eJournals Internationales Verkehrswesen 69/3

Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2017-0062
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2017
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Barrierefreier ÖPNV

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2017
Rainer Hamann
Sebastian Schulz
Das Personenbeförderungsgesetz (PBefG) macht Vorgaben für den Nahverkehrsplan und erwartet die vollständige Barrierefreiheit bis zum 01.01.2022. Die Umsetzung dieses Ziels und etwaige Abweichungen von der gesetzten Frist setzen eine realistische Maßnahmenplanung und zeitliche Vorgaben im Nahverkehrsplan (NVP) voraus. Oftmals fehlen den Aufgabenträgern verlässliche Datengrundlagen und Informationen, vor allem wenn sich die Haltestelleninfrastruktur nicht in eigener Baulastträgerschaft befindet. Wie gehen die Aufgabenträger damit um? Die Autoren berichten in Teil I des Beitrags über die Grundlagen und ihre Erfahrungen mit der Thematik. Teil II wird in der nächsten Ausgabe von Internationales Verkehrswesen konkrete Strategien zur systematischen Umsetzung behandeln.
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Internationales Verkehrswesen (69) 3 | 2017 18 INFRASTRUKTUR Barrierefreier ÖPNV Barrierefreier ÖPNV Teil I - Wege zur systematischen Umsetzung ÖPNV, Barrierefreiheit, Haltestellenkataster, Nahverkehrsplanung Das Personenbeförderungsgesetz (PBefG) macht Vorgaben für den Nahverkehrsplan und erwartet die vollständige Barrierefreiheit bis zum 01.01.2022. Die Umsetzung dieses Ziels und etwaige Abweichungen von der gesetzten Frist setzen eine realistische Maßnahmenplanung und zeitliche Vorgaben im Nahverkehrsplan (NVP) voraus. Oftmals fehlen den Aufgabenträgern verlässliche Datengrundlagen und Informationen, vor allem wenn sich die Haltestelleninfrastruktur nicht in eigener Baulastträgerschaft befindet. Wie gehen die Aufgabenträger damit um? Die Autoren berichten in Teil I des Beitrags über die Grundlagen und ihre Erfahrungen mit der Thematik. Teil II wird in der nächsten Ausgabe von Internationales Verkehrswesen konkrete Strategien zur systematischen Umsetzung behandeln. Rainer Hamann, Sebastian Schulz S chon frühzeitig, 1995 und 2001, hatte sich die Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen e.V. (FGSV) mit den im Arbeitskreis „Nahverkehrspläne“ erarbeiteten Arbeitspapieren 1 „Überlegungen zur Aufstellung von Nahverkehrsplänen„ und „Überlegungen zur Fortschreibung von Nahverkehrsplänen unter Berücksichtigung offener Fragen der Regionalisierung“ unter Beteiligung des Autors Hamann an die Aufgabenträger gewandt und dazu aufgefordert, die Belange behinderter Menschen im Nahverkehrsplan zu behandeln. Die Anfang der 90er Jahre entstandenen Nahverkehrspläne sollten sich aufgrund entsprechender Vorgaben in den Landes- ÖPNV-Gesetzen des Themas Barrierefreiheit annehmen. Vielfach blieb es bei allgemeinen Formulierungen und Zielvorstellungen, konkrete Maßnahmen oder gar zeitliche Umsetzungsvorgaben fehlten oft. Gesetzliche Vorgaben, Verbandspositionierungen Das seit 01.01.2013 geltende PBefG 2 hat in § 8, Abs. 3, die Umsetzung der Barrierefreiheit im ÖPNV präzisiert: „Der Nahverkehrsplan hat die Belange der in ihrer Mobilität oder sensorisch eingeschränkten Menschen mit dem Ziel zu berücksichtigen, für die Nutzung des öffentlichen Personennahverkehrs bis zum 1. Januar 2022 eine vollständige Barrierefreiheit zu erreichen. Die in Satz 3 genannte Frist gilt nicht, sofern in dem Nahverkehrsplan Ausnahmen konkret benannt und begründet werden. Im Nahverkehrsplan werden Aussagen über zeitliche Vorgaben und erforderliche Maßnahmen getroffen.