Internationales Verkehrswesen
iv
0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2018-0039
51
2018
702
Löst der indische Tiger den chinesischen Drachen ab?
51
2018
Dirk Ruppik
Hat China als Treiber der Weltwirtschaft ausgedient – und übernimmt nun Indien diese Rolle? Im Land der Mitte lassen Prognosen zu sinkendem BIP-Wachstum, steigende Arbeitskosten und die langsamere Zunahme von Auslandsinvestitionen diese Vermutung aufkommen. Ist aber der Subkontinent bereit, die Führungsposition zu übernehmen? Obwohl durch neue Programme viel getan wird, lässt der Status Quo der Infrastruktur leider immer noch zu wünschen übrig.
iv7020044
Internationales Verkehrswesen (70) 2 | 2018 44 LOGISTIK Indien Löst der indische Tiger den chinesischen Drachen ab? Investitionsbedarf, Aktionspläne, Straßenbau, Schienenverkehr, Hafenausbau Hat China als Treiber der Weltwirtschaft ausgedient - und übernimmt nun Indien diese Rolle? Im Land der Mitte lassen Prognosen zu sinkendem BIP-Wachstum, steigende Arbeitskosten und die langsamere Zunahme von Auslandsinvestitionen diese Vermutung aufkommen. Ist aber der Subkontinent bereit, die Führungsposition zu übernehmen? Obwohl durch neue Programme viel getan wird, lässt der Status Quo der Infrastruktur leider immer noch zu wünschen übrig. Dirk Ruppik S chon bald könnte der Wachstumslokomotive China der Dampf ausgehen: Ausländische Investitionen in Immobilien sind eingebrochen, die Wirtschaft kühlte seit 2010 (mit Ausnahme in 2017) ab und die Banken haben die Kreditvergabe gezügelt, nachdem viele Bereiche während der globalen Finanzkrise 2008 gestützt worden waren. Die Arbeitskosten in China sind jedoch beträchtlich gestiegen. Die durchschnittlichen Arbeitskosten pro Stunde in der Fertigung lagen im Land der Mitte laut der amerikanischen Businessweek in 2016 bei 3,92 USD (3,15 EUR) - in Indien dagegen bei nur 0,74 EUR. Der Anteil der Fertigung am BIP liegt in China bei 30 %, und in Indien bislang nur bei 13 %. Auf dem Subkontinent besteht also noch großes Wachstumspotenzial. Viele in- und ausländische Beobachter setzen ihre Hoffnung auf den starken Mann aus Gujarat und jetzigen Premierminister Indiens, Narendra Modi. Gujarat gilt als indischer Vorzeigestaat. Modi hatte zuvor als Ministerpräsident im nordwestindischen Staat einige bedeutende Infrastrukturprojekte im Bereich Elektrizitätsversorgung und Bewässerung auf den Weg gebracht und die Wirtschaft reformiert. Während seiner Amtszeit hat das BIP in Gujarat gemäß Forbes um 13,4 % zugenommen (Rest von Indien nur 7,8 %). Durch den Ministerpräsidenten zog der Staat Investitionen im Bereich Automobilbau und Solarenergie an. Indien besitzt neben einem großen Arbeitskräftepotenzial und gut ausgebildeten Hochschulabsolventen eine breite industrielle Basis und ein westlich orientiertes Rechtssystem. Im Gegensatz zu Ländern wie Vietnam und Indonesien besitzt es auch die Größenordnung, um China als Wachstumslokomotive abzulösen. Neben der ausufernden Bürokratie und der hohen Abhängigkeit von Rohstoff-Importen bildet die unzureichende Infrastruktur die größte Hürde für ein beschleunigtes Wachstum. Indiens Achillesferse: die-Infrastruktur In Bezug auf die Infrastruktur hat das Land der Mitte Jahrzehnte Vorsprung. Dabei ist Indien ebenso wie China ein relativ inhomogen entwickeltes Land. Neben Regionen wie Bangalore und New Delhi, in dem sich Hightech und Infrastruktur konzentrieren, existieren auch sehr unterentwickelte Regionen wie der bevölkerungsreichste Staat in Nordindien, Uttar Pradesh (200 Millionen Einwohner). Im Rahmen eines noch unter dem alten Ministerpräsidenten Manmohan Singh im Juni 2012 ausgerufenen Infrastruktur-Investmentprogramms (12. Fünfjahresplan (FJP) 2012 bis 