eJournals Internationales Verkehrswesen 69/4

Internationales Verkehrswesen
iv
0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2017-0093
111
2017
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Reisezeiten und Stadtverkehrsplanung

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2017
Peter Pez
Antja Janßen
Reisezeitexperimente in Lüneburg, Hamburg und Göttingen zeigten, dass die Geschwindigkeitsrelationen von Verkehrsmitteln stark von den Grundstrukturen der Wegeführung und der Bevorrechtigung bzw. Benachteiligung abhängen. Eine Haushaltsbefragung zur Mobilität in Göttingen belegte, dass die realen Reisezeitrelationen sich in den subjektiven Einschätzungen wiederfinden. Die Beeinflussung der Reisezeiten bietet sich an, um via Verkehrsmittelwahl die Anteile am Modal Split in Richtung mehr Umwelt- und Sozialverträglichkeit zu steuern.
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Internationales Verkehrswesen (69) 4 | 2017 35 Reisezeiten und Stadtverkehrsplanung Zeitaufwandsanalysen als Basis einer effizienten Beeinflussung der Verkehrsmittelwahl Reisezeit, Verkehrsmittelwahl, Stadtverkehr, Verkehrsplanung, Radverkehr, Pedelec Reisezeitexperimente in Lüneburg, Hamburg und Göttingen zeigten, dass die Geschwindigkeitsrelationen von Verkehrsmitteln stark von den Grundstrukturen der Wegeführung und der Bevorrechtigung bzw. Benachteiligung abhängen. Eine Haushaltsbefragung zur Mobilität in Göttingen belegte, dass die realen Reisezeitrelationen sich in den subjektiven Einschätzungen wiederfinden. Die Beeinflussung der Reisezeiten bietet sich an, um via Verkehrsmittelwahl die Anteile am Modal Split in Richtung mehr Umwelt- und Sozialverträglichkeit zu steuern. Peter Pez, Antje Janßen E inen Zielort schnell zu erreichen, ist ein Hauptmotiv städtischer Verkehrsmittelwahl [1], auch wenn z. B. bei Wochen-, Baumarkt-/ Gartencentereinkäufen oder Spazierwegen andere Faktoren dominieren. Die Verkehrsmittelwahl wird auf Basis von Verkehrszählungen oder Befragungen zum Modal Split quantitativ gemessen. Er ist die wichtigste Messgröße für eine nachhaltige Verkehrspolitik bzgl. Flächenverbrauch, Lärm, Abgas- und Feinstaubbelastung sowie Unfallgefahren. Eigentlich läge es deshalb nahe, via Reisezeiten auch den wesentlichen Grund für Entscheidungen über Transportmodi quantitativ zu erfassen. Da dies aber in der Realität nicht geschieht, entwickelte die Leuphana Universität eine Systematik für Reisezeitexperimente und erprobte sie 2012/ 13 in Lüneburg, Hamburg und Göttingen. Eine Haushaltsbefragung zur Mobilität der Göttinger Bevölkerung 2015/ 16 [2] konnte ergänzend die Kohärenz von gemessenen Relationen und subjektiven Einschätzungen nachweisen. Die Ergebnisse werfen die Frage auf, ob Reisezeitmessungen in Kombination mit Mobilitätsbefragungen nicht viel stärker für eine strategische Positionierung der kommunalen Verkehrsplanung genutzt werden sollten. Parameter der Reisezeitexperimente Lokalzeitungen dokumentieren gelegentlich „Wettrennen“ zwischen Verkehrsmittelteilnehmern auf ein oder zwei Strecken. Solche Berichte sind illustrativ bis symptomatisch, können