Internationales Verkehrswesen
iv
0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2018-0017
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2018
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Mobilität als soziales System
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2018
Klaus Füsser
Dieser Artikel beschreibt die Struktur von Mobilitätssystemen und diskutiert Strategien zu deren Beeinflussung. Mobilitätssysteme sind soziale Systeme, die sich eigenwillig nach ihrer System internen Logik verhalten. Sie setzen planerischen Eingriffen große Widerstände entgegen. Oft sind es erst massive Krisen, die Veränderung möglich machen. Dann funktioniert das bekannte Handlungsrepertoire nicht mehr, es muss nach neuen Lösungen gesucht werden. Erfolgreiches Management entwickelt sich dann zum kooperativen Handeln aller Akteure.
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Internationales Verkehrswesen (70) 1 | 2018 55 Mobilitätssysteme MOBILITÄT Mobilität als soziales System Mobilitätsplanung, Systemtheorie, Krise, Systemsprung, Best Practice, kooperatives Handeln Dieser Artikel beschreibt die Struktur von Mobilitätssystemen und diskutiert Strategien zu deren Beeinflussung. Mobilitätssysteme sind soziale Systeme, die sich eigenwillig nach ihrer System internen Logik verhalten. Sie setzen planerischen Eingriffen große Widerstände entgegen. Oft sind es erst massive Krisen, die Veränderung möglich machen. Dann funktioniert das bekannte Handlungsrepertoire nicht mehr, es muss nach neuen Lösungen gesucht werden. Erfolgreiches Management entwickelt sich dann zum kooperativen Handeln aller Akteure. Klaus Füsser V erkehr wird oft als die „Ortsveränderung von Personen, Gütern und Informationen“ bezeichnet, Mobilität als die „Häufigkeit des Unterwegsseins“. Während Verkehrsplanung vorwiegend Verkehrsmittel und Verkehrsanlagen betrachtet, legt Mobilitätsplanung ein besonderes Augenmerk auf die Beeinflussung von Verkehrsteilnehmern. Verkehrsplanung orientiert sich in ihren Theorien eher an technischen Systemen, Mobilitätsplanung an sozialen. Verkehrsplanung betrachtet beispielsweise Kraftfahrzeuge, die von rational handelnden und berechenbaren Maschinenführern gelenkt werden oder Planungsprozesse, die wie ein technischer Regelkreis funktionieren. Technische und soziale Systeme Jede Planerin und jeder Planer erfährt allerdings, dass oft nicht die „beste“ technische Ingenieurslösung zum Zuge kommt, sondern das, was Gesellschaft, Wirtschaft und Politik aushandeln. Die Mobilitätsplanung benötigt daher ein neues theoretisches Basismodell zur Beschreibung von Mobilität und zur Entwicklung von wirksamen Eingriffsmöglichkeiten. Dazu können wir auf die Theorie sozialer Systeme von Niklas Luhmann (vgl. Luhmann, Rosa 173-215) zurückgreifen. Luhmann beschreibt die moderne Gesellschaft als funktional differenziert: In der Neuzeit haben sich aus einem vormodernen Gesamtsystem (feudale Gesellschaft) gesellschaftliche Teilsysteme gebildet. Dies war notwendig, um der zunehmenden Komplexität der Gesellschaft gerecht zu werden. Wichtige Teilsysteme sind u. a. Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Recht. Jedes dieser Systeme arbeitet nach einer eigenen inneren Logik, mit dem es auf äußere Einwirkungen reagiert. So betrachtet das Wirtschaftssystem alles unter dem Blickwinkel des Geldverdienens: Man bekommt bei einer Bank nur einen Kredit, wenn zu erwarten ist, dass man ihn auch zurückzahlen kann, und nicht etwa, weil man ein netter Mensch ist oder für ein ethisch sinnvolles Projekt Geld braucht. Mobilität können wir nicht gänzlich einem der obigen Teilsysteme zuordnen: Güterverkehr könnte man als Teilsystem der Wirtschaft (Logik des Teilsystems: Geld) betrachten, ebenso wie den Personenverkehr als Berufs-, Geschäfts- und Einkaufsverkehr. Der Freizeitverkehr jedoch, der mehr als die Hälfte aller Verkehrsleistungen im Personenverkehr ausmacht, ist eher ein Teilsystem der Gesellschaft (Logik des Teilsystems: Anerkennung). 