eJournals Internationales Verkehrswesen 69/4

Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2017-0099
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Mehr Sicherheit im Verkehr ist machbar

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Sofia Salek de Braun
Unfälle im Straßenverkehr entstehen nur durch menschliches Versagen – so die allgemeine irrige Annah- me. Die Realität spricht eine andere Sprache.
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Internationales Verkehrswesen (69) 4 | 2017 56 TECHNOLOGIE Verkehrssicherheit Mehr Sicherheit im Verkehr ist machbar Unfallschwerpunkt, Black Spot, Unfalltypen, Infrastruktur, Verkehrsmodell Unfälle im Straßenverkehr entstehen nur durch menschliches Versagen - so die allgemeine irrige Annahme. Die Realität spricht eine andere Sprache. Sofia Salek de Braun H äufig sind Unfälle keine zufälligen Ereignisse, die ausschließlich zurückzuführen sind auf einen Fehler der Unfallbeteiligten, vielmehr spielen andere Faktoren und Ursachen eine entscheidende Rolle. Kommt es an einer bestimmten Kreuzung oder einem Streckenkorridor gehäuft zu Unfällen, lohnt ein genauer Blick auf Unfalltyp und weitere Umstände. Gibt es möglicherweise Defizite in der Infrastruktur oder ist an dieser Stelle die Verkehrsregelung unklar? Der mittlerweile pensionierte Verkehrssicherheits-Ingenieur Franz Schilberg war der erste, der diesen neuen Ansatz systematisch anging. Der „Vater der Unfalltypensteckkarte“ erkannte nicht nur die Problematik der Unsicherheiten im Straßenverkehr aus Sicht von Straßenbau und Verkehrstechnik, er definierte vor allem einen Unfalltypenkatalog zur Aufdeckung von Unfallursachen. Bis heute ist der Typenkatalog bundesweiter Standard für Unfallstatistiken. Die von ihm initiierten Unfalllisten und Unfalldiagramme sind nach wie vor Grundlage für örtliche Unfalluntersuchung mit dem Ziel, den Unfallort näher zu untersuchen und Gegenmaßnahmen zu entwickeln. Heute arbeiten Polizei und die Unfallkommissionen dafür mit einer elektronischen Unfalltypenkarte. Eine Anwendung, die in elf von 16 Bundesländern bereits Standard ist, ist PTV Vistad-Euska. Mit dem modernen Softwaresystem erfasst man Verkehrsunfalldaten, validiert sie und wertet sie aus (Bild 1). Die Software visualisiert die Unfälle sekundenschnell per Mausklick auf einer Karte. Selbst Unfallskizzen können direkt im System angezeigt werden. So genannte Unfallhäufungsstellen werden dann von den Unfallkommissionen in den Bundesländern und Kommunen mithilfe dieser Skizzen untersucht. Auf Basis der gewonnenen Erkenntnisse sprechen die Unfallkommissionen den verantwortlichen Stellen Empfehlungen für sicherheitswirksame Maßnahmen aus. Der Bedarf zur Reduzierung des Unfallgeschehens ist nicht nur in Deutschland spürbar. Verkehrssicherheit spielt überall auf der Welt eine große Rolle. Basel - Die verkehrssicherste Stadt-der Welt Die Kantonpolizei Basel-Stadt, Abteilung Verkehr, hat eine Vision: Sie möchten die verkehrssicherste Stadt der Welt werden. Die verkehrssicherste Stadt der Schweiz sind sie bereits. Gemeinsam mit St. Gallen teilen sie sich laut dem Schweizer Bundesamt für Straßen (ASTRA) den ersten Platz. 1 Seit Jahren setzt sich die Schweiz ein für erhöhte Sicherheit auf ihren Straßen. Die Bemühungen tragen Früchte: Laut AS- TRA sind die Unfallzahlen konstant rückläufig. Um die Verkehrssicherheit weiter zu verbessern und „Vision Zero“ - Ziel: null Verkehrstote - einen Schritt näher zu kommen, verabschiedete das Schweizer Parlament 2012 das Handlungsprogramm „Via Sicura“. Konkret: Die Zahl der lebensgefährlich und schwer Verletzten soll in den kommenden Jahren um 25% reduziert werden. Im Jahr 2016 wurden im Straßenverkehr 216 Verkehrstote und 3785 Schwerverletzte verzeichnet. 