eJournals Internationales Verkehrswesen 69/3

Internationales Verkehrswesen
iv
0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2017-0078
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2017
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Wie hoch sind die realen Emissionen von Diesel-PKW wirklich?

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2017
Udo Becker
Wolfram Schmidt
Es dürfte seit einigen Jahren bekannt sein: Die europäischen Städte haben an verkehrlich hochbelasteten Stellen ein Luftqualitätsproblem, insbesondere bei Partikel- und Stickstoffoxid-Immissionen. Dafür sind die Emissionen aus Fahrzeugen mit Dieselmotoren, vor allem auch aus Diesel-PKW, maßgeblich mitverantwortlich. Wie kam es zur heutigen Situation – und welche Lehren sind daraus zu ziehen?
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Internationales Verkehrswesen (69) 3 | 2017 76 TECHNOLOGIE Diesel-Emissionen Wie hoch sind die realen Emissionen von Diesel-PKW wirklich? Das Handbuch für Emissionsfaktoren HBEFA 3.3 unter-der-Lupe Emissionen, Abgasgrenzwerte, Luftqualität, Fahrverbote, NEFZ-Prüfzyklus Es dürfte seit einigen Jahren bekannt sein: Die europäischen Städte haben an verkehrlich hochbelasteten Stellen ein Luftqualitätsproblem, insbesondere bei Partikel- und Stickstoffoxid-Immissionen. Dafür sind die Emissionen aus Fahrzeugen mit Dieselmotoren, vor allem auch aus Diesel-PKW, maßgeblich mitverantwortlich. Wie kam es zur heutigen Situation - und welche Lehren sind daraus zu ziehen? Udo J. Becker, Wolfram Schmidt D ie allmähliche Verschärfung der europäischen und nationalen fahrzeugspezifischen Abgasgrenzwerte [in g/ km] war ursprünglich mit der Hoffnung verknüpft worden, dass - wenn etwa der Grenzwert auf die Hälfte abgesenkt wird - durchaus auch vergleichbare Emissionsreduktionen in der Realität erwartet werden können. Dort, wo der Dieselmotor dominanter Emissionsfaktor ist, hoffte man damit auch auf signifikante Verbesserungen der Immissions-Luftqualität. Diese Hoffnungen haben sich aber nicht erfüllt: • Zum einen, weil die Einhaltung der fahrzeugseitigen Grenzwerte nur in einem realitätsfernen Prüfzyklus unter genau definierten Bedingungen geprüft wurde; • zum zweiten, weil die allmähliche Zunahme der Fahrzeuganzahlen und der Fahrleistungen selbstverständlich ebenfalls emissionserhöhend wirkt bzw. erreichte Reduktionen wieder zunichte macht; • zum dritten, weil die kontinuierliche Erhöhung von mittleren Fahrzeuggewichten und Leistungskenngrößen, die sich etwa im Trend zu SUV-Fahrzeugen widerspiegelt, ganz andere Energiemengen benötigt, die sich ebenfalls ceteris paribus emissionserhöhend auswirken; • zum vierten, weil die Steigerung der Leistungskenngrößen der Fahrzeuge in den Bereich mehrerer hundert kW auch dazu führte, dass diese Leistungen von den Fahrzeuglenkern auch abgerufen werden - was zu einem „dynamischen“, inhomogenen Verkehrsablauf mit vielen Beschleunigungen und Bremsvorgängen führt: Das aber wirkt, zuweilen noch stärker als die Fahrleistungserhöhungen, stark emissionserhöhend. Auch dürfte seit Jahrzehnten bekannt sein: Die Bedingungen für die Einhaltung der Abgasgrenzwerte im Rahmen der Typprüfung, mit denen die erhofften Emissionsminderungen geprüft werden sollten, unterscheiden sich maßgeblich von den Betriebs- und Emissionsbedingungen in der Realität. Die Grenzwerte werden im Wesentlichen zwischen Fahrzeugherstellern und Politik ausgehandelt, dabei aber herrscht ein Wissensgefälle zwischen beiden Seiten des Verhandlungstisches. Im