1 Welchem System Mobilität nun zugeordnet ist, hat erheblichen Einfluss auf Strategien der Mobilitätsplanung und des Mobilitätsmanagements. Während im Wirtschaftssystem das Ziel meist möglichst schnell erreicht werden soll, kann im Gesellschaftssystem der Weg mit seinen Erholungs- und Erlebniseffekten selbst zum Ziel werden. Der Hinweis „Der Weg ist das Ziel“ ist im Stau des motorisierten Berufsverkehrs unpassend, im Freizeitradverkehr auf einer landschaftlich reizvollen Route jedoch sinnvoll. Das Mobilitätssystem wird auch kaum auf Appelle einer ökologischen oder ethischen Dimension reagieren. Es kann als Teilsystem der Wirtschaft allerdings über Reisezeiten und Reisekosten angeregt werden, in der gesellschaftlichen Dimension über Lebensstilvorschläge und Imagewerte. Die Struktur von Systemsprüngen Wenn ein soziales System von seiner Umwelt irritiert wird, reagiert es in seiner eigenen Logik auf diese Herausforderung. Dies funktioniert in der Regel gut, solange Art und Intensität der Störung dem System bekannt sind. Es kann diese leichten Irritationen sinnvoll verarbeiten. Bei außergewöhnlichen BEISPIEL 1: STRUKTUR UND PHASEN DER VERÄNDERUNG Phase 1: Stagnation Bisher hat alles funktioniert. Nun tauchen Probleme und Konflikte auf. Das bisherige Handlungsrepertoire zur Steuerung eines Systems funktioniert nicht mehr. Phase 2: Polarisation Man probiert etwas Neues aus, oft das Gegenteil vom Alten. Vertretern von Altem stehen Vertreter von Neuem gegenüber. Mal setzt sich die eine Seite durch, mal die andere. Es entsteht eine Pattsituation. Oft wird heftig gerungen und gestritten. In der Gesamtbilanz verändert sich jedoch wenig. Phase 3: Diffusion Das System schaukelt sich auf, die Konflikte nehmen zu und dies trotz allen Agierens. Es ist eine Phase der Ratlosigkeit. Niemand weiß mehr, wie den Problemen beizukommen ist. Phase 4: Kontraktion Die Situation kann sich noch weiter zuspitzen. Es gibt offensichtlich zurzeit keine Lösungsmöglichkeit. Letztendlich bleibt nichts anderes übrig, als die Ratlosigkeit zu akzeptieren. In dieser Phase ist es sinnvoll, sich ganz auf das notwendige Alltagsgeschäft zu beschränken, in Kommunikation mit allen wichtigen Akteuren zu bleiben (vor allem auch mit denen, die man bisher als Verursacher des Problems betrachtet hat). Wenig sinnvoll ist es, Großprojekte oder groß angelegte Aktionen durchzuführen. Hilfreich ist oft, viele Verbesserungen in kleinem Maßstab auszuprobieren und zu evaluieren. Phase 5: Expansion Nach dem Phasenmodell folgt der Kontraktion die Expansion. „Am Horizont dämmert eine unerwartete Lösung auf“. Die alte Struktur wird überwunden und das System springt auf eine neue Ebene. Internationales Verkehrswesen (70) 1 | 2018 56 MOBILITÄT Mobilitätssysteme Störungen oder in Situationen, in denen die Eigenlogik des Systems sich von seiner Umwelt so weit entfernt hat, dass es deren Informationen/ Störungen nicht mehr versteht, kann ein System in eine Krise geraten, die ggf. sogar zur Zerstörung des Systems führt (z. B. Dauerstau, Treibstoffverknappung, Klimawandel). Bisherige Lösungsansätze funktionieren dann nicht mehr, neue Lösungen sind noch nicht vorhanden oder werden noch nicht erkannt, manchmal werden