eJournals Internationales Verkehrswesen 70/2

Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2018-0042
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2018
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Transporte von Flüssignährstoffen per Binnenschiff

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Thomas Decker
Die Binnenschifffahrt und ihre Verlader- und Empfängerschaft gelten derzeit noch nicht als vom digitalen, hyperkompetitiven Wettbewerb erfasst. Verlagerungseffekte von der Straße auf das Binnenschiff gibt es kaum. Der Transport von Flüssignährstoffen könnte also ein neues Geschäftsmodell werden, um kaum genutzte Transportkorridore besser auszulasten und seit 01.01.2018 frei werdende Einhüllentanker umzuwidmen. Gülle wird inzwischen durchaus per Binnenschiff transportiert, dies allerdings noch in zu geringen Mengen. Digitale Güllebörsen könnten den Prozess forcieren.
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Internationales Verkehrswesen (70) 2 | 2018 56 Transporte von Flüssignährstoffen per Binnenschiff Geschäftsmodell - Transportkorridore - Technik Binnenschiff, Einhüllentanker, Tankschubleichter, Flüssignährstoff, Gülle, Mittellandkanal Die Binnenschifffahrt und ihre Verlader- und Empfängerschaft gelten derzeit noch nicht als vom digitalen, hyperkompetitiven Wettbewerb erfasst. Verlagerungseffekte von der Straße auf das Binnenschiff gibt es kaum. Der Transport von Flüssignährstoffen könnte also ein neues Geschäftsmodell werden, um kaum genutzte Transportkorridore besser auszulasten und seit 01.01.2018 frei werdende Einhüllentanker umzuwidmen. Gülle wird inzwischen durchaus per Binnenschiff transportiert, dies allerdings noch in zu geringen Mengen. Digitale Güllebörsen könnten den Prozess forcieren. Thomas Decker D as Thema Nährstofflogistik per Binnenschiff nimmt zunehmend an Fahrt auf. Im Rahmen eines Symposiums mit Vertretern der Agrar- und der verladenden Wirtschaft sowie der Rheinischen Fachhochschule Köln, Standort Neuss, berichtete ein teilnehmender Unternehmer, dass an einer nachhaltigen technischen und kaufmännischen Lösung gearbeitet würde. Avisiert sei ein jährliches Transportvolumen von 52 x 2 x 1200 = rund 125 000 Tonnen, das via gleichbleibender Relationen von Westdeutschland nach Nord- und Mitteldeutschland transportiert werden könne. Inwieweit diese Euphorie berechtigt ist, gilt es mit nachfolgenden fünf Fragenkomplexen zu klären: 1. zur technischen Lösung (Einhüllentanker) 2. zur kaufmännischen Lösung (Kalkulation) 3. zur logistischen Lösung (Relationen) 4. zur Verlader- und Empfängerschaft (Absatzmärkte) 5. zur Behandlung des Ladegutes (Gefahrstoffklassifikation) 1. Technische Lösung (Einhüllentanker) Für den Binnenschiffstransport von Flüssignährstoffen/ Gülle können aus technischer Sicht problemlos Einhüllentanker eingesetzt werden (Bild 1). Der Einsatz von Doppelhüllenschiffen würde dagegen die Transportkosten deutlich nach oben verändern und wäre wirtschaftlich nicht vertretbar. Einige Binnenreeder können insoweit problemlos auf entsprechenden Schiffsraum zurückgreifen. Hierbei handelt es sich um Schiffe in der 1000bis 1200-t-Klasse, welche sowohl auf dem Rhein als auch auf dem Mittellandkanal fahren könnten. Nachstehende Schiffsdaten können als Referenzdaten für gängige Einhüllentanker betrachtet werden: Länge 95 m, Breite 9 m, Tiefgang 2,70 m, Tonnage 1300 t, Maschinenleistung 800 PS. Die Schiffe sollten möglichst keine Querspanten im Laderaum bzw. im Tank haben, da dies die Entlöschung und die spätere Reinigung beinträchtigen würde. Umso verwunderlicher erscheint, dass bei dem eingangs