Gegensatz zur heute oft gehörten Position, dass die unwissende Politik den Automobilherstellern einen leider völlig ungenügenden und betrugsanfälligen NEFZ-Prüfzyklus (Neuer Europäischer Fahrzyklus) verordnet hat, war es bei den europäischen Beratungen dazu so, dass vor allem die Automobilindustrie auf dem sog. NEFZ bestand: Man hätte durchaus auch die wesentlich dynamischeren amerikanischen FTP-Zyklen verwenden oder diese für Europa noch weiter dynamisieren können. Dass letztlich ein zahmer NEFZ Grundlage der gesetzlichen Regelungen wurde, liegt vor allem auch an den damaligen Bemühungen der Fahrzeugindustrie und in diesem Fall weniger an der Politik. Damit aber war auch seit mindestens 1993 allen Umweltämtern, Baubehörden und Genehmigungsbehörden klar: Wer die Emissionen der Fahrzeuge im realen Stadtverkehr bestimmen will, braucht reale Emissionsfaktoren und damit eine andere, realistischere Datenbasis als die Typprüf- Grenzwerte. In eigentlich allen Bereichen der Gesellschaft sind Gesetze üblicherweise so konzipiert, • dass ein bestimmtes gefährliches Verhalten unter allen möglichen Bedingungen garantiert ausgeschlossen werden kann: Wer ein Gebäude erstellt, muss sicherstellen, dass auch bei maximaler Geschossbelastung und bei starkem Wind sowie bei denkbar schlechtesten (zugelassenen! ) Baustoffen und bei Frost und Hitze die Standsicherheit gewährleistet ist. Im Fahrzeug-Zulassungsbereich wählte man dagegen juristisch gesehen den entgegengesetzten Weg, in dem man verlangte, • dass bestimmte, als gefährlich betrachtete Emissionsgrenzwerte von den Fahrzeugen nur dann eingehalten werden, wenn im Testlabor auf dem Prüfstand bei genau definierter, optimierter Temperatur mit minimaler Beladung und vielfach optimierten Fahrzeugzuständen unrealistische Fahrsituationen nachgefahren werden, die etwa dem (steigenden) Geschwindigkeits- und Beschleunigungspotential dieser Fahrzeuge keinesfalls entsprechen. Internationales Verkehrswesen (69) 3 | 2017 77 Diesel-Emissionen TECHNOLOGIE Um den Straßenbauämtern, Umweltämtern, Gesundheitsbehörden und anderen Interessierten eine geeignete Datenbasis möglichst realer Emissionsfaktoren anzubieten, wurde vor allem von den deutschsprachigen Ländern das „Handbuch für Emissionsfaktoren des Straßenverkehrs“ (HBEFA) 1 entwickelt. Verschiedene öffentlich zugängliche Mengen realer Emissionen wurden dort zusammengetragen. Ein prinzipielles Problem lag allerdings darin, dass immer dann, wenn eine neue Grenzwertstufe beschlossen worden war, zunächst ja keine Messungen der realen Emissionsfaktoren für solche Fahrzeuge vorhanden waren: Diese Fahrzeuge kamen ja erst auf den Markt, sodass man dann retrospektiv Messwerte für diese Fahrzeuggruppe erhielt. Zu Beginn einer jeden Grenzwertstufe mussten die Bearbeiter des HBEFA also „spekulieren“: Aus nur wenigen Messungen musste man einen Wert dafür ableiten, wie sehr die Verschärfung der Grenzwerte auch zu einer Reduktion der realen Emissionsfaktoren beitragen würden. Waren dann die neuen Grenzwertstufen ausreichend mit realen Fahrzeugen vertreten und lagen ausreichend Messwerte dafür vor, konnte man im Nachhinein die vorläufigen Emissionsfaktoren durch realistischere ersetzen. Man kann den Bearbeitern des HBEFA nun sicherlich keinen Vorwurf daraus machen, dass sie in jeder neuen Grenzwertstufe darauf hofften, die Automobilindustrie würde signifikante Emissionsreduktionen für die Praxis erreicht haben. Damit aber entstand das berühmte „Hase-und-Igel- Spiel“: a) Bei Einführung