altbekannte Lösungsansätze selbst zum Problem, da „ein immer mehr desselben“ ein System in immer größere Krisen treiben kann (Aufschaukeln des Systems). In der Managementtheorie würde man von einem Lock-in eines Entwicklungspfades sprechen (vgl. Steinmann, 262). Lock-in bedeutet, dass die alten Kausalitäten „wenn das geschieht, mache das“ nicht mehr funktionieren. Wenn ein System an eine Grenze gekommen ist, sind Lösungsansätze notwendig, die einen Systemsprung ermöglichen. Lösungsstrategien können sich dann deutlich von dem unterscheiden, was bisher als Lösung funktioniert hat. Oft spricht man dann von Lösungen 2. Ordnung (vgl. Watzlawick u. a. 1974), nämlich Lösungen, die den bisherigen Rahmen sprengen. Ein anregendes Konzept zur Beschreibung der Struktur des Systemsprungs (siehe Beispiel 1) findet man bei Staemmler und Bock. Vom Dorf zum Städtenetz Bis zum Mittelalter war Verkehr ein Verkehr der kurzen Wege, in der Stadt fußläufig und auch im Umland meist auf die Entfernung von einer halben bis ganzen Tagesreise zu Fuß begrenzt. Städte konnten in dieser biologischen Ordnung 2 nur so groß werden, wie das Umland sie versorgen konnte. Das hieß auch, dass ein Verkehrssystem so leistungsfähig sein musste, dass Waren schnell genug (um nicht zu verderben) und effektiv genug (um Transporteure und Zugtiere zu versorgen) in die Stadt gelangen konnten. Mit der Industrialisierung und dem Eisenbahnverkehr wuchsen Städte entlang der Schienenwege, mit dem Kraftfahrzeugverkehr und entsprechender Straßeninfrastruktur noch einmal und vor allem in der Fläche. Im sogenannten „Scrambled Egg City Model“ (nach Cedric Price, britischer Architekt 1934-2003) wird dies beschrieben (Bild 1). Mit einer neuen Phase der Globalisierung entstehen weltweite Verkehrsbeziehungen, die globale Urbanisierung nimmt weiter zu, aus Millionenstädten werden Megastädte und Städtenetze. Heute werden Siedlungen, die ans globale Verkehrsnetz angeschlossen sind, über weltweite Verbindungen ver- und entsorgt. Diese Veränderungen der Stadtstruktur in Abhängigkeit von den zur Verfügung stehenden Verkehrsmitteln können als Systemsprünge des Siedlungs-Verkehrssystems interpretiert werden. Die Kritik an der autoorientierten Planung der Nachkriegszeit führte seit den 1970er Jahren zu einem Paradigmenwechsel in der Verkehrswissenschaft. Generalverkehrsplanung nannte sich nun Verkehrsentwicklungsplanung und suchte auf der Grundlage von zuvor entwickelten und auch gesellschaftlich kommunizierten Zielen, die Zukunft des Verkehrs zu gestalten. In vielen Bereichen war und ist diese Planung erfolgreich: Innenstädte, die man zuvor als verödet bezeichnete (vgl. König; Schubert), werden wieder lebenswert und auch kommerziell erfolgreich. Man spricht von einer Renaissance der Städte. Nachhaltiger Verkehr wurde zu einem Oberziel, man besann sich wieder des ÖPNV und auch des Rad- und Fußverkehrs. Auch sah man die Notwendigkeit, den MIV (Motorisierter Individualverkehr) und bedingt auch den Straßengüterverkehr auf ein sinnvolles Maß zu begrenzen. Die „Stadt der kurzen Wege“ wurde zu einem städtebaulichen Leitmotiv. Dennoch stieg die Motorisierung weiter an, eine Trendwende war nicht abzusehen. Die immer wieder prognostizierte Sättigung im Bereich des PKW-Besitzes sowie im Bereich der Personen- und der Güterverkehrsleistungen ließ und lässt vermutlich auch heute noch weiter auf sich warten. 