Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2018-0021
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Ein Meilenstein für die autonome Schifffahrt
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Kevin Daffey
Die norwegischen Gemeinden Anda und Lote werden bald die ersten Ortschaften sein, die in den Genuss sicherer und effizienter Überfahrten kommen, bei denen die Fähre von selbst fährt. Die Einführung von Rolls-Royce Autocrossing bringt uns einer Welt, in der Schiffe autonom fahren, einen weiteren Schritt näher. Es vereinfacht den Fährbetrieb und minimiert den Energieverbrauch pro Fahrt.
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Internationales Verkehrswesen (70) 1 | 2018 72 Ein Meilenstein für die autonome Schifffahrt Erste (teil)autonome Fähren in Norwegen Automatisierung, Fährbetrieb, Energieverbrauch, elektrischer Antrieb Die norwegischen Gemeinden Anda und Lote werden bald die ersten Ortschaften sein, die in den Genuss sicherer und effizienter Überfahrten kommen, bei denen die Fähre von selbst fährt. Die Einführung von Rolls-Royce Autocrossing bringt uns einer Welt, in der Schiffe autonom fahren, einen weiteren Schritt näher. Es vereinfacht den Fährbetrieb und minimiert den Energieverbrauch pro Fahrt. Kevin Daffey R olls-Royce Autocrossing ist das erste System in einer Reihe von Innovationen, die den Fährbetrieb zunehmend automatisieren werden. In der Zukunft werden Fähren wohl aus der Ferne betrieben werden oder komplett autonom fahren. Das Autocrossing-System wurde von dem größten norwegischen Fähren-Betreiber Fjord1 für zwei neue Fähren bestellt, die als Teil der Europastraße 39 zwischen Anda und Lote an der Westküste Norwegens eingesetzt werden sollen. Die beiden neuen, elektrisch betriebenen Fähren sollen im ersten Quartal 2018 ihren Betrieb aufnehmen. Momentan ist Autocrossing so konfiguriert, dass die An- und Ablegemanöver vom Kapitän durchgeführt werden. Ab einem bestimmten Punkt bei der Ausfahrt aus dem Hafen kann dann das Autocrossing-System aktiviert werden. Kurz vor der Anlegestelle im Zielhafen deaktiviert der Kapitän das System wieder und dockt manuell an. Sollte er dazu einmal nicht in der Lage sein, bringt das System selbst die Fähre nahe der Anlegestelle sicher zum Halten. Der Energieverbrauch der Fähren ist vor allem beim Beschleunigen, bei der Überfahrt und beim Verlangsamen hoch. In Bild 1 sind die insgesamt fünf Phasen der Überfahrt dargestellt, wobei es sich bei dem Bereich unterhalb der Zeit-Geschwindigkeits- Kurve um die zurückgelegte Strecke handelt. Wird die Fähre schneller beschleunigt und verlangsamt, kann die Überfahrt bei einer geringeren Geschwindigkeit und somit geringerem Energieverbrauch erfolgen. Die pro Fahrt nötige Gesamtenergie basiert also auf dem Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Phasen (obere Kurve), das vom Autocrossing-System im Hinblick auf unterschiedliche Lasten und Wetterbedingungen so optimiert wird, dass Abfahrts- und Fahrzeiten eingehalten werden. Die Vortriebsmotoren verbrauchen am meisten Energie. Der Energieaufwand kann hier minimiert werden, indem die Fähre bei einem möglichst geringen Stromverbrauch über die Segelstellungsfunktion am Hauptpropeller behutsam auf die erforderliche Fahrgeschwindigkeit beschleunigt wird. Bei vollständig elektrischen Fähren dient diese Vorgehensweise zudem dem Schutz der Batterie. Teilautonome Fähren mit Rolls-Royce Autocrossing Animation: Rolly-Royce Bild 1: Der Energieverbrauch von Fähren bei der Überfahrt lässt sich in fünf Phasen unterteilen. Grafik: Rolls-Royce TECHNOLOGIE Autonome Systeme Internationales Verkehrswesen (70) 1 | 2018 73 Autonome Systeme TECHNOLOGIE Das Autocrossing-System nutzt Daten von Kreiselkompassen, differentiellen globalen Positionierungssystemen (DGPSs), Geschwindigkeitsprotokollen und Windsensoren. Basierend auf diesen Werten werden die Strahlruder und die Propellersteigung/ drehzahl gesteuert, um bei optimiertem Stromverbrauch die nötige Beschleunigung und Geschwindigkeit zu erreichen und die Fähre auf Kurs zu halten. Auf dem Display im Steuerhaus ist ersichtlich, wo sich die Fähre gerade befindet. Beim Anlegen werden dort Informationen zur Position der Fähre relativ zur Anlegestelle sowie Größen- und Richtungsangaben zu externen Kräften angezeigt, die auf die Fähre wirken. Standardmäßig unterstützt Rolls-Royce Autocrossing die Crew beim effizienten Fährbetrieb. Das System kann jedoch auch in das Energiemanagementsystem von Rolls-Royce eingebunden werden, das in Echtzeit große Datenmengen aus den Onboard-Systemen erfasst und