2017) wurde eine Billion USD (rund 800 Mrd. EUR) in den Bau zweier Häfen in Andrah Pradesh und Westbengalen, dreier Flughäfen in Kerala, Goa und am Stadtrand von Mumbai sowie in Kraftwerke mit einer Gesamtleistung von 18 000 MW investiert. Das Straßennetzwerk wurde um 9500 km erweitert und ein „Eisenbahnkorridor“ gebaut. Die von Narendra Modi geführte Regierung hat nun allerdings die Erstellung von Fünfjahresplänen zugunsten von drei Jahre umfassenden Aktionsplänen gestoppt. Laut der zu Standard & Poor gehörenden indischen Ratingagentur CRISIL liegt der Investitionsbedarf für Infrastruktur von 2018 bis 2022 bei rund 770 Mrd. USD (ca. 645 Mrd. EUR). Auf den Energiesektor entfallen 193 Mrd. EUR, 130 Mrd. EUR auf den Bau von Schnellstraßen, 104 Mrd. EUR auf den Eisenbahnsektor, 71 Mrd. EUR auf die urbane Infrastruktur und 13 Mrd. EUR auf See- und Flughäfen. Bharatmala: Neues Programm für-den Straßenausbau In der Republik Indien werden 70 % der Fracht auf der Straße transportiert, davon wiederum 40 % auf gut ausgebauten Schnellstraßen zwischen den größten Städten Mumbai, Delhi, Kolkata, Chennai und Bangalore. Der Ausbau des indischen Straßensystems erfolgte in den letzten Jahren durch das „National Highway Development Project“ (NHDP). Dies wurde Anfang 2018 eingestellt, und die noch ausstehenden 10 000 km an Schnellstraßen sollen nun im weit größeren Bharatmalasowie teilweise im Sagarmala- und Setu Bharatam-Pro- Bild 1: Allein im Fiskaljahr 2018 hat die National Highways Authority of India (NHAI) bereits 150 Straßenbauprojekte mit 7400 km Länge ausgeschrieben. Foto: NHAI Internationales Verkehrswesen (70) 2 | 2018 45 Indien LOGISTIK gramm weitergebaut werden (Bild 1). Das gesamte Investment für den neu geplanten Ausbau von 83 677 km Schnellstraßen liegt bei 5,35 lakh crore indische Rupees (66,4- Mrd. EUR). Im Rahmen des Bharatmala-Programms 1 werden Schnellstraßen von Gujarat und Rajasthan nach Punjab und weiter in die Staaten des Himalayas (Jammu und Kashmir, Himachal Pradesh, Uttarakhand, Teile von Uttar Pradesh und Bihar) gebaut. Diese Strecke wird über West Bengalen, Sikkim, Assam und Arunachal Pradesh an die Grenze von Myanmar in Manipur und Mizoram weitergeführt. Der Schwerpunkt liegt auf dem Ausbau von Straßen in entlegenen ländlichen sowie unterentwickelten Stammesgebieten. Im Rahmen des Programms wird die Anzahl der Nationalen Korridore von sechs auf 50 und der Anteil des Frachtverkehrs auf Schnellstraßen von 40 % auf 80 % erhöht. Darüber hinaus wird die Anzahl der Distrikte, die mit minimal vierspurigen Schnellstraßen angebunden sind, von 300 auf 550 gesteigert. Sagarmala: Ausbau und Effizienzsteigerung Um mit dem Wachstum des Landes mithalten zu können, muss die indische Regierung bzw. Wirtschaft gemäß der Maritimen Agenda 2 bis 2020 eine zusätzliche Hafenkapazität von 3200 Mio. t schaffen, um 2500-Mio. t Fracht umschlagen zu können. Grundsätzlich muss die Leistung des Hafensystems gesteigert werden. Im Rahmen des ehrgeizigen Sagarmala-Projekts ist laut der indischen News- und Media-Webseite „Firstpost“ geplant, sechs weitere Haupthäfen zu bauen. Im National Perspective Plan (NPP) werden der Hafen Sagar in Westbengalen, Paradip Outer Habour in Odisha, Enayam in Tamil Nadu, Vadhavan in Maharashtra, Machilipatinam oder Vodarevu in Andrah Pradesh sowie Cuddalore oder Shikazhi in Tamil Nadu genannt. Die detaillierten Hafenpläne werden noch erstellt. Vadhavan handelt im Augenblick 40 % des gesamten Containeraufkommens des Landes. Momentan werden 4,16 Mio. t an Fracht jährlich umgeschlagen. Im neuen Hafen sollen es 40 bis 60 Mio. t sein. Das Paradip Outer Habour Project wird den Küstentransport von Kohle für Kraftwerke in Süd- und Westindien