3 Während in der BRD in den letzten Jahren in vielen Bereichen der Wirtschaft die CO 2 -Emissionen trotz Wirtschaftswachstum deutlich sanken 4 , sind im Verkehrssektor kaum Einsparungen zu verbuchen. Dies liegt neben anderem an der Zunahme europäischer Ost-West-Verkehre sowie globaler (Güter-)Verkehre seit den 1990er Jahren. Heute wird eine geringe Erhöhung des Wirtschaftswachstums mit stark überproportionalem Gütertransport bezahlt. 5 Im Personenverkehr ist die Lage anders, jedoch nicht viel besser: Während auf der einen Seite ein Markt für emissionsärmere Personenkraftwagen und emissionsfreie Fahrräder etabliert wurde, entwickelte sich der Verkauf wenig nachhaltiger SUVs deutlich überproportional. Den gedanklichen Paradigmenwechsel in der Verkehrsplanung wird man noch nicht als Systemsprung bezeichnen können. Er lässt sich eher mit der Phase der Polarisation innerhalb der Struktur der Veränderung beschreiben. Kräfte stehen sich gegenüber, es geschieht „Positives“ und „Negatives“, in der Gesamtschau bleibt es allerdings beim Patt. Der aktuelle „Dieselskandal“ deutet darauf hin, dass Mobilitätssysteme in die Phase der Diffusion oder Kontraktion eingetreten sein könnten. Hier entscheidet sich dann, ob der Systemsprung gelingt oder das System im Alten verhaftet bleibt und untergeht (vgl. Grabitz). Allen ist heute bewusst, dass Verkehr und Stadt Bestandteil eines gemeinsamen Systems sind. Dieses System wird durch die Integration menschlichen Verhaltens zum sozialen System, zum Mobilitätssystem. Das wurde in Zeiten des ungebremsten Straßenbaus noch nicht so deutlich gesehen. Der Straßenbau vertrieb die Menschen aus den Städten und konnte dennoch den Verkehrsstau nicht vermeiden. Es zeigte sich letztendlich, dass der Straßenbau nicht mehr die Lösung des Problems war, sondern selbst zum Problem wurde. Erst scheinbar paradoxe Lösungen, die dem privaten Autoverkehr Flächen entzogen, wie die Anlage von Fußgängerzonen und verkehrsberuhigten Bereichen, Begrenzung von Parkraum und die Reduzierung von Fahrstreifen, konnten Verkehrsprobleme eindämmen und Innenstädte wieder attraktiv machen. Heute stellt sich nun die Frage, ob die europäische Automobilkultur Teil des Problems bleibt oder Teil der Lösung wird. Seit der Einführung weltweiter individuell genutzter Kommunikationsnetze (incl. Smartphone) besteht die Möglichkeit, dass Mobilitätssysteme auf eine neue Ebene springen. Entwicklungen in vielen Großstädten der industrialisierten Länder deuten darauf hin, dass Mobilität der Zukunft Bild 1: Scrambled Egg City Model Internationales Verkehrswesen (70) 1 | 2018 57 Mobilitätssysteme MOBILITÄT nachhaltiger sein könnte, sofern man bereit ist, neue Wege einzuschlagen. Canzler und Knie zeigen in „Die neue Verkehrswelt“, wie eine Verknüpfung verschiedener Verkehrsmittel zur Intermodalität (Kombination verschiedener Verkehrsmittel für einen Weg) und Multimodalität (Auswahl des sinnvollsten Verkehrsmittels aus einer Anzahl von Möglichkeiten) neue Wege eröffnet. Elektromobilität kann in Kombinationen mit intelligenten Stromnetzen (smart grid) und lokaler Stromerzeugung aus regenerativen Quellen zu neuen Stadtwerksystemen - auch auf dem Lande - ausgebaut werden. Dann ist Fahrzeugbesitz vielleicht nicht mehr Bestandteil eines zukünftigen Mobilitätssystems. Nutzer teilen sich stattdessen Fahrzeuge (etwa beim Carsharing) in einer organisierten Sharing- Ökonomie (vgl. Rifkin). Wir haben es bei diesen Beispielen mit mehreren möglichen Systemsprüngen zu tun: Das System Fahrradverkehr entwickelt sich mit dem System ÖPNV-Verkehr zu einem intermodalen Mobilitätssystem; Verkehrssystem und Stromversorgungssystem verknüpfen sich zu einem System gemeinsamer Infrastrukturen; die Verkehrssysteme MIV und ÖPNV entwickeln sich - zumindest in Teilbereichen - zu einem hybriden