einer neuen Grenzwertstufe (mit wenigen Messdaten) wurden für das HBEFA eher optimistische Emissionsfaktoren unterstellt, b) nach einigen Jahren und nach Vorliegen ausreichend großer Datenmengen mussten im nächsten Update diese zu kleinen Werte dann wieder nach oben angepasst werden, c) da in der Immissions-Realität der Städte aber nicht die erhofften Reduktionen auftraten, musste eine neue Grenzwertstufe beschlossen werden. - Und nun beginnt das Spiel wieder bei Schritt a). Damit wurden aber auch laufende HBEFA-Aktualisierungen notwendig. Die aktuelle HBEFA-Version 3.3 Vor kurzem ist die aktuelle Version 3.3 des HBEFA erschienen: Darin sind die jüngeren Erkenntnisse etwa auch aus den Messungen der „Untersuchungskommission Volkswagen“ enthalten. Somit werden auch Fahrzeuge berücksichtigt, die etwa die Abgasreinigungsfunktionen (etwa „zum Schutz des Motors“) bei Temperaturen unterhalb der Typprüfungstemperatur ganz oder teilweise außer Kraft setzen. Im HBEFA 3.3 wird dies nun erstmalig dadurch berücksichtigt, dass bei Diesel-PKW der Abgasnormen Euro-4 bis Euro-6 im Bereich zwischen 0 °C und 20 °C eine Funktion zur temperaturabhängigen Korrektur der NO x -Emissionsfaktoren integriert wurde. Der Bearbeiter muss also nun erstmals angeben, welche Umgebungstemperatur am Untersuchungstag in der Stadt herrschte. Die daraus resultierenden NO x -Emissionsfaktoren für Diesel-PKW unterscheiden sich z. T. deutlich von den Werten, die in früheren HBEFA-Versionen angenommen worden waren, und liegen durchweg höher. Die Hoffnungen, die etwa in die Grenzwertstufe Euro-5 gesetzt wurden, können damit leider nicht verifiziert werden. Bild 1 zeigt die Entwicklung der in HBEFA hinterlegten realen Emissionsfaktoren im Zeitverlauf für Innerorts-Hauptverkehrsstraßen mit V max = 50 km/ h und bei flüssigem Verkehrszustand. Dargestellt sind von links nach rechts die in aufeinanderfolgenden HBEFA-Versionen enthaltenen Emissionsfaktoren. Man erkennt: • Die Euro-1- und Euro-2-Fahrzeuge halten unter diesen Bedingungen sogar real den damaligen Grenzwert von 0,97 g/ km ein, alle HBEFA-Versionen haben bei diesen Fahrzeuggruppen ungefähr gleiche reale Emissionsfaktoren. • Bei den Euro-3- und Euro-4-Fahrzeugen sind etwa von HBEFA 2.1 zu HBEFA 3.1 deutliche Anpassungen zu erkennen: Hier mussten die Emissionsfaktoren nach oben angepasst werden. • Auffällig sind die Sprünge bei den Euro- 5- und Euro-6 Fahrzeugen von HBEFA 3.1 bis HBEFA 3.3: Die Emissionsfaktoren steigen von 0,46 g/ km auf 0,75 g/ km und von 0,16 g/ km auf 0,45 g/ km (wobei das Kollektiv der Euro-6-Fahrzeuge hier noch klein ist). • Bemerkenswert ist auch die Verschlechterung der Emissionsfaktoren von Euro-4 zu Euro-5: Im bundesdeutschen Mittel stößt ein Euro-5-Diesel-PKW demnach um 50 % höhere NO x -Realemissionen aus als ein Euro-4-Diesel- PKW. Steuerrechtliche Bevorzugungen (etwa bei der KFZ-Steuer) oder ordnungsrechtliche Bevorzugungen (etwa Einfahrtserlaubnisse in Umweltzonen) lassen sich damit - zumindest hinsichtlich der Stickoxid-Emissionen - nicht vereinbaren. • Anzumerken ist, dass derzeit erst wenige Messungen für Euro-6-Fahrzeuge vorliegen: Hier befindet man sich noch im Zustand größerer erhoffter Emissionsminderungen. Es kann aber auch vermutet werden, dass in der nächsten HBEFA- Aktualisierung ggf. auch dieser Wert nochmals disaggregiert bzw. aktualisiert werden muss. Bei dem gewählten Fall der städtischen Hauptverkehrsstraße mit Tempo 50 handelt es sich übrigens nicht um einen einzelnen Ausreißer: Die