eJournals Internationales Verkehrswesen 70/2

Internationales Verkehrswesen
iv
0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2018-0035
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2018
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Entwicklung eines Kernnetzes für Oberleitungs-LKW

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2018
Tobias Bernecker
Florian Hacker
Gregor  Neubauer
Sven  Kühnel
Jens Boysen
Markus  Schubert
Der Beitrag befasst sich mit der modellgestützten Entwicklung eines Kernnetzes für den Einsatz von Oberleitungs-LKW (O-LKW) in Deutschland. Beschrieben werden die Ermittlung geeigneter Strecken sowie deren Verknüpfung zu einem denkbaren Netz. Auf Basis einer Rangliste von Netzabschnitten, die für eine Elektrifizierung besonders interessant erscheinen, werden dabei zwei verschiedene Ausbaustrategien und ein mögliches Zielnetz von rund 4250 km Länge vorgestellt sowie anhand verschiedener Kennzahlen (u. a. der Fahrleistung) vergleichend beurteilt.
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Internationales Verkehrswesen (70) 2 | 2018 28 Entwicklung eines Kernnetzes für Oberleitungs-LKW Oberleitungs-LKW, Dekarbonisierung, Verkehrsmodellierung Der Beitrag befasst sich mit der modellgestützten Entwicklung eines Kernnetzes für den Einsatz von Oberleitungs-LKW (O-LKW) in Deutschland. Beschrieben werden die Ermittlung geeigneter Strecken sowie deren Verknüpfung zu einem denkbaren Netz. Auf Basis einer Rangliste von Netzabschnitten, die für eine Elektrifizierung besonders interessant erscheinen, werden dabei zwei verschiedene Ausbaustrategien und ein mögliches Zielnetz von rund 4250 km Länge vorgestellt sowie anhand verschiedener Kennzahlen (u. a. der Fahrleistung) vergleichend beurteilt. Tobias Bernecker, Markus Schubert, Florian Hacker, Gregor Nebauer, Sven Kühnel, Jens-Boysen D ie Klimaschutzziele erfordern auch im Verkehrssektor eine erhebliche Minderung der Treibhausgasemissionen. Insbesondere der Straßengüterverkehr steht diesbezüglich aus mehreren Gründen vor besonderen Herausforderungen. Zum einen ist selbst unter optimistischen Annahmen zu den Verlagerungspotenzialen von der Straße auf die Schiene davon auszugehen, dass auch in Zukunft der Straßengüterverkehr von großer Bedeutung bleiben bzw. sogar weiter an Marktanteilen gewinnen wird. Zum anderen zeigen Szenario-Analysen, dass die Optimierung konventioneller Antriebe bei schweren Nutzfahrzeugen die Treibhausgasemissionen nur unzureichend reduziert [1]. Daher sind andere Konzepte notwendig, um den Einsatz von erneuerbaren Energien und damit auch eine deutliche Minderung der Treibhausgasemissionen im Straßengüterfernverkehr auf möglichst effiziente Weise zu ermöglichen. Erste Analysen legen nahe, dass das Oberleitungshybrid-(OH-)LKW-System sowohl aus Energieeffizienzals auch aus Gesamtkostenperspektive Vorteile gegenüber anderen denkbaren alternativen Antriebsbzw. Energieversorgungstechnologien bei schweren Nutzfahrzeugen aufweist [2]. Die Einführung einer derartigen technologischen Alternative im Güterverkehr ist allerdings - auch vor dem Hintergrund des internationalen Logistik- Foto: Siemens INFRASTRUKTUR Wissenschaft Internationales Verkehrswesen (70) 2 | 2018 29 Wissenschaft INFRASTRUKTUR markts und der erforderlichen umfassenden Investitionen in die Infrastruktur - mit längeren Planungszeiträumen verbunden. Um langfristig Alternativen für die Erreichung