“ Dies geschah sicherlich nicht zuletzt deshalb, weil • nach Inkrafttreten des Behindertengleichstellungsgesetzes (BGG) am 01.05.2002 3 (Forderung nach Herstellung von weitgehender Barrierefreiheit in den Bereichen Bau und Verkehr), und • nach Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention (vom 13.12.2006); in Deutschland durch das Zustimmungsgesetz vom 21.12.2008 am 26. März 2009 4, 5 • sowie nach eher schleppenden freiwilligen Umsetzungen seitens der mit dem ÖPNV Befassten sich nun der Gesetzgeber in der Pflicht sah, durch Vorgaben den Druck auf die Aufgabenträger, Baulastträger und Verkehrsunternehmen zu erhöhen. Umstritten ist seitdem die Auslegung dieser Vorgabe in Hinblick auf die Umsetzung. Die Aufgabenträger und kommunalen Baulastträger haben sich über ihre kommunalen Spitzenverbände positioniert und vertreten die Auffassung 6 : • „,Vollständige Barrierefreiheit zum 01.01.2022‘“ ist eine politische Zielbestimmung. • NVP haben keinen verbindlichen Rechtscharakter, und es gibt keinen subjektiven Anspruch auf die Umsetzung einzelner Maßnahmen. • Der Gesetzgeber hat mit der Zielbestimmung eines barrierefreien ÖPNV bis 2022 keine neuen technischen Anforderungen definiert: „Barrierefreiheit“ bleibt auch weiter ein Prozess der Annäherung an ein Ideal und ein Kompromiss zwischen den Bedürfnissen unterschiedlicher Gruppen von Menschen. Eine Freiheit von Hemmnissen für alle Formen von Behinderungen ist realistischerweise nicht zu erreichen. • Die Definition örtlicher Standards zur Barrierefreiheit auf Basis der allgemein anerkannten Regeln der Technik obliegt den Auf- Bild 1: Bushaltestelle, bereits überwiegend barrierefrei ausgebaut Bild: Hamann Internationales Verkehrswesen (69) 3 | 2017 19 Barrierefreier ÖPNV INFRASTRUKTUR gabenträgern in Abstimmung mit den Verkehrsunternehmen, Baulastträgern und den Verbänden, Beauftragten und Beiräten der Betroffenen. • Die Umsetzung der bei Aufstellung eines NVP erarbeiteten Maßnahmenprogramme zur Barrierefreiheit ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Sie kann nur im Zusammenspiel von Aufgabenträgern, Baulastträgern und Verkehrsunternehmen erreicht werden und steht unter dem Vorbehalt des seitens aller Beteiligten Möglichen und vernünftigerweise (finanziell, personell, organisatorisch) Leistbaren.“ In ihrem zitierten Papier werden die wesentlichen Aspekte eines barrierefreien ÖPNV benannt: • „die Haltestelleninfrastruktur, • die Gestaltung und Ausstattung der Fahrzeuge, • die Kommunikation mit den Kunden sowie • der Betrieb und die Unterhaltung der Anlagen. Nur in deren Zusammenspiel ist Barrierefreiheit im ÖPNV auf Basis des heutigen Standes der Technik sicher zu stellen.