aber die Bedingungen einer Stadt weder repräsentativ widerspiegeln noch Vergleichbarkeit mit anderen Städten gewähren. Zwei jüngere Studien in Bremen und Schwerin versuchten, dieses Manko zu überwinden [3.] Messtechnisch stellen jedoch auch diese nicht zufrieden: In Bremen wurden zwar Strecken von verschiedenen Quellorten in Richtung Innenstadt untersucht, aber Tangentialstrecken und das Pedelec nicht berücksichtigt; das Pedelec wurde in Schwerin mit einbezogen, leider beschränkte sich die Studie aber auf die Verkehrsrelation von nur einem Wohngebiet ins Stadtzentrum. Das von der geographischen Abteilung der Leuphana Universität Lüneburg entwickelte System ermöglicht nun eine höhere Flächendeckung, Aussagekraft, Differenzierungsfähigkeit und Vergleichbarkeit: • Mittels fünf Quell- und vier Zielorten entsteht ein in alle Himmelsrichtungen ausgedehntes Netz von 20 Strecken. Foto: pixabay.de Modal Split MOBILITÄT Internationales Verkehrswesen (69) 4 | 2017 36 MOBILITÄT Modal Split • Die Quellorte umfassen verschiedene Wohnareale (Altstadt, Gründer- oder Zwischenkriegszeitviertel, Wohnblock- oder Großwohnsiedlung, aufgelockerte Reihen-/ Doppel-/ Einfamilienhausbebauung), sodass auch unterschiedliche soziale Einzugsgebiete implizit mitberücksichtigt sind. • Die Zielorte streuen ebenfalls über die- Stadtfläche und repräsentieren das- Stadtzentrum als wichtige Arbeitsplatz- und Einkaufskonzentration, Gewerbe-/ Industriegebiete, Hochschulen und Freizeiteinrichtungen sowie bei starker Pendlerverflechtung den Bahnhof. • Messgänge/ -fahrten erfolgen zur Hauptverkehrszeit (morgens, spätnachmittags/ abends; hier: 7.00-8.30 Uhr, 16.30- 18.30 Uhr), Normalverkehrszeit (9.00- 15.30 Uhr) sowie abends (ab 20.00 Uhr)/ am Wochenende (Sa. ab 14.30 Uhr, So.); in jeder der drei Zeiten wurden Messfahrten auf den Strecken in beide Richtungen durchgeführt. • Von Haustür zu Haustür wurden Wege zu Fuß, mit konventionellem Fahrrad, Pedelec , ÖPNV (in Hamburg: U-/ S-Bahnen, Busse, auch mit Stadtrad als Ergänzung) und PKW zurückgelegt. • Im nichtmotorisierten Verkehr wurde zusätzlich nach Belastungs- und Verhaltensvorgaben differenziert: Ohne/ mit Gepäcktransport (Fußgänger 4 kg, Radverkehr 8 kg) sowie strikte Verkehrsregelakzeptanz versus „Normalverhalten“ (weder sich selbst noch andere gefährdend oder belästigend). Unter diesen Voraussetzungen wurden insgesamt zwischen 2500 km (Lüneburg) und 5800 km (Hamburg) zurückgelegt. Den Erhebungsaufwand leisteten Seminargruppen mit 20 bis 25 Personen. Erfolgt dieser nicht semesterbegleitend, sondern zeitlich komprimiert wie in Göttingen, erfordert dies den Zeitraum einer Woche. Allerdings zeigte die Auswertung, dass nicht alle Differenzierungen nötig sind. So werden die Messwerte von Fußgängern und Radlern von den unterschiedlichen Verkehrszeiten so gut wie nicht beeinflusst, bei den Radlern spielt der Gepäckeinfluss kaum, bei Pedelecnutzern und Fußgängern gar keine Rolle. Bei Letzteren wirkt sich auch die Differenzierung der Verkehrsregelsensibilität messtechnisch nicht aus. Insgesamt deutet sich an, dass der Erhebungsaufwand ohne Beeinträchtigung