entsprechenden HBEFA-Emissionsfaktoren für die anderen städtischen Verkehrssituationen auf Hauptverkehrsstraßen mit der Höchstgeschwindigkeit 50 km/ h (dicht, gesättigt, stop-andgo) weisen alle analoge Verläufe auf. In allen HBEFA-Versionen bis zur Version 3.2 war davon ausgegangen worden, dass 3 2. Die aktuelle HBEFA-Version 3.3 Vor kurzem ist die aktuelle Version 3.3. des HBEFA erschienen: Darin sind die jüngeren Erkenntnisse etwa auch aus den Messungen der „Untersuchungskommission Volkswagen“ enthalten. Somit werden auch Fahrzeuge berücksichtigt, die etwa die Abgasreinigungsfunktionen (etwa „zum Schutz des Motors“) bei Temperaturen unterhalb der Typprüfungstemperatur ganz oder teilweise außer Kraft setzen. Im HBEFA 3.3 wird dies nun erstmalig dadurch berücksichtigt, dass bei Diesel-Pkw der Abgasnormen EURO-4 bis EURO-6 im Bereich zwischen 0°C und 20°C eine Funktion zur temperaturabhängigen Korrektur der Emissionsfaktoren integriert wurde. Der Bearbeiter muss also nun erstmals angeben, welche Umgebungstemperatur am Untersuchungstag in der Stadt herrschte. Die daraus resultierenden Emissionsfaktoren für Diesel-Pkw unterscheiden sich z.T. deutlich von den Werten, die in früheren HBEFA-Versionen angenommen worden waren. Die aktuellen Emissionsfaktoren liegen deutlich höher. Bei NO x ergeben sich im Einzelfall sogar absolute Emissionserhöhungen. Die Hoffnungen, die etwa in die Grenzwertstufe EURO-5 gesetzt wurden, können damit leider nicht verifiziert werden. Abbildung 1: Entwicklung der in verschiedenen HBEFA-Versionen zugrunde gelegten realen Emissionsfaktoren auf Innerorts-Hauptverkehrsstraßen für die sechs EURO-Grenzwertstufen Abbildung 1 zeigt die Entwicklung der in HBEFA hinterlegten realen Emissionsfaktoren im Zeitverlauf für Innerorts-Hauptverkehrsstraßen mit V max = 50 km/ h und bei flüssigem Verkehrszustand. Dargestellt sind von links nach rechts die in aufeinanderfolgenden HBEFA-Versionen enthaltenen Emissionsfaktoren. Man erkennt: EURO-1 (1993) EURO-2 (1997) EURO-3 (2001) EURO-4 (2006) EURO-5 (2011) EURO-6 (2015) Grenzwert (nachrichtlich) 0,97 0,9 0,5 0,25 0,18 0,08 HBEFA 2.1 (2004) 0,68 0,6 0,45 0,3 HBEFA 3.1 (2010) 0,66 0,71 0,74 0,47 0,46 0,16 HBEFA 3.2 (2014) 0,64 0,68 0,64 0,44 0,56 0,17 HBEFA 3.3 / Temp. D-mittel (2017) 0,64 0,68 0,64 0,5 0,75 0,45 0 0,2 0,4 0,6 0,8 1 1,2 g/ km Grenzwert / HBEFA-Version Reale HBEFA-NOx-Emissionsfaktoren Diesel-PKW Deutsche Flotte, Innerorts-Hauptverkehrsstraße Tempo 50 flüssig HBEFA 3.3: Deutsche Jahresmitteltemperatur Bild 1: Entwicklung der in verschiedenen HBEFA-Versionen zugrunde gelegten realen Emissionsfaktoren auf Innerorts-Hauptverkehrsstraßen für die sechs Euro-Grenzwertstufen Internationales Verkehrswesen (69) 3 | 2017 78 TECHNOLOGIE Diesel-Emissionen Abgasreinigungsanlagen bei Diesel-PKW bei allen Außentemperaturen wirksam sind. Nach derzeitigem europäischem Recht erfolgt die Typprüfung nur bei Temperaturen zwischen 20 und 25 °C. Zum „Schutz des Motors“ dürfen derzeit dabei Abgasreinigungsanlagen in ihrer Funktion eingeschränkt werden; bei der juristischen Abwägung dieser Klausel musste der „Schutz der menschlichen Gesundheit“ zurückstehen. Die nun vorliegenden Messwerte zeigen allerdings, dass die Außentemperatur einen signifikanten Einfluss auf die Funktion der Abgasreinigung besitzt. In HBEFA 3.3 wurde deshalb eine neue Temperaturabhängigkeit eingeführt: Für Emissionsabschätzungen von Diesel-PKW muss man nun angeben, welche Temperatur im fraglichen Zeitraum im Untersuchungsgebiet geherrscht