2 Im weltweiten Vergleich liegt die Schweiz ganz weit vorne. Gemeinsam mit Norwegen wurde sie 2017 mit dem PIN Award des Europäischen Verkehrssicherheitsrats (ETCS) ausgezeichnet. Damit wurden die Bemühungen der letzten Jahre honoriert. Dank vieler Aktionen und beharrlicher Anstrengung konnte die Anzahl der im Straßenverkehr getöteten Personen zwischen 2010 und 2016 sogar um 34 % reduziert werden. 3 Bild 1: Heat-Map und statistische Auswertung von Unfällen in PTV-Vistad - Euska Bild 2: Analyse von Unfallhäufungsstellen mit PTV Visum Internationales Verkehrswesen (69) 4 | 2017 57 Verkehrssicherheit TECHNOLOGIE Besonders aktiv treibt die Umsetzung der „Via Sicura“ die Kantonspolizei Basel- Stadt voran. Dafür setzt sie konsequent Maßnahmenpakete um und erzielt positive Effekte. Selbstverständlich sind die Grundsätze der Verkehrssicherheit (Geschwindigkeit, Licht, Vortrittsregelung) fester Bestandteil polizeilicher Kontrollen. Zusätzlich werden Kinder aller Altersklassen in den Schulen direkt aufgeklärt. Die Öffentlichkeit wird mittels Plakaten und Flyeraktionen für dieses Thema sensibilisiert. Die von der ASTRA geforderten Infrastruktur- Sicherheitsinstrumente (ISSI) werden nun nach und nach im Betrieb eingeführt und weiterentwickelt. 4 Längst ist Verkehrssicherheit in der Stadt Basel ein fester Bestandteil der Verkehrsplanungsprozesse und wird ganzheitlich umgesetzt. Dafür arbeitet die Abteilung Verkehr seit kurzem mit einem Verkehrsmodell in PTV Visum (Bild 2). Dieses ist ein Abbild der vorliegenden verkehrlichen Realität. Es ist unterteilt in die Bezirke des Stadtgebiets und enthält das aktuelle Verkehrsangebot, die Siedlungsstruktur (Wohnstätten, Arbeitsplätze) und das Mobilitätsverhalten. Zusätzlich wurden die Unfalldaten der Kantonpolizei Basel-Stadt eingepflegt. Die seit 2011 gesammelten 3300 Einträge wurden auf die Netzstruktur umgelegt und zeigen nun Unfallhäufungsstellen, kritische Straßenabschnitte mit erhöhter Unfallgefahr (Unfallschwerpunkte). Die Unfälle und Netzdaten werden dann zur Unfallprognose und -analyse herangezogen. So können die besonders kritischen Stellen im Netz nach ihrer verkehrlichen Bedeutung bewertet und anhand farblicher Streckenmarkierungen gekennzeichnet werden. Interaktive Tabellen identifizieren Auffälligkeiten und unterstützen die Polizei bei der Erstellung eines Dringlichkeitsrankings. Das sogenannte Network Safety Management (NSM) hilft dabei, potenzielle Verbesserungen der Infrastruktur an den identifizierten Netzabschnitten auch hinsichtlich vermeidbarer Unfallkosten zu evaluieren. Ausgerüstet mit den entsprechenden Tools will die Kantonpolizei Basel-Stadt auch die Verkehrslenkung bei Baustellen optimieren. Dafür setzt die Abteilung Verkehr auf das sogenannte Road Safety Impact Assessment (RIA), das eine Risikobewertung bestehender sowie zukünftiger Infrastruktur ermöglicht. Vereinfachte Unfallprognosemodelle in PTV Visum Safety können für verschiedene Straßentypen angelegt werden. Durch die Angaben zu den Verkehrsmengen aus dem Verkehrsmodell kann eine Bilanz gezogen werden hinsichtlich des prognostizierten Unfallgeschehens für einzelne Straßen oder das komplette Netz. Außerdem können verschiedene Szenarien im Vorfeld untersucht werden. Bei strukturellen Bauvorhaben ist die sicherste Planungsvariante