der Klimaziele zur Verfügung zu haben, muss die Technologie daher bereits frühzeitig erprobt und bis zur Marktreife weiterentwickelt werden. Im Rahmen des durch das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit geförderten Forschungsvorhabens StratON (Bewertung und Einführungsstrategien für oberleitungsgebundene schwere Nutzfahrzeuge) vertiefen die drei Verbundpartner Öko- Institut e.V., Hochschule Heilbronn und Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO in Zusammenarbeit mit der Intraplan Consult GmbH die Analysen zu möglichen technischen Auslegungen des Oberleitungs- LKW, unterziehen diese der ökologischen und ökonomischen Bewertung, untersuchen mögliche Netzentwicklungs- und Markteinführungsszenarien und diskutieren Geschäfts- und Finanzierungsmodelle. Ziel der verkehrswirtschaftlichen Untersuchungen im Projekt StratON ist dabei die modellgestützte Entwicklung eines Autobahn- Kernnetzes für den Einsatz von Oberleitungs-LKW in Deutschland, die Ermittlung der korrespondierenden Fahrleistung mit Oberleitungs-LKW (inkl. der Fahrtanteile im Vor- und Nachlauf ) sowie die Bestimmung der voraussichtlichen Fahrtenzahl mit Oberleitungs-LKW. Verkehrsmengengerüst 2050 Alle verkehrlichen Betrachtungen im Projekt StratON sollten auf einem bestehenden und anerkannten Datengerüst aufsetzen, um die Ergebnisse möglichst gut in bestehende Infrastrukturplanungen einordnen zu können. Als Ausgangspunkt wurde daher die Verflechtungsprognose 2030 [3] gewählt. Diese liegt u.a. dem Bundesverkehrswegeplan 2030 zugrunde. Das Jahr 2030 ist gleichzeitig das Prognosejahr. Da aber bis 2030 nicht mit der Fertigstellung eines eventuellen Oberleitungsnetzes auf den Autobahnen zu rechnen ist, war für das Projekt StratON eine längerfristige Perspektive erforderlich. Unter Bezugnahme auf klimapolitische Rahmenvorgaben [4] und andere langfristige Prognosen der Güterverkehrsentwicklung [5, 6] wurde daher das Jahr 2050 als Prognosejahr definiert. Das zur Berechnung eingesetzte Sensitivitätsmodell arbeitet auf der Basis von Quelle-Ziel-Matrizen, differenziert nach Gütergruppen. Die Fortschreibung der Verflechtungsprognose auf 2050 berücksichtigt dabei die Effekte verschiedener Einflussfaktoren auf die Relations- und Gütergruppenstruktur. Wo dies plausibel erschien bzw. wo nicht belastbare anderweitige Entwicklungen ableitbar waren, wurden die Annahmen der Verflechtungsprognose auf den Zeitraum bis 2050 fortgeschrieben. Dies gilt insbesondere für die Nutzerkosten und die Wirtschaftsentwicklung. Geänderte Annahmen für die Zeit nach 2030 wurden hingegen in Form neuerer Prognosen bzw. Vorausberechnungen zu Bevölkerung (zunehmende Migration), Erwerbstätigkeit (zunehmende Alterserwerbsquoten) und Ölpreis (moderaterer Anstieg) getroffen. Tabelle 1 zeigt die Ergebnisse dieser Fortschreibung. Die Ergebnisse sind im Summen-Eckwert 2050 weitgehend kompatibel mit [7]. Demnach ist im Jahr 2050 in Deutschland mit einer jährlichen gesamtmodalen Gütertransportleistung von rund eine Billion Tonnenkilometern (tkm), etwa 75 % mehr als 2010, zu rechnen. Diese Verkehrsmenge bzw. der Straßengüterverkehrsanteil hieraus, umgerechnet in Fahrzeugfahrten anhand eines am Istzustand kalibrierten Fahrzeugmodells, bildet das Gerüst für alle nachfolgend dargestellten Analysen in StratON. Fahrzeug- und Fahrtendefinition Anders als ein Diesel-LKW ist der Oberleitungs-LKW nicht freizügig auf dem Straßennetz