der Messergebnisse, abhängig von der städtischen Topographie, um 30 bis 50 % reduzierbar ist. Messergebnisse Die Reisezeit besteht aus der Unterwegszeit im Hauptverkehrsmittel, aus Zugangswegen zum Stellplatz/ zur Haltestelle und zum Zielort sowie etwaigen Wartezeiten. Geh- und Wartezeiten wurden als „nicht fahrwegbezogener Zeitaufwand“ (nfZ) zusammengefasst und bilden in Reisezeitgraphiken den Ordinatenabschnitt. Die Durchschnittsgeschwindigkeit des Hauptverkehrsmittels bestimmt die Steigung der Reisezeitlinie. Die Abszisse repräsentiert Luftlinienentfernungen, denn nur diese sind zwischen allen Verkehrsmitteln gleich, während die Realdistanzen der gewählten Routen aufgrund unterschiedlicher Netzdurchlässigkeit variieren (Tabelle 1). Bild 1 zeigt das Reisezeitdiagramm für Lüneburg (im Erhebungszeitraum 72 000 Ew.). Dies kann auch exemplarisch für die anderen Experimentorte gesehen werden, da die grundlegende Abfolge der Geschwindigkeitsvorteile in allen Orten gleich ist: Im untersten Distanzbereich ist man zu Fuß gegenüber allen anderen Verkehrsteilnehmern im Vorteil. Schon nach 130 bis 150 m sind Radelnde schneller, der PKW nach rund 400 m. Letzterer bietet nach dem Radverkehr bei längeren Distanzen die schnellste Option. Der ÖPNV schneidet hinsichtlich der Reisezeit im Vergleich zu KFZ- und Radverkehr eher ungünstig ab. In Lüneburg und Göttingen, wo der ÖPNV durch inner- 4,815 2,090 0,407 1,056 0 5 10 15 20 25 30 35 40 0 1 2 3 4 5 6 7 8 Zeit [min] Weg [km] 0,132 km Pedelec/ Fuß 0,146 km Rad/ Fuß Lüneburg Hamburg Göttingen Zu Fuß 124,04 % 116,71 % 127,14 % Fahrrad 124,70 % 126,27 % 136,04 % Pedelec 125,88 % 117,73 % 136,04 % PKW 139,70 % 147,15 % 152,79 % (HH: Metro-) Bus 160,37 % 132,78 % 144,14 % U/ S + Bus/ Fuß - 153,03 % - U/ S + Fahrrad - 145,37 % - U/ S + Stadtrad - 141,27 % - Tabelle 1: Abweichung gegangener/ gefahrener Realentfernungen zur für alle Verkehrsmittel gleichen Luftliniendistanz Bild 1: Reisezeitexperiment Lüneburg-2012 NfZ in Min. Luftliniengeschwindigkeit, km/ h Realdistanzgeschwindigkeit, km/ h LG HH GÖ LG HH GÖ LG HH GÖ Fuß 0 0 0 4,45 4,13 3,84 5,11 4,87 4,89 Rad 1,51 1,23 0,91 13,97 10,04 11,53 17,26 11,79 14,00 Pedelec 1,49 1,63 0,96 17,50 14,52 14,98 21,82 16,82 18,81 PKW 4,86 4,64 2,75 21,91 21,64 21,74 30,44 31,60 29,15 Bus 10,68 18,76 11,77 11,93 11,46 11,43 20,94 19,76 16,22 U/ S + Bus/ Fuß - 21,00 - - 20,26 - - 32,40 - U/ S + Fahrrad - 15,54 - - 25,01 - - 36,48 - U/ S + Stadtrad - 18,89 - - 15,21 - - 22,57 - Tabelle 2: Geschwindigkeitsmessergebnisse, gemittelt über alle Strecken, Zeiten und Verhaltensvorgaben Internationales Verkehrswesen (69) 4 | 2017 37 Modal Split MOBILITÄT städtischen Busverkehr geprägt ist, sind die Reisezeiten im Vergleich zum Radverkehr nicht konkurrenzfähig. Dies ist neben niedrigen Geschwindigkeiten auch durch hohe Geh- und Wartezeiten bedingt. Interessant ist die starke Schnittpunktverschiebung durch Elektrifizierung des Fahrrades: Während man mit dem konventionellen Rad gegenüber dem Auto bis zu einer Entfernung von 2,09 km im Vorteil ist, bringt es das Pedelec auf über 4,8 km. Bei den