genannten großen Logistikdienstleister trotz einer vorhandenen, Zwei Tankmotorschiffe und ein Gütermotorschiff auf dem Rhein Foto: Brühl/ Wikimedia LOGISTIK Binnenschifffahrt Internationales Verkehrswesen (70) 2 | 2018 57 Binnenschifffahrt LOGISTIK kleinen Teilflotte mit Einhüllentankern auf Nachfrage nicht in entsprechende Umbauten investiert würde. Das Verbot von Einhüllentankern ab 2018 [1] dürfte allerdings dafür verantwortlich sein, dass trotzdem genügend Zweihüllentanker zur Verfügung stehen, wobei die aktuellen Überkapazitäten, aufgebaut in der letzten Dekade, zum besagten Stichtag dann vermutlich ruckartig und zulasten vor allem kleiner Partikuliere abgebaut werden. 2. Kaufmännische Lösung (Kalkulation) Theoretisch existieren vier Ansätze für eine spätere Frachtenbildung: • Kauf eines Binnenschiffes mit anschließender Vercharterung auf Mietbasis oder Fracht pro Tonne • Vermietung oder Verleasung von Binnenschiffen über agraraffine Genossenschaften • Eincharterung von Binnenschiffen auf Mietbasis mit einem festen Frachtsatz pro Kalendertag • Eincharterung von Binnenschiffen auf Mietbasis mit ggf. variablem Frachtsatz pro Tonne Bei anstehenden Kalkulationen ist zunächst davon auszugehen, dass für entsprechende Schiffe sehr wahrscheinlich Transporte mit Jahres-Charter infrage kommen. Insofern muss für jedes einzelne Schiff zwingend auch ein Jahres-Volumen zur Verfügung stehen, und zwar unabhängig von möglichen Ausbringzeiten und Spitzenaufkommen der Flüssignährstoffe. Bei der Frachtpreiskalkulation ist zudem davon auszugehen, dass auf den Relationen kaum Rückladungen möglich sein werden. Insofern dürften sich die Frachtraten tendenziell eher im höheren Bereich bewegen. Zur Frage eines verwertbaren Mengengerüsts sei an dieser Stelle auf das 2015 beendete deutsch-niederländische Forschungsprojekt HARRM (Hafenregion Rhein-Maas) verwiesen [2]. Dessen Ergebnisse dürften für die Überschussregionen Nordrhein-Westfalen und die niederländischen Provinzen Limburg, Nord Brabant und Gelderland hinreichende Mengen identifiziert haben, um derartige Transporte in Gang zu setzen. Als potenzielle Bedarfsregionen kommen dagegen die Hildesheimer Börde und die Magdeburger Börde in Betracht [3]. Zur Frachtraten- und Mengenbildung sei schließlich verwiesen auf Untersuchungen zur Realisierung von Bioraffinerien in Nordrhein-Westfalen. Deren Datensätze zur regionalen Rohstoffverfügbarkeit, zur Bepreisung von Agrarbiomassen etc. erscheinen im vorliegenden Kontext als äußerst hilfreich. Insbesondere die Verweise auf Gülle mit einer Gesamtmenge von 6 265 549 m 3 (davon Mastschweinegülle 313 277 t Trockenmasse, TM) für NRW könnten die Preiskalkulation insgesamt erleichtern, da zumindest die „Materialkosten“ bereits vorab hinreichend fixiert werden könnten. Zur Zeit zahlen Bioraffinerien in NRW beispielsweise rund 338 EUR/ t TM [4]. Mit der Frage der Transportzeiträume geht die Frage nach der Schiffsraumbindung unmittelbar einher. Insoweit wäre ein ganzjähriger Transportzeitraum vorteilhaft, wenn nicht sogar zwingend. Lager- und Siloflächen schaffen dabei die Voraussetzungen für ganzjährige Transporte und langfristige Verträge. Gegebenenfalls könnten sogar die Reeder ihrerseits bei der Schaffung von Zwischenlagerflächen unterstützend tätig werden, indem sie nicht benötigte Tankschubleichter zur Verfügung stellen und - etwa zur Einsparung von Liegegeldern - ggf. auch vor (! ) den Binnenhäfen auf Reede liegen ließen. 