einsetzbar. Der Oberleitungs-LKW muss zwar aufgrund des hybriden Antriebssystems - neben dem oberleitungselektrischen Antrieb ist auch ein konventioneller Antriebsstrang oder eine Traktionsbatterie im Fahrzeug vorhanden - nicht während der gesamten Fahrt eine Oberleitung (Fahrleitung) zur Energieversorgung zur Verfügung haben. Er kann bzw. sollte sich aber aus technischen und wirtschaftlichen Gründen auch nicht beliebig weit von der Oberleitung entfernen. Die maximal mögliche Entfernung hängt einerseits von der Antriebskonfiguration ab, sowie andererseits von der Größe der verbauten Energiespeicher. Für eine sinnvolle Netzkonfiguration ist zwischen diesen beiden Leistungsparametern der Fahrzeugkonfiguration einerseits und einer sinnvollen Oberleitungs-Netzdichte - und damit den Elektrifizierungskosten - andererseits ein Ausgleich erforderlich. Hieraus resultieren letztlich die im Projekt StratON definierten Fahrzeugkonzepte. Dabei wurde einerseits auf derzeit verfügbare batterieelektrische Fahrzeuge für den Schwerlastverkehr sowie deren Reichweiten Bezug genommen [8] sowie andererseits auf die erwartete Entwicklung der Batterietechnologie [9]. Mit rein batterieelektrischen Fahrzeugen sinnvoll durchführbare Transporte wurden in der Potenzialschätzung für das Oberleitungssystem ausgeklammert. Dies trifft auf rund 10 % der derzeitigen Mautfahrten zu [10]. Andererseits wurde eine achszahlbezogene Restriktion eingeführt. Bei elektrischen Fernverkehrs-LKW ist zur Einhaltung der Achslasten nach § 34 StVZO in aller Regel ein mindestens vierachsiges Fahrzeug bzw. Fahrzeugkombination (Gliederzug bzw. Sattelzug) erforderlich. Nur so kann eine ausreichende Nutzlast und damit die Wirtschaftlichkeit des Transports garantiert werden. Daher wurde auch hier ein entsprechender Filter gesetzt. Dieser führt 2010 2030 (BVWP) (Zuwachs ggü. 2010 in % p.a.) 2050 (Zuwachs ggü. 2010 in % p.a.) Transportaufkommen (Mio. t) Schiene 358,9 443, 7 1,1 528,3 1,0 Straße 3.116,1 3.639,1 0,8 4.533,0 0,9 Binnenschiff 229,6 275,6 0,9 305,4 0,7 Summe 3.704,7 4.358,4 0,8 5.366,7 0,9 Transportleistung (Mrd. tkm) Schiene 107,6 153,7 1,8 179,6 1,3 Straße 437,3 607,4 1,7 788,6 1,5 Binnenschiff 62,3 76,5 1,0 88,4 0,9 Summe 607,1 837,6 1,6 1.056,6 1,4 Tabelle 1: Verkehrsmengengerüst bis 2050 Internationales Verkehrswesen (70) 2 | 2018 30 INFRASTRUKTUR Wissenschaft ebenfalls zu Einschränkungen, da rund 90 % der mautpflichtigen Fahrleistung (d. h. Autobahnfahrten mit Nutzfahrzeugen ab 7,5 t zul. GG) mit Fahrzeugen ab vier-Achsen erbracht werden [11]. Zuletzt sind Festlegungen zum Vor- und Nachlauf zu treffen. Unter „Vor- und Nachlauf“ werden dabei alle Verkehre vor bzw. nach der elektrifizierten Strecke verstanden. Vor- und Nachläufe können im nachgeordneten Straßennetz stattfinden, aber auch über Autobahnen führen. Auch grenzüberschreitende Verkehre sind möglich. Die Vor- und Nachläufe wurden dabei im Projekt in zwei Konfigurationen untersucht: • Eine Höchst-Fahrtweite (einfache Fahrt) von bis zu 100 km im Vorbzw. Nachlauf, sodass bei einem paarigen Pendelverkehr nach 200 km wieder ein Oberleitungsabschnitt erreicht wird. Diese Reichweite kann mit batterieelektrischen Oberleitungsfahrzeugen erbracht werden, ohne ein Batteriegewicht von rund 2 t zu überschreiten. • Eine Höchst-Fahrtweite (einfache Fahrt) von 250 km im Vor- und Nachlauf, sodass bei einem paarigen Pendelverkehr nach 500 km wieder ein Oberleitungsabschnitt