beiden Differenzierungen Cityverkehr und Hauptverkehrszeit steigt der Attraktivitätsradius des Pedelecs gegenüber dem Auto sogar auf 10 bis 11 km Luftlinie, womit man selbst aus den Vororten Lüneburgs schneller irgendwo im Stadtgebiet ist als per Auto. Die Vergrößerung des Reisezeitvorteils auf der linearen Strecke von 2,09 auf 4,8-km entspricht einer Ausdehnung des Attraktivitätsradius um 130 %, obwohl die Durchschnittsgeschwindigkeit des E-Fahrrades „nur“ um 25 % höher liegt (vgl. Tabelle 2) - vor allem bedingt durch stark geminderte Steigungs- und Gegenwindeinflüsse und eine rasche Wiederbeschleunigung nach Stopps. Rechnet man den Radius in die Fläche um (π · r 2 ), ergibt sich eine Verfünffachung des Attraktivitätsbereiches von 13,7 auf 72,8 km 2 . Die starke Wirkung des Pedelecs in den Reisezeitstrukturen liegt an der Geometrie linearer Funktionen: Verlaufen zwei Geraden ähnlich und schneiden sie sich in einem flachen Winkel, so bewirkt eine geringe Änderung der Steigung (= Geschwindigkeit) bei einer Geraden bereits eine deutliche Verschiebung des Schnittpunktes. Dieselbe Wirkung hat eine Variation des Ordinatenabstandes. So bewirkte die große innerstädtische Verkehrsberuhigung in Lüneburg 1993 eine Erhöhung des nfZ beim PKW von einer Viertelminute. Die veränderten Reisezeitrelationen zogen eine erdrutschartige Verringerung des PKW- Verkehrs um 14,5 % nach sich; sein Wert im Modal Split nahm um 7,7 % in den Verkehrszählungen und bei den Befragungen sogar um 13,2 % ab [4] - der Wandel Lüneburgs zur „Radfahrerstadt“, wie es in den Lokalmedien heißt, war damit eingeleitet. Weniger radverkehrsgünstig fielen die Ergebnisse in Hamburg (1,8 Mio. Ew.) und Göttingen (116 000 Ew.) aus. Zwar bestätigte sich die Beschleunigungswirkung des Pedelecs, die Attraktivitätsbereiche lagen im Vergleich zum PKW auch in diesen Städten bei mindestens dem Doppelten des konventionellen Fahrrades, jedoch auf viel niedrigerem Ausgangsniveau. In Hamburg wird der Reisezeitvorteil des normalen Fahrrades vom Auto schon nach 1 km egalisiert und auch das Pedelec ist nur bis zu 2,1- km günstiger (Bild 2). Hier schlagen sich die deutlich autoaffineren Strukturen der Hansestadt nieder mit zahlreichen Verkehrsachsen, die die Stadtfläche mit zwei Fahrspuren pro Richtung und grünen Ampelwellen erschließen. Demgegenüber wird das Fahrrad meist auf Ra(n)dwege im Konflikt mit parkenden Fahrzeugen und Fußgängern verdrängt. Die deutlich gehemmte Fortbewegung der Nichtmotorisierten gewährt dem gut ausgebauten Hamburger U- und S-Bahnnetz, im mittleren Distanzbereich dem Zweiradverkehr überlegen zu sein. Am schnellsten im Umweltverbund ist dabei die Kombination aus ÖPNV und mitgenommenem Fahrrad. Sie ist die einzige ÖV-Variante, die dem Auto reisezeittechnisch Konkurrenz machen kann, wenn auch nur beim citybezogenen Verkehr und erst ab einer Luftliniendistanz von 11,2 km. Die Ergebnisse in Göttingen (Bild 3) liegen nahe an denen in Hamburg - mit einer Ausnahme: Bei den Citystrecken schnitten das konventionelle Fahrrad und erst recht das Pedelec deutlich besser ab als in den beiden anderen Städten. Ihr