“ Hierzu wird weiterhin empfohlen, Prioritätensetzungen inkl. Kostenkalkulationen sowie Finanzierungsmöglichkeiten zu evaluieren. Anerkannt wird das Zwei-Sinne- Prinzip - bei wesentlichen Informationen und Orientierungshilfen müssen immer zwei der drei Sinne Hören, Sehen und Tasten angesprochen werden. Darauf aufbauend werden konkrete Vorschläge für die „Bestandsaufnahme und den Aufbau eines Haltestellenkatasters“, für die „Prioritätenbildung“ sowie für „Ausnahmen im Nahverkehrsplan“ und einen „Maßnahmenplan“ gemacht. Ausführliche Tipps zur „Beteiligung Betroffener und Zusammenspiel der Akteure“ sowie ein Kapitel zur „Finanzierung“ runden das Positionspapier ab. In der aktuellen ÖPNV-Planung werden vornehmlich diese Verbandspositionen als Orientierungs- und Interpretationshilfe herangezogen. Der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen hat sich in seinen VDV-Mitteilungen 7038 7 ebenfalls eingehend mit dem Thema befasst. Obwohl sich das PBefG „nicht unmittelbar an die Verkehrsunternehmen, sondern an die für die Aufstellung der Nahverkehrspläne (NVP) zuständigen Aufgabenträger richtet“, … „besteht aufseiten der Verkehrsunternehmen dennoch die Notwendigkeit einer Positionierung bezüglich der Auslegung und Umsetzungsmöglichkeiten bzw. -grenzen einer „vollständigen Barrierefreiheit“.“ ... Die Mitteilung dient als Argumentationshilfe für die Verkehrsunternehmen bei der Beteiligung am bzw. bei der Aufstellung des NVP.“ Offensichtlich setzen die Verbände nicht auf die in § 62 Abs. 2 PBefG 1 gegebene Öffnungsklausel für den Landesgesetzgeber, die eine Fristverlängerung oder dauerhafte Ausnahmen von Einzelmaßnahmen beschließen könnten, sondern empfehlen, Barrierefreiheit konstruktiv umzusetzen. Schließlich gibt es zur barrierefreien Ausgestaltung im Verkehr nicht erst seit gestern umfangreiche Literatur, technische Vorschriften wie die DIN oder Regelwerke der FGSV sowie zahlreiche Modellprojekte mit durchaus wegweisenden, vielfach neuen technisch umsetzbaren Entwicklungen. Viele Gebietskörperschaften berücksichtigen bei Neu- und Umbaumaßnahmen durchaus schon jahrelang die Vorgaben und Leitfäden zur Barrierefreiheit. Durch die unterschiedliche Handhabung des Themas je nach Aufgaben- und Baulastträger ist innerhalb der letzten Jahrzehnte jedoch ein bunter Mix verschiedenster Umsetzungsformen und Ausbauzustände entstanden (Bilder 1 bis 4). Einige Akteure waren frühzeitig aktiv, stehen heute jedoch vor dem Dilemma, mit ihrer de facto barrierefreien Infrastruktur nicht mehr den neuesten gültigen Standards zu entsprechen. Manche Gebietskörperschaften dagegen haben das Thema aus verschiedensten Gründen bisher nicht oder nur unzureichend betrachtet und stehen in Zeiten schwieriger Haushaltslagen vor allem vor einem Finanzierungsproblem. Dass die Formulierung von Ausnahmetatbeständen, die der Gesetzgeber als Hintertüre offen gelassen hat, nicht als „Persilschein“ zu verstehen ist, ist jedoch auch in der Fachwelt, bei den Verbänden und bei den handelnden Akteuren mittlerweile Konsens. Wie geht man aber nun vor Ort tatsächlich mit den (finanziellen) Gegebenheiten und den Anforderungen des PBefG um? Umsetzungsstrategien Hilfestellungen Einige Landesverkehrsministerien haben ihren Aufgabenträgern zur Umsetzung Vorgaben gemacht oder Handreichungen gegeben. So hat Schleswig-Holstein 2011 seiner „Landesverordnung über die Finanzierung des öffentlichen Personennahverkehrs mit Bussen und U-Bahnen“ die zu berücksichtigende Anlage beigefügt: „Checkliste zur Barrierefreiheit in regionalen Nahverkehrsplänen zur Orientierung der Aufgabenträger, der Behindertenverbände und der Genehmigungsbehörden“ einschließlich dem empfohlenen Anhang des von der FH Erfurt für das Land Thüringen 2010 verfassten „Checklisten zu Mindeststandards