Mobilitätssystem, in dem öffentliche Fahrzeuge individuell genutzt werden (siehe Bild 2). Vom Planen zum Kommunizieren, vom Masterplan zur Best-Practice-Lösung Mobilitätssysteme sind im engeren Sinn nicht zu regeln. Es muss beobachtet und evaluiert werden, bevor gemanagt wird. Dies alles geschieht in gesellschaftlichen Systemen, und diese agieren allein über Kommunikation (vgl. Luhmann; Füsser 2016). Habermas schlägt in seiner „Theorie des Kommunikativen Handelns“ (vgl. Rosa 130- 150) eine hilfreiche Kommunikationskultur vor. Kommunikation muss „ehrlich“ sein, man muss das sagen, was man meint. Im Dialog können dann intersubjektive (nicht etwa objektive! ) Wahrheiten gefunden werden, d.h. Ergebnisse festgelegt werden, mit denen alle Beteiligten leben können. Dadurch wird erreicht, dass die gemeinsam erarbeiteten Ergebnisse auch von allen getragen und nicht etwa „hinten herum“ torpediert werden. Dieses kommunikative, also faire und kooperative Handeln unterscheidet sich vom konkurrierenden strategischen Handeln. Hier setzt sich das durch, was für alle angemessen ist und nicht das, was eine Mehrheit bestimmt oder gar eine starke Minderheit erzwingt. Watzlawick (Watzlawick u. a. 1969) und im deutschsprachigen Raum Schulz von Thun haben gezeigt, wie Kommunikation funktioniert und eingeübt werden kann. Hinweise, die auch bei der Gestaltung von Bürgerbeteiligungsverfahren sowie bei Moderationen von Organisationen und Teams hilfreich sein können - beispielsweise bei Kommunikationskonflikten zwischen Behörden oder verschiedenen Abteilungen einer Behörde. Der in Beispiel 2 aufgeführte Maßnahmencluster der Mobilitätsplanung beinhaltet Hauptanforderungen an nachhaltige Mobilitätssysteme und gewährleistet über negative Rückkopplungen, dass Systeme immer wieder in regelbare Bereiche zurückgedämmt werden (vgl. Vester zur Gestaltung überlebensfähiger Systeme). Dieses Maßnahmenrepertoire kann von Planenden nicht so ohne Weiteres umgesetzt werden, denn weitere Akteure aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft greifen gemäß ihrer eigenen Logik ein. Dies kann zu unvorhergesehen Ergebnissen führen, manchmal durchaus positiv im Sinne der Nachhaltigkeit (Ökonomie, Ökologie, Soziales), manchmal negativ. Soziale Systeme - also auch Mobilitätssysteme - agieren eben eigenwillig. Dies erklärt auch, warum heute bei größeren Projekten der klassische Planungsablauf (Bestandsaufnahme - Zielfindung --Problemanalyse - Lösungskonzept - Umsetzung) nur noch selten funktioniert. Relevante Akteure müssen in Kommunikationsprozessen einbezogen werden. Adäquate Verfahren etwa der Bürgerbeteiligung müssen dazu allerdings noch entwickelt und institutionalisiert werden. Sinnvolle Eingriffe in Mobilitätssysteme kann man aus Beobachtungen (vgl. Gehl) und Erfahrungen anderer Städte ableiten. Hier sieht man nämlich, wie Systeme und ihre Akteure agieren. So kristallisieren sich Best-Practice-Lösungen heraus (siehe Tabelle 1), die unter bestimmten Randbedingungen zu erfolgreichen Lösungen führen können. Dabei ist jede Stadt ein wenig anders und die Eigenlogik 6 einer Stadt (vgl. Löw) ist ebenso zu berücksichtigen wie die Eigenlogik wichtiger Akteure. Die hier aufgelisteten Best-Practice-Lösungen sollen zur Anregung dienen. Jede dieser Städte hat für ihre Mobilitätsprogramme obige Lösungsbeispiele in komplexe Maßnahmenbündel eingebunden. Die Strategien setzen auf fiskalische, ordnungspolitische und verkehrsplanerische Maßnahmen sowie auf Schulungen zur Verkehrssicherheit und Maßnahmen der Öffentlichkeitsarbeit. Bewährt haben sich Push-and-Pull-Ansätze 7 . Es gibt