial, die Schiene attraktiver zu machen und neue Services anzubieten. Im Bereich des Straßengüterverkehrs gehört digitales Flottenmanagement längst zum Alltag, Experimente zu automatisiertem Fahren und Platooning zeigen, in welche Richtung sich die Branche bewegt. Die Schiene muss dringend selbst aktiv werden, um sich nicht abhängen zu lassen. Mit VTG- Connect wollen wir dazu einen Beitrag leisten. Zudem arbeiten wir an einer Reihe weiterer Lösungen - immer basierend auf unserem Leitgedanken „make rail easy“. Und wie sieht der Schienengüterverkehr von morgen aus? Er wird in den nächsten Jahren erhebliche Anstrengungen unternehmen müssen, um seine Wettbewerbsposition im Vergleich zur Straße zu verbessern und in der Digitalisierung auf einen zukunftsfähigen Stand zu kommen. Im Gegenzug hat er die einmalige Chance, sich neu und nachhaltig in die europäische Supply- Chain zu integrieren. Denn kein anderer Verkehrsträger bietet solch gute Voraussetzungen, um mit modernen und in der Basis standardisierten Lösungen die logistischen Anforderungen der europäischen Wirtschaft und zugleich die realen Umweltprobleme des Transportsektors zu lösen. Damit das funktioniert, ist neben der Industrie allerdings auch die Politik gefragt, die die notwendigen Rahmenbedingungen für einen zukunftsfähigen Schienengüterverkehr schaffen muss. Niko Davids, Dr. Head of Innovations & Improvement, VTG Rail Europe GmbH, Hamburg niko.davids@vtg.com