Schnelligkeitsvorteil gegenüber dem PKW lag bei 4,25 km Luftlinie für das Fahrrad ohne und 71 km (! ) mit elektrischer Trittunterstützung, wobei der letztgenannte Wert wegen Überschreitung des Stadtbereiches nur ein rechnerischer ist. Die Ursache für die Abweichung gegenüber den beiden anderen Untersuchungsstädten liegt in der am weitesten fortgeschrittenen Verkehrsberuhigung im Stadtkern. Spätestens hier zeigt sich: Die Schnelligkeitsrelationen der Verkehrsmittel werden in erheblichem Maße von den politisch/ planerisch initiierten Strukturen beeinflusst mit erheblicher Wirkung auf die Gunst/ Ungunst von Transportmitteln. Dies zeigte sich auch in einem weiteren Detail: Während in Lüneburg und Hamburg die Differenzierung „Normalverhalten“ versus „strikte Verkehrsregelakzeptanz“ deutliche Unterschiede in den Radlergeschwindigkeiten generierte, tauchte derartiges in Göttingen kaum auf - Durchfahrerlaubnisse bei Einbahnstraßen und Gehwegen/ Fußgängerbereichen, Durchfahrverbote nur für KFZ (StVO-Zeichen 260 statt 250), Flexibilisierung bei Abbiegegeboten und die Kennzeichnung unechter Sackgassen bewiesen in ihrer sensiblen und flächigen Anwendung die Möglichkeit einer radlerfreundlichen Umsetzung von Ordnungsrecht. 2,115 1,081 1,801 6,275 4,119 1,297 0,230 7,970 0 5 10 15 20 25 30 35 40 0 1 2 3 4 5 6 7 8 Zeit [min] Weg [km] (ÖPNV hier in Kombination mit Stadtteilbus/ Fuß und Mitnahmefahrrad für Zu-/ Abgang) 0,159 km Rad/ Fuß 0,398 km Pedelec/ Fuß Bild 2: Reisezeitexperiment Hamburg 2012/ 2013 2,451 km 0,961 km 0,226 km 1,186 km 0 5 10 15 20 25 30 35 40 0 1 2 3 4 5 6 7 8 Zeit [min] Weg [km] 0,085 km Pedelec/ Fuß 0,090 km Rad/ Fuß 0,040 km Rad/ Pedelec Bild 3: Reisezeitexperiment Göttingen 2013 Realdistanz Internationales Verkehrswesen (69) 4 | 2017 38 MOBILITÄT Modal Split Wegeprotokolle und Reisezeitfrage in Göttingen Bei der individuellen Verkehrsmittelwahl sind nicht ausschließlich die realen Reisezeiten entscheidend, sondern wie die unterschiedlichen Zeitbedarfe von den Verkehrsteilnehmern wahrgenommen werden. Zwar ist anzunehmen, dass sich Realität und Einschätzung über die Zeit annähern - umso rascher, je „multimodaler“ das Verkehrsverhalten ist -, aber lässt sich dies verifizieren? Die LK Argus Kassel GmbH führte im Auftrag der Stadt Göttingen und des ZVSN eine Mobilitätsbefragung der Haushalte in der Stadt und den Nachbargemeinden Rosdorf und Bovenden durch ([2], Nettostichprobe n = 5956 Personen). Die Befragung beinhaltete das Führen von Wegeprotokollen für einen Stichtag und ergänzend Fragen zu Gründen der Verkehrsmittelwahl sowie zur Einschätzung von Reisezeiten mit verschiedenen Verkehrsmitteln für bis zu drei ausgewählte Wege des Stichtags. Auch bei den Wegeprotokollen wurden keine „objektiven“ Wegelängen und Reisezeiten auf Basis der Angaben zu Quelle und Ziel ermittelt, sondern die Einschätzungen der Befragten zu Wegelängen und Wegedauern übernommen. Die Erhebung belegt zum einen die Dominanz schnelligkeitsbezogener Motive bei der Verkehrsmittelwahl. So wird von der Göttinger Bevölkerung bei Nutzung der Verkehrsmittel Fahrrad und PKW mit jeweils etwa