zwar keine direkten kausalen Zusammenhänge, aber ein Vergleich (Mit/ Ohne oder Vorher/ Nachher 8 ) auf der Basis von Indikatoren zeigt, welche Städte mit welchen Maßnah- BEISPIEL 2: MASSNAHMENCLUSTER DER MOBILITÄTSPLANUNG • Förderung der Stadt der kurzen Wege • Förderung des Umweltverbundes, nämlich des Fußverkehrs, des Radverkehrs und des ÖPNV • Zähmung des Autoverkehrs (Mengenbegrenzung, Schadstoffbegrenzung, Geschwindigkeitsbegrenzung, Raumbegrenzung) Anzustreben wäre eine Reduzierung des Motorisierungsgrades auf etwa 150 PKW/ 1000 Ew, eine Reduzierung des Modal-Split-Anteils des MIV auf 15 bis 20 % und eine Reduzierung der Stellplätze im Straßenraum auf die Hälfte (oder sogar ein Drittel) der heutigen Menge. Bild 2: Evolution von Mobilitätssystemen Internationales Verkehrswesen (70) 1 | 2018 58 MOBILITÄT Mobilitätssysteme menbündeln Nachhaltigkeit in ihrem Mobilitätssystem erfolgreich fördern. Fazit und Ausblick Rein technische Ansätze smarter Mobilität möchten u. a. durch Informationsvernetzung, verkehrstechnische Regelungen, Unfall vermeidende automatisierte Fahrzeugtechniken und Energieeffizienz Mobilitätssysteme in nachhaltigere Bereiche lenken. Dies wird vermutlich nicht gelingen, da Lösungen dieser Art - ähnlich wie ein forcierter Straßenbau - Lösungen eines „immer mehr desselben“ sind. Sie werden Probleme von Mobilitätssystemen, die bereits an ihrer Grenze agieren, in ihrem Dilemma belassen. Verbesserungen in der Leistungsfähigkeit werden etwa durch Rebound-Effekte 9 aufgehoben. Sinnvoll sind dagegen Maßnahmen, die Mobilitätssysteme unterstützen, notwendige Systemsprünge zu vollziehen. Ansatzpunkte dazu könnten Multimodalität, Sharing-Ökonomie sowie regionale, mit Mobilitätssystemen gekoppelte regenerative Energie- und Produktionssysteme sein. Hybride Verkehrssysteme könnten den klassischen MIV und ÖPNV ablösen. Ökonomisch erfolgreiche Mischsysteme sind in der Stadt und sogar auf dem Land denkbar (siehe Bild 3). ■ 1 Teilsystem Gesellschaft: Bei Luhmann ist Gesellschaft das Gesamtsystem, das die Teilsysteme Politik, Wirtschaft usw. beinhaltet. Für unsere Zwecke ist es sinnvoll, zusätzlich eine „kleine Gesellschaft“ als Teilsystem einzuführen. 2 Biologische Ordnung: Diesen Begriff habe ich von Robert B. Marks übernommen, der sich auf Fernand Braudel bezieht und damit das Zusammenspiel von Stadt und Land in der vorindustriellen Zeit beschreibt. 3 Daten VIZ 2017/ 2018; Verkehrsleistung Straßengüterverkehr BRD (Mrd. t km): 2000: 346,3; 2005: 402,7; 2010: 457,6; 2015: 460,2 (vorläufiger Wert) Verkehrsleistung PKW-Verkehr BRD (Mrd. P km): 2000: 849,6; 2005: 875,7; 2010: 902,4; 2015: 945,7 Motorisierung BRD (Mio. PKW): 2000: ca. 37,8; 2005: ca. 40,4; 2010: 41,7; 2015: 44,4. Ab 2005 anderes Statistikverfahren. 4 Daten VIZ 2017/ 2018: 2005: Straßenverkehr: 160 Mio. t CO 2 , Haushalte und Kleinverbraucher: 159 Mio. t CO 2 2015: Straßenverkehr: 159 Mio. t CO 2 , Haushalte und Kleinverbraucher: 127 Mio. t CO 2 5 Transportindex: Das Umweltbundesamt verwendet den Transportindex zur Beurteilung der Effektivität eines Transportsystems. Der Transportindex ist der Quotient aus Verkehrsleistung und Bruttoinlandsprodukt. In der BRD nimmt im Personenverkehr der Index ein wenig ab, im Güterverkehr stark zu. 6 Der Begriff „Eigenlogik“ (nach Löw) hat eine gewisse Nähe zum Begriff „Sinn“ (nach Luhmann). Berlin hat eine andere Eigenlogik als München oder Hamburg. Politik hat einen anderen Sinn als Wirtschaft. Das Stadtplanungsamt folgt ggf. einer anderen Eigenlogik als das Verkehrsplanungsamt. Baugenossenschaften betrachten die Welt unter einem anderen Blickwinkel als Investmentfondsgesellschaften. 