erreicht wird. Dies ist in jedem Fall mit einem dieselhybridisierten Fahrzeug möglich. Wenn am Zielort eine Lademöglichkeit und ausreichend Zeit zur Batterienachladung vorhanden ist, kann solch eine Strecke auch mit batterieelektrischen Oberleitungsfahrzeugen zurückgelegt werden. Es wird zudem erwartet, dass das Batteriegewicht eines Fahrzeugs mit 250 km elektrischer Reichweite bis zum Jahr 2025 auf ca. 2 t spürbar sinkt. Identifizierung geeigneter Strecken Die Auswahl eines Streckenabschnitts zur Elektrifizierung bedeutet nicht, dass die entsprechende Strecke zu 100 % mit Fahrdraht überspannt werden muss. Vielmehr sind Lücken denkbar, z. B. an Ein- und Ausfahrten, Tunneln und Brücken oder bei besonders sensiblen Streckenabschnitten. Die im Projekt durchgeführten Analysen sowie eine Bewertung der Ergebnisse im Rahmen eines Experten- Workshops haben ergeben, dass der Elektrifizierungsgrad nicht unter 50 % liegen und die Elektrifizierungslücken nicht zu lang sein sollten (max. 10 bis 20 km), da andernfalls die Batterien der Oberleitungsfahrzeuge zu stark beansprucht werden. Je höher der Elektrifizierungsanteil ausfällt und je kürzer die Lücken sind, desto geringer sind die Beanspruchung und die Anforderungen an die Batterien, die dann ggf. kleiner und kostengünstiger ausgelegt werden können oder weniger oft getauscht werden müssen. Gleichzeitig kann die Oberleitung kostengünstiger dimensioniert werden. Ab etwa 90 % Elektrifizierungsgrad (bezogen auf die Streckenlänge) sind nahezu keine Einschränkungen mehr gegenüber einer durchgehenden Elektrifizierung zu erwarten. Ziel des Projektes StratON ist es, diejenigen Strecken bzw. Netzabschnitte zu identifizieren, auf denen die meisten Fahrten mit Oberleitungs-LKW zu erwarten sind. Anders als bei den derzeit in Bau befindlichen Oberleitungs-Teststrecken in Baden-Württemberg, Hessen und Schleswig-Holstein, werden die Auswahlstrecken also modellbasiert nach verkehrlichen Aspekten definiert. Die Streckenvorauswahl erfolgte dabei nach folgenden Kriterien: (1) Mindestlänge: Die Strecken sollten jeweils möglichst rund 200 km lang sein. Dies entspricht etwa der Entfernung der großen Wirtschaftsräume in Deutschland untereinander. Gleichzeitig spiegelt diese Restriktion die Reichweite batterieelektrischer Fahrzeuge wider. Ein Oberleitungssystem muss auf größere Distanzen ausgelegt sein, um hier eine sinnvolle Abgrenzung zu schaffen. (2)Fernverkehrsbedeutung: Die Strecken sollen hohe Verkehrsbelastungen aufweisen und vor allem dem Fernverkehr dienen. Im Hinblick auf Kapazitätsmöglichkeiten sollen sie den Charakter einer Magistrale haben. Daher sind vor allem die Fernautobahnen A 1 bis A 9 relevant. (3) Homogenität: Der Verkehr soll eine klare Verkehrsrichtung haben bzw. größtenteils die Gesamtstrecke befahren. Eine Autobahn im Rhein-Ruhr-Raum oder eine Ringautobahn wie z.B. die A 10 oder eine städtische Autobahn wie die A 100 sind daher weniger geeignet, weil Fahrten häufig nur über relativ kurze Teilabschnitte führen. (4)Konkurrenz zur Bahn: Abschnitte, bei denen eine nennenswerte zusätzliche Verlagerung von Güterverkehren auf die Schiene nur durch schwer realisierbare, derzeit nicht im Vordringlichen Bedarf des BVWP enthaltene Neubaumaßnahmen im Schienennetz möglich wäre, sind für Oberleitungsabschnitte auf der Autobahn besonders geeignet (z.B. Frankfurt- Würzburg - Nürnberg - Passau). (5) Erweiterungsmöglichkeiten: Die Strecken sollen im Sinne von Verkehrskorridoren erweiterbar sein (d.h. zumindest perspektivisch keine Insellösungen darstellen), um sie für langlaufende und durchgängige Verkehre möglichst attraktiv zu machen. Nr. BAB von nach Länge [km] Brücken Tunnel Auswahlstrecken 1 A1 Hamburg Dortmund 287 108 0 2 A7 Hamburg Kassel 287 125 0 3 A61 Köln Mannheim 261 126 1 4 A8 Stuttgart München 203 94 7 5 A9 Nürnberg München 152 70 0 6 A5 Karlsruhe Basel 186 79 0 7 A24 Hamburg Berlin 227 36 0 8 A6 Heidelberg Nürnberg 204 138 0 9 A3 Nürnberg Passau 226 102 0 10 A2 Dortmund Hannover 197 109 0 11 A2 Hannover Berlin 231 132 1 12 A3 Köln Frankfurt 171 88 1 13 A3 Frankfurt Nürnberg 231 95 3 14 A9 Berlin Hermsdorf 186 69 1 15 A9 Hermsdorf Nürnberg 185 88 1 16 A4 Bad Hersfeld Hermsdorf 181 109 2 17 A7 Kassel Würzburg 205 86 2 Summe Auswahlstrecken 3.620 1.654 19 Tabelle 2: Identifizierte Auswahlstrecken Internationales Verkehrswesen (70) 2 | 2018 31 Wissenschaft INFRASTRUKTUR Mit diesem Verfahren wurde das gesamte deutsche Autobahnnetz analysiert. Im Ergebnis resultieren hieraus 17 Streckenabschnitte auf den Autobahnen A 1 bis A-9, der A 24 und der A 61, die gemeinsam ein Kernnetz von 3620 km bilden (siehe Tabelle 2). Dies entspricht rund 28 % der Länge des derzeitigen Autobahnnetzes. Die auf das Jahr 2050 fortgeschriebenen Quelle-Ziel- Matrizen wurden zunächst auf das Verkehrsnetz zur Darstellung des gesamten Straßengüterverkehrs mit LKW größer 3,5 t zul. GG umgelegt. In einer zweiten Umlegung wurden anschließend nur die schweren LKW ab vier Achsen, die im Fernverkehr mindestens 100 km zwischen Quelle und Ziel unterwegs sind, im durchschnittlich täglichen Verkehr an Werktagen dargestellt. Mittels einer sogenannten Strombündelanalyse wurden aus diesem Segment im nächsten Schritt diejenigen Fahrten extrahiert, die zwischen zwei mindestens 100- km voneinander entfernt liegenden Knoten auf einer Auswahlstrecke verkehren. Bei den häufig vorkommenden Mehrfacherfassungen war bei ein und derselben Quelle-Ziel-Relation im Verfahren immer diejenige Fahrt maßgeblich, mit der die längste Entfernung auf einer Auswahlstrecke erfasst wird. Aus dieser Entfernung und der Anzahl der LKW-Fahrten wurde die Verkehrsleistung im Hauptlauf berechnet, aus den ermittelten Entfernungen im nicht elektrifizierten Straßennetz von der Quelle bis zur Auswahlstrecke bzw. von der Auswahlstrecke bis zum Ziel der Fahrt die Verkehrsleistungen im Vorbzw. Nachlauf. In Tabelle 3 ist das Ergebnis der Strombündelanalyse beispielhaft für die A 1 zwischen Dortmund (Kamener Kreuz) und Hamburg (Buchholzer Dreieck) dargestellt. Aus den Ergebnissen der Strombündelanalyse nach Tabelle 3 ergibt sich bei Begrenzung des Vor- und Nachlaufs zur elektrifizierten Strecke • auf maximal 100 km (in Tabelle 3 grün hinterlegt) eine zu erwartende Tages-Fahrleistung mit Oberleitungs- LKW von 1 534 608 km (darunter 1 070 680 km auf- dem elektrifizierten Autobahnabschnitt) bzw. 5631-Fahrten, • auf maximal 250 km (in Tabelle 3 grün und gelb hinterlegt) eine zu erwartende Tages-Fahrleistung mit Oberleitungs-LKW von 4 145 021 km (darunter 2 367 684 km auf dem elektrifizierten Autobahnabschnitt) bzw. 11 782 Fahrten. Die unter rein verkehrlichen Gesichtspunkten definierten 17 Auswahlstrecken führen in der Summe bereits zu einem relativ guten Netz; dennoch wurden in der Folge noch einzelne Lückenschlüsse ergänzt, um den Netzcharakter weiter zu