jene, die am effektivsten Unfälle verhindern kann. Bereits vorliegend, aber noch nicht aktiv im Modellgebrauch, sind Radverkehrsdaten. Road Safety Bolivia Während die Schweiz bereits spürbare Verbesserungen mit den eingeleiteten Maßnahmen erzielt, steckt das Thema „Verkehrssicherheit“ in vielen südamerikanischen Ländern noch in den Kinderschuhen. Wenn es um die Verkehrssicherheit geht, verzeichnet Lateinamerika die weltweit höchste Rate an Todesfällen im Straßenverkehr. Gemäß Angaben der Roads Kill Map sterben auf den Straßen Boliviens jährlich 23,2 Menschen pro 100 000 Einwohner. Nicht nur für die Behörden stellt diese Zahl ein Problem dar - sie betrifft jeden einzelnen Bürger. Mit einem Team von Experten aus Wissenschaft, NGOs und der Industrie reiste PTV Ende 2016 ins bolivianische Santa Cruz mit dem Ziel, in praxisorientierten Workshops alle beteiligten Institutionen für das Thema Verkehrssicherheit zu sensibilisieren (Bild 3). Die Reaktionen der Öffentlichkeit und der Behörden vor Ort waren überwältigend. 5 Zum ersten Mal saßen Mitglieder der nationalen, regionalen und lokalen Regierungen gemeinsam mit Vertretern von Polizei, Universitäten, Industrie, Medien und ehrenamtlichen Organisationen an einem Tisch - ein Novum in Bolivien. Gemeinsam mit dem Expertenteam analysierten sie die aktuelle Ist-Situation, lernten neue positive Beispiele und Methoden kennen und erarbeiteten zum Schluss einen Aktionsplan - eine sogenannte „Verkehrssicherheitscharta für Bolivien“, zugeschnitten auf die individuellen Bedürfnisse des Landes, die nun Schritt für Schritt umgesetzt wird. Auf Grund der positiven Resonanz entschloss sich die lateinamerikanische Entwicklungsbank Corporación Andina de Fomento (CAF), den Erfolg durch konkrete Schritte auszubauen. Finanzielle Unterstützung erfährt die CAF dafür von der Global Road Safety Facility (GRSF) - einem Partnerschaftsprogramm der Weltbank. Diese Mittel werden genutzt, um nationale, regionale und kommunale Regierungen in Bolivien bei der Realisierung ihrer Pläne zur Verbesserung der Verkehrssicherheit zu unterstützen. Seit dem Frühjahr 2017 setzt die CAF die Verkehrssicherheitscharta kontinuierlich um und positioniert Verkehrssicherheit als wichtiges Thema, das bei der Infrastrukturentwicklung des Landes berücksichtigt werden soll. Ende März startete die Initiative mit den ersten Kick-Off-Meetings zur Ermittlung der dringlichsten Aspekte. Ziel ist es, schnellstmöglich mit der Umsetzung zu beginnen und die Verkehrssicherheit in Bolivien einen großen Schritt voranzubringen. ■ 1 www.astra.admin.ch/ astra/ de/ home/ dokumentation/ unfalldaten/ staedtevergleich-verkehrssicherheit.html 2 www.astra.admin.ch/ astra/ de/ home/ themen/ verkehrssicherheit/ via-sicura.html 3 www.bfu.ch/ de/ die-bfu/ kommunikation/ medien/ strassenverkehr/ autofahrer/ autofahrer/ preis-fuer-verkehrssicherheit-ist-auch-eine-verpflichtung http: / / etsc.eu/ 20-june-2017-road-safety-performance-index-pin-conference-brussels http: / / etsc.eu/ 11th-annual-road-safety-performance-index-pin-report-2 4 www.astra.admin.ch/ astra/ de/ home/ dokumentation/ unfalldaten/ issi-instrumente.html 5 http: / / compass.ptvgroup.com/ 2016/ 12/ rueckblick-roadsafety-training-in-santa-cruz-bolivia Sofia Salek de Braun Solution Director Traffic Safety, PTV Group, Karlsruhe sofia.salekdebraun@ptvgroup.com Bild 3: Im bolivianischen Santa Cruz wurden alle beteiligten Institutionen für das Thema Verkehrssicherheit sensibilisiert - mit durchweg positiven Reaktionen. Alle Bilder: PTV Group