7 Push-and-Pull-Konzepte „schieben“ Mobilität vom MIV (beispielsweise durch Parkraumbewirtschaftung, Geschwindigkeitsbegrenzungen, Rückbau von Hauptverkehrsstraßen) weg und lassen diese vom Umweltverbund „anziehen“ (beispielsweise durch den Bau von Radverkehrsanlagen, durch Bevorrechtigung des ÖPNV, durch eine Stadt der kurzen Wege). 8 In Mit/ Ohne-Untersuchungen werden Situationen mit Maßnahmen mit Situationen ohne Maßnahmen verglichen, beispielsweise eine Hauptstraße mit Tempo-30-Regelung gegenüber einer ähnlichen Hauptstraße ohne Tempo-30-Regelung. In Vorher/ Nachher-Untersuchungen wird beispielsweise eine Straße vor dem Umbau mit der gleichen Straße nach dem Umbau verglichen. 9 Rebound-Effekt. Zum Beispiel steigern autonome Fahrzeuge die Leistungsfähigkeit von Straßen. Autofahren wird attraktiver. Fahrzeugkauf und/ oder Fahrzeuganmietung steigen an, Gewinne in der Leistungsfähigkeit werden wieder aufgezehrt. LITERATUR Bundesministerium für Verkehr (verschiedene Jahrgänge): VIZ (Verkehr in Zahlen). Bonn bzw. Berlin Canzler, Weert und Knie, Andreas (2015): Die neue Verkehrswelt. Bochum Füsser, Klaus (2014): Bewertung der Nachhaltigkeit großstädtischer Verkehrssysteme. In: Forum Geo - Bau 4. Berlin, 97-102 Füsser, Klaus (2016): Mobilitätsplanung und Systemtheorie. In: Forum Geo - Bau 7. Berlin, 71-84 Grabitz, Markus (2017): „Das Autozeitalter geht zu Ende“. Gespräch mit Elzbieta Bienkowska (EU-Kommissarin für Industrie). Tagesspiegel vom 20.11.2017 Gehl, Jan (2015): Städte für Menschen. Berlin König, Johann-Günther (2010): Die Geschichte des Automobils. Stuttgart, 150-163 Lerner, Wilhelm (2014): The Future of Urban Mobility. Arthur D. Little Future Lab Löw, Martina (2008): Soziologie der Städte. Frankfurt am Main Luhmann, Niklas (1998): Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt am Main Rifkin, Jeremy (2011): Die dritte industrielle Revolution. Bonn Rosa, Hartmut; Strecker, David und Kottmann, Andrea (2007): Soziologische Theorien. Konstanz, 130-150, 173-215 Schubert, Dirk (2014): Jane Jacobs und die Zukunft der Stadt. Diskurse - Perspektiven - Paradigmenwechsel. Stuttgart Schulz von Thun, Friedemann (1981,1989,1998): Miteinander reden 1-3. Reinbek bei Hamburg Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt (2013): Berliner Verkehr in Zahlen Staemmler, Frank-M. und Bock, Werner (2004): Ganzheitliche Veränderung in der Gestalttherapie. Köln 2004 Steinmann, Horst und Schreyögg, Georg (2005): Management. Grundlagen der Unternehmensführung. Wiesbaden, 262 Vester, Frederic (1991): Ballungsgebiete in der Krise. München Watzlawick, Paul; Beavin, Janet H. und Jackson, Don D. (1969): Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien. Bern Watzlawick, Paul; Weakland, John H.; Fisch, Richard (1974): Lösungen. Zur Theorie und Praxis menschlichen Wandels. Bern Klaus Füsser Bauassessor; Lehrbeauftragter Verkehrswesen, Beuth Hochschule für Technik Berlin kfuesser@beuth-hochschule.de $ Stadt Best-Practice- Vorschlag Ranking Lerner Ranking Beuth Hongkong Metrosystem Platz 1 Platz 2 Singapur PKW-Kauf - Steuer Platz 6 Platz 5 Stockholm City Maut Platz 2 Platz 9 Amsterdam Radverkehrspriorisierung Platz 3 Platz 5 Kopenhagen Ausbau Radschnellwege Platz 4 Platz 9 Wien ÖPNV Netz Platz 5 Platz 17 Zürich Ausbau Straßenbahnnetz Platz 8 Platz 1 London Fußverkehrsförderung Platz 9 Platz 9 Paris Radverleihsystem Platz 7 Platz 2 Berlin Verkehrsberuhigung Platz 13 Platz 9 vgl. Lerner; Füsser 2014 Tabelle 1: Mögliche Best-Practice-Lösungen Bild 3: Verknüpfungspunkt im ländlichen Raum