für barrierefreie Linienbusse, Stadtbushaltestellen, Regionalbushaltestellen“. Thüringen schreibt die ebengenannten, in ihrem Auftrag von der FH Erfurt erarbeiteten Check- Bild 3: Bushaltestelle mit dynamischer Fahrgastinformation, befestigt, aber nicht gänzlich barrierefrei ausgebaut Bild: Hamann Bild 2: Städtische Bushaltestelle, befestigt, aber nicht gänzlich barrierefrei ausgebaut Bild: Hamann Internationales Verkehrswesen (69) 3 | 2017 20 INFRASTRUKTUR Barrierefreier ÖPNV listen vor. Hamburg hat mit allen Beteiligten einen Leitfaden 8 erarbeitet. Trotz der vielen Handreichungen und guten praktischen Hinweisen herrscht dennoch vielerorts ein gewisses Maß an Hilf- und Ratlosigkeit. In Befragungen 9 wurden die Probleme und Hemmnisse der Gebietskörperschaften deutlich. Die meistgenannten sind: • Zu teuer: Es bedarf einer Bestandsaufnahme, eines Konzeptes und eines umsetzbaren Finanzierungsplans. Planung und Ausführung müssen finanziert werden. • Personell nicht leistbar: Das Personal für die nötigen Planungsaufgaben und deren Umsetzungsbetreuung steht nicht zur Verfügung. Da vielfach die Verkehrsunternehmen in der Praxis die Rolle und Haltung des Dienstleisters bzw. reinen Carriers einnehmen, verbleiben die Anforderungen bzw. Planungen von immobiler Infrastruktur bei den Straßenbaulastträgern. Einige Bundesländer, wie z. B. Hessen, fördern den barrierefreien Ausbau mit Millionenbeträgen. Die Fahrzeuge der Verkehrsunternehmen sind zumindest in (groß)städtischen Bedienungsgebieten nach heutigem Verständnis überwiegend barrierefrei, weil die Hersteller nur noch richtliniengerechte Fahrzeuge anbieten. Vor allem in ländlichen Bereichen werden aber - mindestens vielfach in den (Schüler-)Spitzenzeiten - Überlandbusse und auch Reisebusse eingesetzt, die z. B. keine stufenlosen Ein- und Ausgänge haben. In diesen Fällen helfen barrierefreie Haltestellen nach den aktuellen Regeln der Technik selbstverständlich nicht weiter. Die teils aus verschiedenen Fahrzeugtypen zusammengesetzten Fuhrparks der Verkehrsunternehmen mit der immobilen Infrastruktur im Sinne der Barrierefreiheit in Einklang zu bringen, bleibt mindestens eine Herausforderung, welche die Mitarbeit von Unternehmen und Dienstleistern an den vom jeweiligen Aufgabenträger geplanten Maßnahmen erfordert. Trotz aller nötigen Koordinierung sind die Aufgabenträger dazu verpflichtet, Standards und Prioritäten für den Haltestellenausbau festzulegen. Für die Bedarfsfeststellung und das Finanzierungsvolumen muss vorab eine Analyse des Bestands erfolgen, in der Regel ein sogenanntes Haltestellenkataster oder zumindest eine hinreichende Informationsbasis erstellt werden. Oft aus der Not geboren, drängt sich den Aufgabenträgern auch hierbei „der Weg des geringsten Widerstands“ auf, der vielfach gleichbedeutend mit einer Art Beschwerdemanagement ist („Umbau nur bei dringendem Bedarf“). Vielfach zwangsweise - wegen knapper kommunaler Mittel - ist die Erstellung und Vorhaltung einer Informationsbasis als Planungsgrundlage die Ultima Ratio. In den Landkreisen sind oft 80 bis 90 % der Haltestellen nicht barrierefrei (Bild 4). Erschwerend kommt hinzu, dass hier mehrere unterschiedliche Straßenbaulastträger für die Haltestellen zuständig sind und viele Gebietskörperschaften mit entscheiden wollen, welche Haltestellen auf ihrem Gebiet wie und mit welcher Priorität