ermöglichen. Der neue Hafen wird eine Kapazität von 175,5-Mio. t pro Jahr besitzen. Der geplante Hafen Sagar soll als Unterstützung der Häfen Kalkutta und Haldia dienen. Die erste Phase wird acht Liegeplätze mit einer Tiefe von 15- m umfassen. Laut des Vorsitzenden des Kolkata Port Trust R. P. S. Kahlon wird er nach der Vollendung der zweiten Phase mit ebenfalls acht Liegeplätzen 50 Mio. t Schüttgut und Containerfracht handeln können. Enayam in Tamil Nadu soll zum internationalen Transshipment Hub ausgebaut werden und Fracht für Indien, die momentan über Singapur, Malaysia und Sri Lanka verschifft wird (15 % des indischen Gesamtumschlags), anziehen. Weiterhin können durch den Hafen fünf bis sechs Tage Überfahrtzeit nach Afrika, in die EU und in den Nahen Osten gespart werden. Ein weiteres Ziel ist, Frachtströme von Bangladesh und Myanmar in die EU, Afrika und die USA anzuzapfen. Die beiden anderen vorgeschlagenen Häfen in Andrah Pradesh und Tamil Nadu werden dem Kohle- und Zementumschlag dienen. Ob der geplante Hafen in Durgarajapatnam jemals gebaut wird, ist noch nicht geklärt, da Bedenken in Bezug auf seine Wirtschaftlichkeit bestehen - die Häfen Krishnapatnam und Chennai befinden sich in unmittelbarer Nähe. Die neuen Häfen sollen die gesamte Frachthandlingskapazität um 466 t jährlich erhöhen. Weitere 980-Mio. t Kapazität sollen durch die Erweiterung der anderen Haupt- und Nebenhäfen bis 2025 dazukommen. Eisenbahnnetzwerk erhält neue Investitionen Die indische Eisenbahn wurde am 16. April 1853 durch die Kolonialmacht England in Betrieb genommen - heute betreibt sie mit rund 64 000 km Streckenlänge und 7172 Bahnhöfen eines der größten Eisenbahnnetze der Welt. Im Zweiten Weltkrieg wurden die Schienenwege schwer zerstört oder abgebaut und 40 % der Schienenfahrzeuge in den Nahen Osten gebracht. Bis heute befindet sich das indische Eisenbahnnetz in einem beklagenswerten Zustand. Doch nun soll endlich investiert werden. Momentan sind auf dem Subkontinent zwei Hochgeschwindigkeits-Frachtkorridore geplant, die „Dedicated Freight Corridors“ (DFC) zwischen Kolkata, Delhi und Mumbai von insgesamt 3300 km Länge (Bild 3). Vom Projekt werden insbesondere die Häfen, Reedereien, Versender und Spediteure profitieren. Zudem wird es als Katalysator für die Industrieentwicklung entlang der Korridore dienen. Bis 2027 ist geplant, mit einer Investitionssumme von 260 Mrd. EUR 10 000 km Strecke in DFC zu verwandeln. Laut Germany Trade and Invest (Gtai) sollen verschiedene Hochgeschwindigkeitsstrecken mit ausländischer Hilfe entstehen. So will z. B. Japan bis 2022 ca. 17 Mrd. USD (14 Mrd. EUR) in eine 508 km lange Shinkansen-Strecke von Mumbai nach Ahmedabad investieren. Deutschland finanziert Machbarkeitsstudien für einen 500-km langen Hochgeschwindigkeits-Korridor von Chennai nach Mysore sowie eine Modernisierung des Bahnnetzes zwischen Chennai und Hyderabad. Frankreich prüft die Machbarkeit eines 245 km langen Hochgeschwindigkeits-Korridors zwischen Delhi und Chandigarh, Russland prüft eine HG-Verbindung zwischen Nagpur und Secunderabad. Weiterhin ist gemäß Indian Railways die zunehmende Elektrifizierung der Strecken und die Einführung von Signalanlagen nach ETCS Level II vorgesehen. ■ 1 www.india.gov.in/ spotlight/ bharatmala-pariyojana-stepping-stone-towards-new-india 2 siehe auch: Dirk Ruppik: Indiens Maritime Agenda 2020; in: Internationales Verkehrswesen (69) 4 | 2017, S. 30 Bild 2: Hochgeschwindigkeits- Bahnfrachtkorridore von insgesamt 3300 km Länge, die „Dedicated Freight Corridors“ (DFC), sollen Kolkata, Delhi und Mumbai verbinden. Grafik: Trialog/ OpenStreetMaps Dirk Ruppik Asien-Korrespondent und freier Fachjournalist, Thailand dirk.ruppik@gmx.de