stärken. So wurde das Netz z.B. um die A 5 Kassel - Karlsruhe, den Berliner Außenring (A-10) oder die A 39 als Querspange zwischen A 2 und A-7 über Braunschweig und Salzgitter erweitert (siehe Tabelle 4). Vorlauf Hauptlauf Nachlauf Gesamt Entfernungsklasse [LKW-km/ d] [LKW-km/ d] Entfernungsklasse [LKW-km/ d] [Fahrten/ d] [LKW-km/ d] bis 100 km 235.141 1.070.680 bis 100 km 228.787 5.631 1.534.608 bis 100 km 103.964 486.307 101-250 km 379.971 2.482 970.242 bis 100 km 97.616 471.367 ab 251 km 1.543.641 2.258 2.112.624 101-250 km 438.782 584.125 bis 100 km 108.641 2.740 1.131.548 101-250 km 140.461 226.572 101-250 km 141.590 929 508.623 101-250 km 172.624 296.375 ab 251 km 762871 1.074 1.231.870 ab 251 km 1.075.438 392.466 bis 100 km 74.346 1.926 1.542.250 ab 251 km 490.405 224.469 101-250 km 128.850 823 843.724 ab 251 km 456.011 135.117 ab 251 km 327.395 471 918.523 alle Klassen 3.210.442 3.887.478 alle Klassen 3.696.092 18.334 10.794.012 Tabelle 3: Ergebnis der Strombündelanalyse am Beispiel der A 1 Hamburg-Dortmund Sattelzug mit abgezogenem Stromabnehmer auf der ENUBA-Teststrecke Groß-Dölln Foto: Thomas Bernecker Derselbe Sattelzug mit angelegtem Stromabnehmer Foto: Thomas Bernecker Internationales Verkehrswesen (70) 2 | 2018 32 INFRASTRUKTUR Wissenschaft Im Ergebnis ergibt sich mit den Netzergänzungen ein Oberleitungs-Kernnetz von 4264 km. Dies entspricht rund 33 % des derzeitigen Autobahnnetzes. Das modellbasiert entwickelte Kernnetz für den Oberleitungs-LKW weist damit in etwa die Länge auf, wie sie auch in den Vorstudien definiert wurde [12]. Szenarien der Netzentwicklung Um abzuschätzen, wie rasch sich beim Übergang von der Realisierung einzelner Streckenabschnitte zu einem Oberleitungs-Netz entsprechende Netzeffekte ergeben, und um zu definieren, nach welchen Kriterien das Netz entwickelt werden sollte, wurde neben dem Gesamtnetz auch ein Zwischenausbaustand einer näheren Analyse unterzogen. Dabei wurden alternativ zueinander zwei unterschiedliche Varianten betrachtet, die jeweils in etwa die gleiche Kilometerlänge (rund 750 km) aufweisen, nämlich • die Achse Hamburg - Hannover - Kassel - Würzburg - Nürnberg - München (A 7 / A 3 / A 9) • ein Stern rund um Hannover aus den Strecken Hamburg - Kassel (A 7), Dortmund - Berlin (A 2) und der A 39 als Verbindung zwischen A 2 und A 7. Für alle vier näher betrachteten Netzausbauzustände wurden über das Verkehrsmodell die erwartete Tagesfahrleistung mit Oberleitungs-LKW die Anzahl der Fahrten sowie der Fahrleistungsanteil am prognostizierten Gesamtverkehr mit Fernverkehrs-LKW in Deutschland 2050 (59,2 Mrd. km) [13] ermittelt und ausgewiesen (siehe Bild 1). Diskussion und Fazit Eine vergleichbare modellbasierte Entwicklung eines Oberleitungs-Netzes für die deutschen Autobahnen wurde bislang nicht durchgeführt. Insofern beschreiten die Ergebnisse hier Neuland. Damit verbunden ist eine Reihe in dieser Form bislang noch nicht diskutierter Erkenntnisse: • Das Zielnetz enthält viele der im Schwerlastverkehr insgesamt am stärksten belasteten Autobahnen in Deutschland [14] und ist auch dem Vorab-Netz ENUBA [15] nicht unähnlich. Es ist mit diesem aber auch nicht identisch. So fehlen im Zielnetz z. B. aufgrund der Ausklammerung einer grenzüberschreitenden Elektrifizierung die stark belastete A 8 südöstlich von München und die A 4 in Richtung Dresden; gegenüber dem ENUBA-Netz ist u.a. die A 44 Ruhrgebiet - Kassel nicht enthalten. Umgekehrt