umgebaut werden sollen. Logisch, dass es daher oftmals heißt: „Barrierefreiheit bis 2022 ist nicht leistbar! “ Damit jedoch schwindet die (politische) Motivation, sich mit der Problematik eingehend zu beschäftigen. Aus praktischer Sicht scheint es dagegen angebracht, von anderer Seite an die Herausforderung heranzutreten: Büro Stadt- Verkehr etwa ermittelt - wo die Ein- und Aussteigerzahlen verfügbar sind - den prozentualen Anteil der Fahrgäste, die nach der Analyse über die Beschaffenheit der Haltestellen schon heute an barrierefreien Haltestellen ein- und aussteigen können. Trotz teils niedriger Umbauquoten sind dies nach ersten Berechnungen in verschiedenen Gebietskörperschaften erstaunlicherweise schon relativ viele Kunden. Wenn man darüber hinaus von den noch nicht barrierefreien Haltestellen die zu definierenden Ausnahmen abzieht, z. B. Haltestellen, die außerorts im Bankett am Straßenrand ohne Verbindung zum öffentlichen Fußwegenetz liegen, d.h. die unabhängig auszubauen schlicht sinnlos wäre, dann verbleibt in aller Regel ein recht übersichtlicher potenzieller Anteil barrierefrei auszubauender Haltestellen. Gemessen an den Ein- und Aussteigerzahlen kann auch hier wiederum mit geringen Mitteln ein hoher Wirkungsgrad erreicht werden. Erfahrungen aus verschiedenen Landkreisen haben gezeigt, dass schon bei drei bis fünf Umbaumaßnahmen bereits mehr als 50 % der Fahrgäste barrierefrei erreicht werden können und Hauptwegeketten dadurch sogar vollständig, sprich von Einstieg über Umstieg bis Ausstieg, barrierefrei werden. Diese oft in den Daten versteckten Potentiale herauszufiltern sollte Ziel jeder Maßnahmenplanung und Priorisierung sein. Haltestelle Prioritätensetzung für den Ausbau Über die o.g. Basis hinaus, hat die Bundesarbeitsgemeinschaft ÖPNV der Kommunalen Spitzenverbände grundsätzliche Vorschläge zur Prioritätenbildung beim Haltestellenausbau gemacht, die individuell ebenfalls mit Leben gefüllt werden können. Kompliziertere aber (vielleicht) gerechtere Modi mit Hilfe von Kriterien und einem Punktesystem zur Bewertung erfordern sehr viel Aufwand, können jedoch eine solide sowie quantifizierte Grundlage zur Entscheidungsfindung darstellen. So könnte man differenzieren nach der Haltestellen-Kategorie, nach Ein-/ Aussteigern und der Funktion im Netz, könnte die Anzahl vorhandener „besonderer“ Einrichtungen im Einzugsbereich - ggf. noch mit unterschiedlichem Gewicht - bewerten. Ferner könnten die Stadtteile entsprechend ihrem Anteil älterer Wohnbevölkerung (> 65 Jahre) bezogen auf die Fläche in mehreren Gewichtungsstufen unterschieden werden. Zu viele zu bewertende Kategorien und Kriterien bergen jedoch auch die Gefahr, dass Informationen zeitaufwändig gesammelt werden müssen und daraus letztlich Bild 4: Unbefestigte Bushaltestelle auf dem Land Bild: Hamann Internationales Verkehrswesen (69) 3 | 2017 21 Barrierefreier ÖPNV INFRASTRUKTUR eine Überpriorisierung einer Vielzahl an Haltestellen resultiert, welche den Prozess eher verkompliziert als vereinfacht. Ein komplexes Bewertungssystem muss demnach so austariert sein, dass ein mindestens ausgewogenes Ergebnis herauskommt. Die Priorisierung von Haltestellen für den kurzbis mittelfristigen Ausbau lässt sich aber auch mit nur wenigen Parametern (z. B. über die reine Anzahl von Ein- und Aussteigern) vereinfachen. Je nach Struktur und Kompetenzverteilungen