ein Drittel der Meldungen der Grund Zeit/ Schnelligkeit am häufigsten genannt. Aus den Angaben zu Wegelängen und Reisezeiten lassen sich die eingeschätzten Durchschnittsgeschwindigkeiten berechnen und den Werten des Reisezeitexperimentes gegenüberstellen (Tabelle 3). Eine direkte Vergleichbarkeit ist dabei nicht möglich, da in der Haushaltsbefragung der nfZ (nicht fahrwegbezogener Zeitaufwand, d. h. Geh- und Wartezeiten) nicht explizit erhoben wurde und im Nachhinein nicht sauber aus den Angaben herauszurechnen ist. Dennoch zeigt sich in der Tendenz eine gute Übereinstimmung. Am deutlichsten ist dies beim Fußverkehr, der keinen nfZ enthält, die anderen Geschwindigkeiten liegen ohne Berücksichtigung des nfZ gleichmäßig unterhalb der Ergebnisse des Reisezeitexperiments. Dies zeigt, dass die real anzutreffenden Reisezeitrelationen im Durchschnitt auch tatsächlich wahrgenommen werden. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass sich bei der Reisezeitfrage, bei der die Wege, für die Angaben gemacht wurden, von den Befragten selbst ausgewählt wurden, insgesamt höhere Geschwindigkeiten ergeben als bei den Wegeproto- Experimentgeschwindigkeiten Berechnete Geschwindigkeiten der Haushaltsbefragung zum Mobilitätsverhalten Luftliniendistanz Realdistanz nach Wegeprotokollen nach Reisezeitfrage, Realdistanz Luftliniendistanz Realdistanz Fuß 3,84 4,89 3,21 4,83 5,48 Rad 11,53 14,00 8,10 11,88 12,84 Pedelec 14,98 18,81 10,34 14,24 15,65 PKW 21,74 29,15 12,62 20,36 22,59 Bus 11,43 16,22 6,60 11,33 15,09 Tabelle 3: Verkehrsmittelgeschwindigkeiten in Göttingen gemäß Reisezeitexperiment und Haushaltsbefragung im Vergleich 3% 34 min. 37% 16 min. 42% 12 min. 16% 21 min. zu Fuß Fahrrad Pedelec Moped, Motorrad Pkw Bus 38 13 13 14 28 0 10 20 30 40 50 zu Fuß Pedelec Moped, Motorrad Pkw Bus Zeit in Minuten Verkehrsmittel 41 19 15 13 35 0 10 20 30 40 50 zu Fuß Fahrrad Pedelec Moped, Motorrad Bus Zeit in Minuten Verkehrsmittel 43 18 14 13 13 0 10 20 30 40 50 zu Fuß Fahrrad Pedelec Moped, Motorrad Pkw Zeit in Minuten Verkehrsmittel Bild 4: Angaben zur durchschnittlichen Reisezeit nach Verkehrsmittel für Wege zwischen 3 bis unter 5 km Länge und Einschätzungen zur Reisezeit alternativer Verkehrsmittel Quelle: [2] 75 28 7 3 2 25 20 44 33 20 9 4 31 0,2 0,5 0,5 0,3 0,5 1,1 0,4 4 22 43 56 62 67 33 0,5 5 16 21 26 27 12 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% Verkehrsmittelwahl Göttingen (Binnenwege) nach Wegelängen in % zu Fuß Fahrrad Pedelec Pkw Bus Bild 5: Verkehrsmittelwahl der Göttinger Bevölkerung auf Wegen innerhalb von Göttingen (Binnenwege) nach Wegelängen (Basis Wegeprotokolle der Haushaltsbefragung Göttingen 2015/ 2016) Internationales Verkehrswesen (69) 4 | 2017 39 Modal Split MOBILITÄT kollen. Gleichzeitig sind die Einschätzungen der Reisezeiten zu den alternativen, nicht genutzten Verkehrsmitteln häufig ungünstiger als von den Nutzern (siehe auch Bild 4). Beim Bus wird dies am deutlichsten: So geben die Busnutzer an, für einen Weg zwischen 3 und 5 km 21 Minuten zu benötigen, die Einschätzungen zur Reisezeit mit dem Bus liegen dagegen beim Fahrradfahrer