ist z. B. die im ENUBA-Netz nicht enthaltene und auch nicht mit übermäßig hohen Schwerverkehrsanteilen belastete Pfad A : Achse „Hamburg-München“ Pfad B : Stern „rund um Hannover“ Strecke „Hamburg-Kassel“ Elektrifizierung 287 km Tagesfahrleistung BAB 0,6 Mio. km (100 km) 1,6 Mio. km (250 km) Fahrten 3.600 (100 km) 9.000 (250 km) Fahrleistungsanteil D 0,5 % (100 km) 1,6 % (250 km) Netz „Kernnetz BAB“ Elektrifizierung 4.264 km Tagesfahrleistung BAB 23,0 Mio. km (100 km) 35,7 Mio. km (250 km) Fahrten 89.600 (100 km) 132.500 (250 km) Fahrleistungsanteil D 14,2 % (100 km) 25,6 % (250 km) Elektrifizierung 747 km Tagesfahrleistung BAB 2,4 Mio. km (100 km) 5,0 Mio. km (250 km) Fahrten 11.600 (100 km) 22.800 (250 km) Fahrleistungsanteil D 1,6 % (100 km) 4,3 % (250 km) Elektrifizierung 745 km Tagesfahrleistung BAB 1,9 Mio. km (100 km) 4,8 Mio. km (250 km) Fahrten 9.200 (100 km) 22.600 (250 km) Fahrleistungsanteil D 1,3 % (100 km) 4,2 % (250 km) Pilot Zwischenausbauzustand Zielnetz Bild 1: Pfade und Kennzahlen der Netzentwicklung Nr. BAB von nach Länge [km] Brücken Tunnel Summe Auswahlstrecken (aus Tabelle 2) 3.620 1.654 19 Netzergänzungen E1 A1 Kamener Kreuz/ A1 Dreieck Erfttal/ A61 121 25 3 E2 A1 Buchholzer Dreieck/ A1 Kreuz Hamburg- Ost/ A24 38 7 1 E3 A5 Hattenbacher Dreieck/ A7 Dreieck Karlsruhe/ A5 256 27 0 E4 A8 Dreieck Karlsruhe/ A5 Kreuz Stuttgart/ A8 60 11 0 E5 A10 Dreieck Havelland/ A24 Dreieck Werder/ A2 47 6 0 E6 A39 Kreuz Wolfsburg/ Königslutter/ A2 Dreieck Salzgitter/ A7 50 10 2 E7 A60/ A67 Dreieck Nahetal/ A61 Mönchhof- Dreieck/ A3 54 4 1 E8 A99 Kreuz München West/ A8 Kreuz München Nord/ A9 18 3 1 Summe Netzergänzungen 644 93 8 Summe 4.264 1.747 27 Tabelle 4: Netzergänzungen Internationales Verkehrswesen (70) 2 | 2018 33 Wissenschaft INFRASTRUKTUR A 24 Teil des hier identifizierten Netzes, da dort ein hohes Potenzial für den Oberleitungs-LKW ermittelt werden konnte. • Die beiden untersuchten Zwischenausbauzustände sind einander relativ ähnlich. Die Teilnetzbildung „rund um Hannover“ zeigt allerdings das frühere Auftreten von Netzwirkungen: Die Fahrleistung mit Oberleitungs-LKW liegt bei Begrenzung des Vor- und Nachlaufs auf 100 km um rund 26 % über der entsprechenden Fahrleistung bei Elektrifizierung der nach Kilometern nahezu gleich langen Achse Hamburg- München. Bei Ausweitung der Vor- und Nachläufe auf 250 km liegt der Unterschiede zwischen den beiden Varianten hingegen nur bei rund 4 %, da sich durch die Ausweitung des Vor- und Nachlaufs die Freizügigkeit im Einsatz der Fahrzeuge in der Fläche spürbar verbessert. • Die maximal erreichbaren Fahrleistungsanteile zeigen deutlich die Restriktionen, die sich aus dem Fehlen grenzüberschreitender Abschnitte ergeben. Bei einer vollständigen Realisierung des Zielnetzes lassen sich aber dennoch mehr als 25 % der Gesamtfahrleistung mit Glieder- und Sattelzügen in Deutschland grundsätzlich auf Oberleitungs-LKW umstellen. • Weiteres erhebliches Potenzial ergibt sich aus Regionalverkehren. Diese werden hier zwar nicht als ausschlaggebend für die Errichtung einer Oberleitung (und damit auch für die Frage der grundsätzlichen Refinanzierbarkeit der getätigten Investition) berücksichtigt, bieten aber doch für zahlreiche weitere Fahrten die Möglichkeit zur Umstellung. • Mit der Modellierung nicht eindeutig zu beantworten ist die Frage, mit welcher Anzahl an Fahrzeugen letztlich zu rechnen ist. Zwar liefert die