innerhalb von Gebietskörperschaften können verschiedene Detail- und Informationstiefen einer Planungsdatenbank zu einer zielgerichteten, effizienten Umsetzung führen. Gut aufgestellten Fachverwaltungen mit „kurzem Draht“ zu Entscheidungsträgern, Verkehrsunternehmen und Verbänden können komplexe Bewertungssysteme durchaus empfohlen werden, während sich in Gebietskörperschaften mit „schwieriger Gemengelage“ eher vereinfachte Priorisierungskriterien anbieten. Die Umsetzung vollständiger Barrierefreiheit erfordert schlussendlich keine Universalanalyse jeglicher physischer und sozialer Faktoren, sondern auf die Belange der Betroffenen ausgerichtete, praktikable und finanzierbare Lösungen. In jedem Fall müssen Kategorisierung und Bewertungssystematik nachvollziehbar sein. Die zu bewertenden Kategorien und Kriterien sind vorab transparent zu definieren. Der Priorisierungsmodus muss handhabbar und für alle Prozessbeteiligten akzeptabel sein. Er sollte z. B. ermöglichen, Mittel volkswirtschaftlich sinnvoll und im Sinne einer integrierten Planung einzusetzen, z. B. in Zusammenhang mit bereits geplanten Straßenbaumaßnahmen. Dazu bedarf es einer guten Koordinierung der Bauplanung und der Beantragung von Fördermitteln und/ oder ein jährliches Budget entsprechender Verfügungsmittel im Haushalt. Liegt ein Haltestellenkataster vor, können weitere, sich an Finanzierung und Zeitplanung orientierende Differenzierungen vorgenommen werden, die beispielsweise aus einer Kombination verschiedener Merkmale heraus Prioritäten festlegen. So lässt sich pragmatisch-vereinfacht der Haltestellenausbauzustand aufnehmen, z. B. nach A unbefestigt (mit unbefestigten Haltestellen hat jeder Kunde Schwierigkeiten), B befestigt, aber nicht barrierefrei ausgebaut, C bereits teilweise barrierefrei ausgebaut und D bereits überwiegend barrierefrei ausgebaut. Auf solch einer vereinfachten Basis können dann strategisch finanzielle Mittel für eine bestimmte Anzahl jährlich umzubauender A-, B-, oder C-Haltestellen bereitgestellt oder beantragt werden. In der Praxis hat sich zudem bewährt, den Stand und die Planungen des barrierefreien Umbaus auf Karten bzw. Plänen zu dokumentieren, sodass Priorisierungen und weitere Planungen auch optisch-geographisch berücksichtigt werden können, um z. B. Konzentrationen und Versorgungslücken zu vermeiden. Somit kann verschiedenen Zielsetzungen Rechnung getragen werden, z. B. dem oft formulierten Wunsch, möglichst auf jeder Linie oder in jedem Ortsteil/ Wohngebiet mindestens eine zentrale barrierefreie Haltestelle vorzuhalten. Mit einer entsprechenden Vermarktung erreicht man damit nicht zuletzt eine bessere Akzeptanz bei Politik und Bevölkerung und wird eventuell sogar zusätzliche Kunden gewinnen. Praxisplanung: Haltestellenkataster Als Datenbasis zur Haltestelleninfrastruktur werden in einigen Gebietskörperschaften bereits seit vielen Jahren Katasterdatenbanken eingesetzt. Die Erfahrungen landauf landab zeigen jedoch ein - positiv formuliert - sehr heterogenes Bild von Informationsgehalt, Zustand und Funktion dieser Datenbanken. Größtenteils liegen, wenn überhaupt, nur „lose“ Tabellenblätter vor, die im besten Fall sporadisch von Einzelpersonen aktualisiert werden. Nicht selten gibt es bei unterschiedlichen Akteuren und Abteilungen parallel geführte Informationslisten (Unterhaltung, Zuständigkeit und