hat. Bei kalten Temperaturen ergeben sich nun deutliche Zuschläge für die Emissionsfaktoren. Bild 2 zeigt für die derzeit relevanten Fahrzeuggruppen Euro-4, Euro-5 und Euro-6 die nun zugrunde zu legende Temperaturabhängigkeit: Für jede Fahrzeuggruppe werden in der Abbildung • die Emissionsfaktoren nach HBEFA 3.1 (i. A. ermittelt über 20 °C, aber implizit für die deutsche Jahresmitteltemperatur anzuwenden) • die Emissionsfaktoren nach HBEFA 3.2 (i. A. ermittelt über 20 °C, aber implizit für die deutsche Jahresmitteltemperatur anzuwenden) • die Emissionsfaktoren nach HBEFA 3.3 (für Temperaturen über 20 °C) • die Emissionsfaktoren nach HBEFA 3.3 (für die deutsche Jahresmitteltemperatur) • die Emissionsfaktoren nach HBEFA 3.3 (für Temperaturen unter 0 °C) dargestellt. Bild 2 zeigt, dass sich die HBEFA 3.3-Berechnungsergebnisse für Euro-4-Diesel- PKW bei Minusgraden von den Ergebnissen nach HBEFA 3.1 und 3.2 sowie von den Ergebnissen bei Plusgraden unterscheiden (neuer Wert: 0,60 g/ km). Bei Euro-5 und Euro-6 verändern sich die Werte drastisch: Bei Euro-5 liegen die Emissionsfaktoren im Frostbereich etwa doppelt so hoch wie nach den bisherigen Ansätzen und in der absoluten Höhe wiederum über Euro-4. Bei Euro- 6-Fahrzeugen sind die Zuschlagsfaktoren nochmals größer: Während in HBEFA 3.1 bzw. in HBEFA 3.2 bisher 0,16 g/ km bzw. 0,17 g/ km angenommen wurden, werden für Minusgrade nun 0,62 g/ km zugrunde gelegt. Die Implikationen dieser Veränderungen für deutsche Kommunen, für die Berechnungen in Luftreinhalteplänen und für deutsche Verwaltungsgerichte dürften immens sein: • De facto müssen alle Luftreinhaltepläne dringend nach HBEFA 3.3 und nach Temperaturabhängigkeiten überarbeitet werden. Bei Minusgraden können dabei etwa die Emissionen für Euro-6-Diesel- PKW (für die „Blaue-Zone-Plaketten“ diskutiert werden) je nach Anwendungsfall auf das Dreibis Vierfache der jetzt errechneten Werte steigen. • Dies wird nochmals drängender, wenn Luftreinhaltepläne oder Einfahrverbote wegen der Partikelproblematik für das Winterhalbjahr zu erstellen sind. • Euro-6-Diesel-PKW können nicht mehr per se als grundsätzlicher Beitrag zur Reduktion der NO x -Emissionen gesehen werden: Vermutlich sind in der Gruppe Euro-6 große Unterschiede zwischen NEFZ-Emissionsfaktoren und WLTP- Emissionsfaktoren (und nach den Konformitätsfaktoren) zu erwarten. Die nun vorliegenden Daten bestätigen indirekt auch die bisherige Arbeitsweise der HBEFA-Verantwortlichen: Bei Euro-4-Diesel-PKW sind die Unterschiede zwischen verschiedenen Temperaturen weniger gravierend. Die bisherige Annahme, die über 20 °C gemessenen Reduktionen über alle Temperaturstufen unterstellen zu dürfen, war also gerechtfertigt. Erst bei den nochmals schärferen Stufen Euro-5 und Euro-6 wurden dann in den Fahrzeugen verstärkt temperaturabhängige Regelungen eingeführt, und bei Euro-6 sind diese entscheidend für die Berechnungsergebnisse. Da damit der Anteil der Diesel-PKW- Emissionen an den gesamten Stickoxid- Emissionen ebenfalls weiter steigt, dürfte sich der gesellschaftliche, politische und juristische Druck verstärkt auf Diesel-PKW konzentrieren. Das Potenzial aller Maßnahmen, die nicht bei Diesel-PKW ansetzen, wird damit nochmals geringer. Konsequenzen für verkehrliche Emissionsbilanzen Wie wirken sich nun diese Veränderungen auf die Emissions- und Immissionsberechnungen aus? Werden die Veränderungen nur marginal sein oder steht zu befürchten, dass die Diesel-Emissionen im Vergleich zu den anderen Verursachergruppen um