bei 28 Minuten, beim PKW-Nutzer bei 35 Minuten. Die Verkehrsmittelwahl hat auch etwas mit der Wahrnehmung von Reisezeiten der aktuell nicht genutzten Verkehrsmittel zu tun. Bild 5 zeigt für alle Wegelängen auf Wegen innerhalb Göttingens, wie die Reisezeiten mit der Verkehrsmittelwahl korrelieren. So dominiert der Fußgängerverkehr im Distanzbereich bis 1 km. Im Bereich von 1 bis 3-km Wegelänge hat das Fahrrad den höchsten Anteil, der Fußgängeranteil ist noch leicht überdurchschnittlich, die Busnutzung beginnt. Zwischen 3 und 5 km überwiegt der motorisierte Verkehr (einschließlich Busverkehr) bereits leicht, in den Entfernungsklassen darüber nimmt dessen Dominanz weiter zu. Ab einer Entfernung von 5 km wird der Bus häufiger als das Fahrrad genutzt, der PKW ist mit 56 % Anteil das dominierende Verkehrsmittel. Diese Dominanz nimmt mit den Entfernungen ab 7 km bzw. 10 km weiter zu. Die Anteile des Busverkehrs wachsen mit den Entfernungen ebenfalls an. Die Ergebnisse der Haushaltsbefragung zum Mobilitätsverhalten in Göttingen passen gut zu den Experimentresultaten in Göttingen. Hierbei darf man die Schnittpunkte der Reisezeitlinien nicht als scharfe Ausschlussgrenzen der Attraktivitätsbereiche missverstehen, denn das Verkehrsmittelwahlverhalten wird neben den Reisezeiten auch durch andere Faktoren beeinflusst. Zu nennen sind hier insbesondere die Verkehrsmittelverfügbarkeit und verschiedene weitere Auswahlmotive (Gewohnheit, Gepäcktransport, gesundheitliche Einschränkungen etc.), die dazu führen, dass auch andere Verkehrsmittel als die jeweils schnellsten genutzt werden (siehe auch Bild 6). Fazit Es hat sich gezeigt, dass Reisezeitexperimente die Schnelligkeitsrelationen von Transportvarianten und damit einen sehr wichtigen Aspekt von Verkehrsmittelqualitäten quantitativ abbilden können; die Werte sind sowohl zwischen Städten als auch im Zeitabstand, z. B. als Maßnahmenevaluierung, vergleichbar. Es läge nahe, die Methodik künftig ergänzend zu Modal-split-Erhebungen einzusetzen, um nicht nur Aufschluss über die Verkehrsstruktur, sondern auch deren Gründe zu erhalten. Die Haushaltsbefragung in Göttingen konnte hierzu belegen, dass die Reisezeitrelationen wahrgenommen werden und mit der Verkehrsmittelwahl korrelieren. Bei grundsätzlicher Ähnlichkeit der Abfolge der schnellsten Verkehrsmittel unterscheiden sich die Attraktivitätsradien zwischen den Experimentstädten sowie in der Differenzierung nach Zielorten und Verkehrszeiten erheblich. Die Ausprägung des Verkehrssystems pro MIV oder pro Umweltverbund hat dabei einen erheblichen Einfluss. Die Elektrifizierung des Radverkehrs birgt große Chancen für Zugewinne des Radverkehrs im Modal Split zu Lasten des PKW und könnte damit die Umwelt- und Sozialverträglichkeit des Stadtverkehrs wesentlich verbessern. Die volle Ausprägung dieses Potenzials gelingt jedoch nur in einer Kombination aus radverkehrsfreundlicher Politik/ Planung und KFZ-Verkehrsberuhigung z. B. durch PKW-verdrängende Maßnahmen in Stadtzentren, zentralisiertes Quartierparken statt Parken vor der Haustür in Wohngebieten sowie die Senkung der Geschwindigkeiten