Besitz, Fahrplan und Nutzung), oft ohne Kenntnis voneinander. Im Falle einer Umbauplanung oder Priorisierung existieren also schon an entsprechenden Stellen die notwendigen Informationen - die allerdings müssen jedes Mal erneut über lange und mühsame Behördenwege erfragt werden. Diese Art der Informationsvorhaltung ist in jedem Fall nicht mehr zeitgemäß. Mit der fortschreitenden Digitalisierung von Datenbeständen, die in zunehmendem Maße auch bei kommunalen Institutionen Einzug erhält, eröffnen sich neue Möglichkeiten zur integrierten und partizipativen Planung. Katasterdatenbanken sind nur eine dieser neuen Formen der Datenverarbeitung und Planungswerkzeuge. Im Zuge des barrierefreien Ausbaus von oftmals kommunaler Infrastruktur können neuartige, digital nutzbare oder sogar cloud-basierte Haltestellenkataster eingesetzt werden. ■ Teil II wird in Internationales Verkehrswesen 4|2017 erscheinen und konkrete Strategien zur systematischen Umsetzung behandeln. 1 FGSV (Hrsg.), Autorenkollektiv: Arbeitspapier 36, Überlegungen zur Aufstellung von Nahverkehrsplänen, Köln, 1995 FGSV (Hrsg.), Autorenkollektiv: Arbeitspapier 53, Überlegungen zur Fortschreibung von Nahverkehrsplänen unter Berücksichtigung offener Fragen der Regionalisierung, Köln, 2001 2 Personenbeförderungsgesetz (PBefG) i. d. F. der Bekanntmachung vom 08.08.1990 (BGBl I S. 1690), zuletzt geändert durch Art. 1 des Gesetzes vom 14.12.2012 (BGBl I S. 2598) 3 Gesetz zur Gleichstellung behinderter Menschen (Behindertengleichstellungsgesetz - BGG) vom 27. April 2002 (BGBl. I S. 1467, 1468), das zuletzt durch Artikel 12 des Gesetzes vom 19. Dezember 2007 (BGBl. I S. 3024) geändert worden ist. Es ist gem. Art. 56 Abs. 1 dieses G am 01.05.2002 in Kraft getreten 4 UN-Behindertenrechtskonvention (vom 13.12.2006) „Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“ (in Deutschland durch ein Zustimmungsgesetz am 24.02.2009 in Kraft getreten) 5 Das Bundessozialgericht urteilte am 29.04.2010 unter AZ: B9 SB 2/ 09 R: Die UN-Behindertenrechtskonvention ist geltendes Recht in Deutschland. http: / / www.bag-selbsthilfe.de/ tl_files/ sh_2_2012_recht_ und_soziales_unmittelbare_anspr%C3%BCche_aus_ der_un-brk_s._31.doc (29.02.2016) https: / / www.kestner.de/ n/ verschiedenes/ presse/ 2010/ UN-Behindertenrechtskonvention.htm 6 Bundesarbeitsgemeinschaft ÖPNV der kommunalen Spitzenverbände, Arbeitsgruppen „Planung“ und „Vergabe“, ad-hoc-Arbeitsgruppe, Vollständige Barrierefreiheit im ÖPNV, Hinweise für die ÖPNV-Aufgabenträger zum Umgang mit der Zielbestimmung des novellierten PBefG, September 2014 7 VDV Verband Deutscher Verkehrsunternehmen e.V. (Hrsg.), Autorenkollektiv: VDV-Mitteilungen 7038, BEKA, August 2015, Köln 8 Hamburger Verkehrsverbund GmbH (HVV): Barrierefreier Neu-, Um- und Ausbau der Bushaltestellen im Hamburger Verkehrsverbund, Februar 2016 9 Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (Hrsg.): Forschungsprojekt FE 70.0703/ 2003, STUVA, IbGM, Auswirkungen des Gesetzes zur Gleichstellung behinderter Menschen (BGG) und zur Änderung anderer Gesetze auf die Bereiche Bau und Verkehr, November 2004 Rainer Hamann, Dr.-Ing. Büro StadtVerkehr Planungsgesellschaft mbH & Co. KG, Außenstelle Schleswig-Holstein, Karby (DE) hamann@buero-stadtverkehr.de Sebastian Schulz, M.Sc. Projektmanager, energydesign Co. Ltd, Shanghai (CN) sebastian.schulz@energydesign-asia. com