so viel höher ausfallen werden, dass auch die gesamten berechneten Verkehrsemissionen absolut und relativ signifikant ansteigen würden? Erleichternd wirkt, dass derzeit in HBEFA keine Temperaturabhängigkeiten für Benzin-PKW, LKW und Busse vorgegeben werden. Diese Werte können also beibehalten werden. Allerdings ist auch hier noch ein Hindernis versteckt, das die „leichten Nutzfahrzeuge“ betrifft: Die Mehrzahl der leichten Nutzfahrzeuge in Deutschland wird mit Dieselmotoren betrieben. Diese Dieselmotoren entsprechen technisch aber in der Regel den auch in Diesel-PKW eingebauten Motoren. Deshalb ist anzunehmen, dass auch für leichte Nutzfahrzeuge Zuschlagsfaktoren für Temperaturen unterhalb plus 20 °C entwickelt werden müssen. Diese Zuschlagsfaktoren liegen derzeit noch nicht vor, die Verwaltungsgerichte werden sie aber vermutlich rasch einfordern. Plausibel wäre es deshalb, wenn bis zum Vorliegen genauerer Ergebnisse die Bearbeiter von Luftreinhalteplänen die oben beschriebenen Die- Bild 2: Temperaturabhängigkeit der NOx-Emissionsfaktoren für Euro-4, Euro-5 und Euro-6 Diesel-PKW, Hauptverkehrsstraße innerorts, in den verschiedenen HBEFA-Versionen 5 Abbildung 2: Temperaturabhängigkeit der NO x -Emissionsfaktoren für EURO-4, EURO-5 und EURO-6 Diesel-Pkw, Hauptverkehrsstraße innerorts, in den verschiedenen HBEFA-Versionen Abbildung 2 zeigt, dass die HBEFA 3.3. - Berechnungsergebnisse für EURO-4 Diesel-Pkw bei Minusgraden sich von den Ergebnissen nach HBEFA 3.1 und 3.2. sowie von den Ergebnissen bei Plusgraden unterscheiden (neuer Wert: 0,60 g/ km). Bei EURO-5 und EURO-6 verändern sich die Werte drastisch: Bei EURO-5 liegen die Emissionsfaktoren im Frostbereich etwa doppelt so hoch wie nach den bisherigen Ansätzen und in der absoluten Höhe wiederum über EURO-4. Bei EURO-6-Fahrzeugen sind die Zuschlagsfaktoren nochmals größer: Während in HBEFA 3.1 bzw. in HBEFA 3.2 bisher 0,16 g/ km bzw. 0,17 g/ km angenommen wurden, werden für Minusgrade nun 0,62 g/ km zugrunde gelegt. Die Implikationen dieser Veränderungen für deutsche Kommunen, für die Berechnungen in Luftreinhalteplänen und für deutsche Verwaltungsgerichte dürften immens sein: - De facto müssen alle Luftreinhaltepläne dringend nach HBEFA 3.3 und nach Temperaturabhängigkeiten überarbeitet werden. Bei Minusgraden können dabei etwa die Emissionen für die EURO-6-Diesel-Pkw (für die „Blaue-Zone-Plaketten“ diskutiert werden) je nach Anwendungsfall auf das Dreibis Vierfache der jetzt errechneten Werte steigen. - Dies wird nochmals drängender, wenn Luftreinhaltepläne oder Einfahrverbote wegen der Partikelproblematik für das Winterhalbjahr zu erstellen sind. - EURO-6-Diesel-Pkw können nicht mehr per se als grundsätzlicher Beitrag zur Reduktion der NO x -Emissionen gesehen werden: Vermutlich sind in der Gruppe EURO-6 große Unterschiede zwischen NEFZ-Emissionsfaktoren und WLTP-Emissionsfaktoren (und nach den Konformitätsfaktoren) zu erwarten. Die nun vorliegenden Daten bestätigen indirekt auch die bisherige Arbeitsweise der HBEFA- Verantwortlichen: Bei EURO-4-Diesel- Pkw sind die Unterschiede zwischen verschiedenen Tempera- PKW D Euro-4 PKW D Euro-5 PKW D Euro-6 HBEFA 3.1 0,47 0,46 0,16 HBEFA 3.2 0,44 0,56 0,17 HBEFA 3.3 T > +20°C 0,43 0,56 0,32 HBEFA 3.3 D-mittel 0,50 0,75 0,45 HBEFA 3.3 T < 0°C 0,60 1,00 0,62 0,00 0,20 0,40 0,60 0,80 1,00 1,20 NOx-Emissionsfaktor in g/ km NOx-Emissionsfaktoren auf Innerorts-Hauptverkehrsstraßen Diesel-PKW der Abgasnormen EURO-4 bis EURO-6 HBEFA-Versionen 3.1, 3.2 und 3.3 