auf der Strecke. ■ QUELLEN [1] Franzen, A. (1997): Umweltbewusstsein und Verkehrsverhalten. Empirische Analysen zur Verkehrsmittelwahl und der Akzeptanz umweltpolitischer Maßnahmen. Rüegger, Chur (Schweiz). Gorr, H. (1997): Die Logik der individuellen Verkehrsmittelwahl. Theorie und Realität des Entscheidungsverhaltens im Personenverkehr. Focus, Gießen. Held, M. (1982): Verkehrsmittelwahl der Verbraucher. Beitrag einer kognitiven Motivationstheorie zur Erklärung der Nutzung alternativer Verkehrsmittel. Wirtschaftspsychologische Schriften der Universitäten München und Augsburg 8. Duncker u. Humblot, Berlin. Pez, P. (1998): Verkehrsmittelwahl im Stadtbereich und ihre Beeinflußbarkeit. Eine verkehrsgeographische Analyse am Beispiel von Kiel und Lüneburg. Kieler Geographische Schriften 95. Univ. Kiel, Geogr. Inst., Kiel. Preisendörfer, P. (1999): Umweltbewusstsein und Verkehrsmittelwahl. Berichte der Bundesanstalt für Straßenwesen 113. Wirtschaftsverlag NW, Bergisch Gladbach. [2] LK Argus Kassel GmbH im Auftrag der Stadt Göttingen sowie des Zweckverbandes Verkehrsverbund Süd-Niedersachsen: Haushaltsbefragung zum Mobilitätsverhalten 2015/ 2016 Göttingen/ Rosdorf/ Bovenden.www.goettingen.de/ staticsite/ staticsite.php? menuid= 1239&topmenu=274 [3] BMVBS - Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (2012a): Bremen - Erreichbarkeit der Innenstadt Bremen. Untersuchung unterschiedlicher Verkehrsmittel abgeschlossen. Verfügbar unter http: / / www.nationaler-radverkehrsplan.de/ neuigkeiten/ news.php? id=3621. Zugegriffen: 01.03.2017. Verwiesen wird dort auf die Studie ADAC Weser-Ems e. V. ADAC Test „Erreichbarkeit der Innenstadt Bremen“. Eine Untersuchung unterschiedlicher Verkehrsmittel in Zusammenarbeit mit Radio Bremen. Bremen 2012. Der Link zu der 8-seitigen pdf-Zusammenfassung ist jedoch nicht mehr aktiv. BMVBS - Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (2012b): Mecklenburg-Vorpommern - Fahrrad und Pedelec sind laut „Schweriner Versuch“ die sinnvollsten Pendlerfahrzeuge im Stadt-Umland-Verkehr. Verfügbar unter http: / / www.nationalerradverkehrsplan.de/ neuigkeiten/ news.php? id=3881. Zugegriffen: 01.03.2017. [4] Pez, P. (2000): Verkehrsberuhigung in Stadtzentren. Ihre Auswirkungen auf Politik, Ökonomie, Mobilität, Ökologie und Verkehrssicherheit - unter besonderer Berücksichtigung des Fallbeispiels Lüneburg. Archiv für Kommunalwissenschaften 39. Jg., Heft 1, 2000, S.-117-145, hier: S. 137. Antje Janßen, Dipl.-Ing. Geschäftsführerin, LK Argus Kassel GmbH, Kassel janssen@lk-argus.de Peter Pez, Apl. Prof. Dr. Institut f. Stadtu. Kulturraumforschung, Leuphana Universität Lüneburg pez@uni.leuphana.de 1,1 1,1 1,7 2,4 2,9 3,2 5,3 5,6 6,1 6,4 8,1 8,4 9,3 10,4 13,2 13,7 0% 10% 20% 30% Topographie Sicherheit Wegekette gesundheitliche Einschränkung Transport Flexibilität schlechte Parkplatzmöglichkeiten Entfernung gutes ÖPNV-Angebot Umweltschutz Kosten Bequemlichkeit Wetter kein anderes verfügbares Verkehrsmittel subjektiv beste Lösung/ Gewohnheit Zeit/ Schnelligkeit Bus Bild 6: Hauptgründe für die Wahl des Verkehrsmittels Bus in Göttingen Quelle: [2]