Fahrtenzahl hier einen ersten Anhaltspunkt. Erst die Einbeziehung logistischer Produktionskonzepte und -grundsätze gibt aber z. B. Auskunft über die tägliche Einsatzzeit eines Fahrzeugs und damit die Anzahl der Fahrten, über die die notwendigen Reserven und über Fahrtketten, bei denen ein Transport mit mehreren Fahrzeugen durchgeführt wird, wie es z. B. im Systemverkehr üblich ist. Mit der modellbasierten Abschätzung der Fahrtenzahlen und der Fahrleistungen liegt eine wesentliche Planungsgrundlage für weitergehende Untersuchungen des Oberleitungs-LKW unter Nachhaltigkeitsaspekten vor. Diese werden u.a. im Projekt StratON durchgeführt. Insbesondere sollen Wirtschaftlichkeitsuntersuchungen vorgenommen und hieraus Vorschläge für Geschäftsmodelle entwickelt werden. Zudem ist eine vergleichende Bilanzierung von Treibhausgasemissionen geplant. Mit diesen Folgearbeiten dienen die Ergebnisse auch als wichtige Größe, um Querbezüge zwischen der Begleitforschung zum Oberleitungs-LKW und den Realversuchen auf den drei Teststrecken herzustellen. ■ QUELLEN [1] Öko-Institut / DLR / IFEU / INFAS (2016 a): Renewbility III - Optionen einer Dekarbonisierung des Verkehrssektors, Berlin. [2] Öko-Institut / DVGW-EBI / INFRAS (2016 b): Erarbeitung einer fachlichen Strategie zur Energieversorgung des Verkehrs bis zum Jahr 2050, UBA-FB 002396, Dessau-Rosslau. [3] ITP/ BVU (2014): Verkehrsverflechtungsprognose 2030 - Los 3: Erstellung der Prognose der deutschlandweiten Verkehrsverflechtungen unter Berücksichtigung des Luftverkehrs, München/ Freiburg. [4] BMUB (2016): Klimaschutzplan 2050, Berlin. [5] PROGTRANS (2007): Abschätzung der langfristigen Entwicklung des Güterverkehrs in Deutschland bis 2050, Basel. [6 IFEU / INFRAS / LBST (2016): Klimaschutzbeitrag des Verkehrs bis 2050, UBA-FB 002355, Dessau-Rosslau. [7] IFEU / INFRAS / LBST (2016): Klimaschutzbeitrag des Verkehrs bis 2050, UBA-FB 002355, Dessau-Rosslau, S. 161. [8] Moultak, M et al. (2017): Transitioning to zero-emission heavy-duty freight vehicles. International Council on Clean Transportation (ICCT). Washington DC (White Paper), S. 45. [9] Fraunhofer ISI / Fraunhofer ICT (2017): Energiespeicher-Roadmap (Update 2017). Hochenergie-Batterien 2030+ und Perspektiven zukünftiger Batterietechnologien, Karlsruhe. [10] BAG (2016): Mautstatistik - Jahrestabellen 2016, S. 52. [11] BAG (2017): Mautstatistik - Jahrestabellen 2017, S. 44. [12] Siemens / TU Dresden / DLR (2015): ENUBA 2 - Elektromobilität bei schweren Nutzfahrzeugen zur Umweltentlastung von Ballungsräumen, Abschlussbericht, Erlangen et al. S.-31. [13] Eigene Hochrechnung auf der Basis von: IVT / DLR (2017): Fahrleistungserhebung 2014, BASt-Berichte V 291, S. 69 f. [14] BASt (2015): Manuelle Straßenverkehrszählung 2015, Ergebnisse für den Schwerlastverkehr: Übersichtskarte, Bergisch-Gladbach. [15] Siemens / TU Dresden / DLR (2015): ENUBA 2 - Elektromobilität bei schweren Nutzfahrzeugen zur Umweltentlastung von Ballungsräumen, Abschlussbericht, Erlangen et al.. S.-40. Jens Boysen Hochschule Heilbronn jens.boysen@hs-heilbronn.de Sven Kühnel Öko-Institut e.V., Berlin s.kuehnel@oeko.de Tobias Bernecker, Prof. Dr. Hochschule Heilbronn tobias.bernecker@hs-heilbronn.de Gregor Nebauer Intraplan Consult GmbH, München gregor.nebauer@intraplan.de Florian Hacker Öko-Institut e.V., Berlin f.hacker@oeko.de Markus Schubert, Dr. Intraplan Consult GmbH, München markus.schubert@intraplan.de