Internationales Verkehrswesen (69) 3 | 2017 79 Diesel-Emissionen TECHNOLOGIE sel-PKW-Zuschlagsfaktoren auch für leichte Diesel-Nutzfahrzeuge ansetzen würden. Allen Berechnungen, die für leichte Nutzfahrzeuge keine Zuschläge ansetzen, könnte der Vorwurf gemacht werden, nicht nach aktuellem Wissenstand gehandelt zu haben. Wie werden denn die Veränderungen der berechneten Gesamtemissionen sein? Zur Beantwortung dieser Frage wurden Modellrechnungen für die gesamte deutsche PKW- Flotte (Diesel- und Benzin-Fahrzeuge) für mittlere Autobahn-, Außerorts- und Innerortsfahrmuster durchgeführt. Die bundesdeutsche Fahrzeugflotte des Jahres 2017 wurde mit identischen Fahrleistungen sowohl nach HBEFA 3.2 als auch nach 3.3 modelliert. Daraus ergeben sich dann wiederum „mittlere bestands- und leistungsgewichtete PKW-Emissionsfaktoren“. Wer also weiß, wie viele Fahrzeugkilometer die gesamte PKW-Flotte in einer Stadt zurücklegt, kann diese Verkehrsleistung mit den in Bild 3 angegebenen mittleren Emissionsfaktoren multiplizieren. Diese geben damit auch einen Eindruck der Veränderungen wieder, die sich beim Übergang von HBEFA 3.2 nach HBEFA 3.3 einstellen dürften. Aus Bild 3 kann größenordnungsmäßig abgeleitet werden: • Auf Autobahnen steigt der mittlere NO x - Emissionsfaktor von 0,4 g/ km auf 0,53 g/ km. Demnach könnte erwartet werden, dass die PKW-Emissionen insgesamt auf Autobahnen durch die HBEFA-Aktualisierung um etwa ein Drittel steigen werden. • Auf Außerortsstraßen steigen die mittleren Emissionsfaktoren von 0,24 g/ km auf 0,33 g/ km, also um knapp 40 %. • Auf Innerortsstraßen bedeutet die Erhöhung um 0,1 g/ km ebenfalls eine um ein Drittel höhere Gesamtemission. Die Veränderungen, die sich durch den Umstieg von HBEFA 3.2 nach 3.3 ergeben, sind also auch insgesamt signifikant und dürfen keinesfalls vernachlässigt werden. Zusammenfassung und Folgerungen Die Überarbeitung der HBEFA-Emissionsfaktoren nach Version 3.3 ergibt aus unserer Sicht qualitativ deutlich andere (und realistischere) Ergebnisse als die Ergebnisse aus den Vorgängerversionen. Es ist davon auszugehen, dass die Verwaltungsgerichte diese Ergebnisse „nach bestem derzeitigen Wissensstand“ einfordern werden. Damit aber werden die berechneten Diesel-PKW- Emissionen und die gesamten verkehrlichen Emissionen nochmals deutlich ansteigen. Der prozentuale Anteil aller anderen Verursachergruppen wird zurückgehen, sodass der Druck auf Maßnahmen für Diesel- Fahrzeuge nochmals zunehmen dürfte. Nach den nun vorliegenden Ergebnissen dürfte sich die Hoffnung, dass mit zunehmendem Euro-6-Fahrzeugbestand die Abgasproblematik gelöst werden kann, zerschlagen. Aus unserer Sicht können zumindest die derzeitig im Markt vorhandenen Fahrzeuge keinen entscheidenden Beitrag zur Problemlösung liefern. In Deutschland werden derzeit „Software-Updates“ als wichtigste Handlungsmaßnahme diskutiert. Ob dadurch aber tatsächlich messbare Emissionsreduktionen (im Bestand! ) erzielt werden können, bleibt abzuwarten, ist aber in Anbetracht der bisherigen Erfahrungen eher skeptisch zu sehen. Die Umweltverbände bzw. die technischen Automobilclubs dürften aber für die Problematik sensibilisiert sein und werden sicherlich Praxismessungen durchführen. Aus Sicht der Autoren führt an einer deutlichen Reduktion der Fahrleistungen von Diesel-PKW kein Weg vorbei. Keine andere Maßnahme kann aus unserer Sicht so rasch die aus Gründen des Menschenschutzes gebotenen Reduktionen herbeiführen. Der Aufschrei in der Bevölkerung dürfte erwartungsgemäß groß