diese in umfassende Informationen zum Energieverbrauch der Fähre umwandelt. So wird der Crew ein effizienter Fährbetrieb erleichtert. Die Informationen können auch über eine sichere Datenverbindung an eine Zentrale an Land übermittelt werden, wo die Fährleistung auf mehreren Strecken analysiert und verglichen werden kann, um die Energieeffizienz der gesamten Flotte zu verbessern und eine bessere Wartungsplanung zu ermöglichen. Neben der Ausstattung von Schiffsneubauten können auch bestehende Fähren mit dem Autocrossing-System nachgerüstet werden und somit ihren Energieverbrauch senken. Besonders problemlos ist eine Nachrüstung, wenn bereits Strahlruder von Rolls-Royce verwendet werden. In einem nächsten Schritt wird eine Lösung für eine noch präzisere Situationswahrnehmung eingeführt, um die Schifffahrt noch sicherer zu machen. Damit werden Wasserfahrzeuge, die die Fähr-Route kreuzen könnten, sowie andere potenzielle Gefahren angezeigt und so der Schutz vor Kollisionen erhöht. Daran schließt sich eine Anlege-Funktion an, die die erste und letzte Phase einer Überfahrt bis hin zur Rampe am Terminal automatisiert (Bild 2). Über ein Anlege-System mit zusätzlichen Sensoren können Entfernungen zu Hafenstrukturen, zum Beispiel zu Hafenmolen im Bereich der Einfahrt oder zur Anlegestelle, Daten zum Hafenverkehr und andere Faktoren ermittelt werden. Das System passt das Antriebssystem so an, dass die Fähre sicher und möglichst energiesparend an ihr Ziel kommt. Sind die entsprechenden Systeme erst einmal installiert, kann die Fähre von einer an Land befindlichen Steuerzentrale aus ferngesteuert werden. Langfristig, wenn Gesetze und andere Faktoren es ermöglichen, könnten Fähren ganz autonom fahren - menschliche Eingriffe wären unter normalen Navigationsbedingungen dann nicht länger nötig, wobei im Bedarfsfall auf die Fern- oder Brücken-Steuerung umgeschaltet werden könnte. ■ CHRONOLOGIE Der Weg zum selbstfahrenden Schiff Der aktuelle Stand der autonomen Schifffahrt bei Rolls-Royce ist das Ergebnis jahrelanger Forschungs- und Entwicklungsarbeit mit zahlreichen Partnern. März 2015 - Die Advanced Autonomous Waterborne Applications Initiative (AAWA) nimmt ihre Arbeit auf. Das Projekt bringt Universitäten, Werften, Zulieferer und Klassifizierungsgesellschaften zusammen, um die Voraussetzungen für die autonome Schifffahrt zu schaffen. April 2015 - AAWA Projekt beginnt Praxistests. Die finnische Fährreederei Finferries wird Partner des Projekts und führt zahlreiche Sensorik-Tests an Bord der Fähre Stella durch. März 2016 - Erste Animation für zukünftiges Kontrollzentrum für ferngesteuerte Schiffe. In einer Animation zeigt Rolls-Royce ein landbasiertes Kontrollzentrum, von dem aus eine globale Schiffsflotte ferngesteuert werden könnte. Juni 2016 - Erstmals wird ein Handelsschiff ferngesteuert. In Dänemark unternimmt der Schlepper Svitzer Hermod die ersten ferngesteuerten Manöver mit Rolls-Royce Technik. Oktober 2016 - Der Vertrag über die beiden Fähren mit Fjord1 wird geschlossen. Die ersten von Rolls-Royce entwickelten autonom übersetzenden Fähren sollen ab 2018 in Norwegen ihren Betrieb aufnehmen. März 2017 - Kooperation mit Stena Line AB. In Zusammenarbeit mit der schwedischen Reederei soll das erste intelligente Situationswahrnehmungssystem für Schiffe entwickelt werden. Oktober 2017 - Rolls-Royce und Google arbeiten an autonomen Schiffen. Rolls-Royce entwickelt künftig gemeinsam mit Google ein intelligentes System zur Situationswahrnehmung, um die technischen Grundvoraussetzungen für autonome Schifffahrt weiterzuentwickeln. November 2017 - Europäische Raumfahrtbehörde (ESA) unterstützt die Entwicklung autonomer Schiffe. In einer Kooperation mit Rolls-Royce soll die Satellitenkommunikation für die autonome und ferngesteuerte Schifffahrt weiterentwickelt werden. Dezember 2017 - Die Reederei Mitsui O.S.K. Lines steigt in die Entwicklung der intelligenten Situationswahrnehmung ein. Die 165 Meter lange Fähre „Sunflower“ wird als Pilotprojekt von Rolls-Royce ausgerüstet. Januar 2018 - Rolls-Royce eröffnet im finnischen Turku ein neues Forschungs- und Entwicklungszentrum. Gemeinsam mit Partnerfirmen sollen hier Projekte zur autonomen Navigation, zu landgestützten Kontrollzentren und dem Einsatz Künstlicher Intelligenz durchgeführt werden. Kevin Daffey Director Engineering & Technology, Marine, Rolls-Royce, Bristol/ Alesund kevin.daffey@rolls-royce.com Bild 2: Beispiel einer typischen Fährfahrt mit Anlaufen des Hafens in Rot. Die grüne Strecke kann mit Rolls-Royce Autocrossing zurückgelegt werden. Quelle: Rolls-Royce