sein. Wir sind allerdings der Meinung, dass diese Maßnahme - bezogen auf die gesamtgesellschaftlichen Nutzen und Kosten - langfristig die insgesamt kosteneffizienteste Maßnahme ist: • Dieser Ansatz signalisiert allen Herstellern und Nutzern die Dringlichkeit des Problems. • Ein wesentlicher Vorteil von Marktwirtschaften ist, dass sehr rasch Alternativlösungen von den Herstellern angeboten werden. Selbstverständlich entstehen dabei Umstellungskosten, aber aus unserer Sicht ist das die Maßnahme, die den Herstellern langfristig am meisten hilft: Denn sie entwickeln dann Lösungen, die überall benötigt werden und die den Bestand der Unternehmen und der Arbeitsplätze langfristig sichern. • Die Nutzer werden ebenfalls nach Alternativen suchen: Und die Nutzer sind die einzigen, die alle Alternativen für sich prüfen und abwägen können. Wo immer und wann immer in den vergangenen Jahren gravierende Veränderungen in Verkehrsplanung und Verkehrspolitik umgesetzt wurden (LKW-Maut, congestion charges, City-Maut o.ä.), waren die Ängste anfangs groß - und nach kurzer Zeit hatten die Nutzer für sich sinnvolle Alternativen entdeckt. Da sich Alle umstellen müssen und nicht nur ein Einzelner, entstehen sofort sinnvolle Angebote, die Allen nutzen: etwa Fahrgemeinschaften, mehr Fahrradverkehr, ein attraktiverer ÖV oder auch wieder attraktivere Nahbereiche, Nahversorgungen und Stadtteilzentren. Aus unserer Sicht führt an Fahrverboten für Diesel-PKW kein Weg vorbei - und sie helfen den Unternehmen und der Bevölkerung gleichermaßen. ■ 1 http: / / www.hbefa.net/ e/ index.html Udo Becker, Prof. Dr.-Ing. Lehrstuhl für Verkehrsökologie, Fakultät Verkehrswissenschaften Friedrich List, Institut für Verkehrsplanung und Straßenverkehr, TU Dresden udo.becker@tu-dresden.de Wolfram Schmidt Lehrstuhl für Verkehrsökologie, Fakultät Verkehrswissenschaften Friedrich List, Institut für Verkehrsplanung und Straßenverkehr, TU Dresden wolfram.schmidt@tu-dresden.de Bild 3: Veränderungen, die sich durch den Umstieg von HBEFA 3.2 nach 3.3 ergeben. 7 Aus Abb. 3 kann größenordnungsmäßig abgeleitet werden: - Auf Autobahnen steigt der mittlere NO x -Emissionsfaktor von 0,4 g/ km auf 0,53 g/ km. Demnach könnte erwartet werden, dass die Pkw-Emissionen insgesamt auf Autobahnen durch die HBEFA-Aktualisierung um etwa ein Drittel steigen werden. - Auf Außerortsstraßen steigen die mittleren Emissionsfaktoren von 0,24 g/ km auf 0,33 g/ km, also um knapp 40%. - Auf Innerortsstraßen bedeutet die Erhöhung um 0,1 g/ km ebenfalls eine um ein Drittel höhere Gesamtemissionen. Die Veränderungen, die sich durch den Umstieg von HBEFA 3.2 nach 3.3 ergeben, sind also auch insgesamt signifikant und dürfen keinesfalls vernachlässigt werden. 4. Zusammenfassung und Folgerungen Die Überarbeitung der HBEFA-Emissionsfaktoren nach Version 3.3 ergibt aus unserer Sicht qualitativ deutlich andere (und realistischere) Ergebnisse als die Ergebnisse aus den Vorgängerversionen. Es ist davon auszugehen, dass die Verwaltungsgerichte diese Ergebnisse „nach bestem derzeitigen Wissensstand“ einfordern werden. Damit aber werden die berechneten Diesel-Pkw-Emissionen und die gesamten verkehrlichen Emissionen nochmals deutlich ansteigen. Der prozentuale Anteil aller ande- Ø-Autobahnen Ø-Ausserorts Ø-Innerorts HBEFA 3.2 0,40 0,24 0,30 HBEFA 3.3 0,53 0,33 0,40 0,00 0,10 0,20 0,30 0,40 0,50 0,60 g/ km Verkehrssituation NO x -Emissionsfaktoren nach HBEFA 3.2 und 3.3 für die gesamte PKW-Flotte (Benzin und Diesel) mittlere Verkehrssituationen / D 2017