3. Logistisch zweckmäßige Fahrtrouten (Relationen) Aus logistischer Sicht erscheinen aktuell folgende Relationen interessant: • Eine Niederrheinstation und/ oder eine Ladestelle am vorderen Wesel-Dattel- Kanal - Uelzen • Eine Niederrheinstation und/ oder eine Ladestelle am vorderen Wesel-Dattel- Kanal - Magdeburg • Eine Niederrheinstation und/ oder eine Ladestelle am vorderen Wesel-Dattel- Kanal - Bülstringen Die Löschstelle Hildesheim könnte theoretisch ebenfalls bedient werden. Allerdings führen hier eine Tiefgangsbegrenzung von 2,30 m und niedrige Brücken dazu, dass leere Schiffe durchaus Schwierigkeiten bei der Rückreise bekommen könnten; die Fahrt in Ballast ist bei dem Vorladegut Flüssignährstoff (Gülle) allerdings kaum denkbar; hier bedürfte es weiterer Prüfungen und Rücksprachen mit den Binnenschiffern. Auch umfangreichere Transporte auf der Rheinschiene (Ladestelle am Niederrhein oder z.B. an der Maas) könnten über aktuell umstrittene Fahrtrouten [5] hinaus realisiert werden. 4. Verlader- und Empfängerschaft (Absatzmärkte) Die Frage nach der Verladerschaft führt gedanklich zu einer Organisation, die die Ladung bei den Landwirten unter Berücksichtigung allfälliger Dokumentationspflichten akquiriert, nach Art eines Milk Runs sammelt und schließlich auf die Binnenschiffe verlädt. Dafür kämen beispielsweise Nährstoffbörsen oder Logistikunternehmen in Betracht. Als Empfänger des Ladegutes könnten ebenfalls Nährstoffbörsen und einschlägige Logistikunternehmen auftreten; ihre Aufgabe wäre es, die Ladungen bei den Landwirten in den Empfangsregionen anzubieten, zu vertreiben und zu liefern. Bild 1: Blick zur Brücke über mehrere Tankluken Quelle: [9] Internationales Verkehrswesen (70) 2 | 2018 58 LOGISTIK Binnenschifffahrt 5. Behandlung des Ladungsguts (Gefahrstoffklassifikation) Exakte Warenbezeichnung: Die Wasser- und Schifffahrtsdirektion in Münster erließ für Gülle und Nährstofftransporte eine Regelung im Bereich der Kanalabgaben (Pflichtabgabe). Dabei wird das Gut als „Düngemittel tierischen Ursprungs“ gelistet und mit der Güter-Nummer 7190 / Klasse VI geführt [6]. Man kann also davon ausgehen, dass Gülle ein Wirtschaftsgut ist und nicht als Abfallgut eingestuft wurde. Inwieweit allerdings eine Einstufung nach § 4 KrWG (Kreislaufwirtschaftsgesetz) erfolgen könnte, nach der Gülle, die in Biogasanlagen verwendet wird, als Abfall oder Nebenprodukt klassifiziert werden muss, bedarf ggf. einer weitergehenden Klärung. Feststoffanteil in der Ladung: In der Regel wird bei Gülle von rund 10 % Feststoffanteilen ausgegangen [7]. Dieser Anteil setzt sich während des Transports regelmäßig auf dem Boden der Tanks ab. Aus Kostengründen könnten daher bei Schiffen ohne entsprechende Rührwerke die Feststoffanteile bei der Löschung mit Wasser wieder verflüssigt gleichzeitig abgepumpt werden, wobei dafür drei Tankladungen Wasser ausreichen sollten (Bild 2). Reinigung von Laderäumen: Nach Beendigung der Transporte müssen die Laderäume durch eine Fachfirma gereinigt und in den ursprünglichen Zustand zurückversetzt werden (Bild 3). Die Kosten für derartige Reinigungen mit anschließender Zertifizierung der Schiffe müssten dabei grundsätzlich zu Lasten der Ware gehen und daher kundenseitig getragen werden. Fazit: Wettbewerbliche Implikationen 1. Zunächst sollten sich Reeder und Partikuliere um diese potenziell lukrativen Absatzmärkte direkt bemühen. Größere Reeder könnten insoweit bereits auf ihre eigenen Kunden bzw. bekannte Händler (Genossenschaften) und ihre kompletten Vetriebsnetze z.B. in den ostdeutschen Bundesländern zurückgreifen. Bei dieser Informationsbeschaffung hinsichtlich der Verlader- und Empfängerschaft sind jedenfalls Reeder wie Partikuliere alleine aufgrund ihres eigenen wirtschaftlichen Interesses in der Pflicht zu sehen. 2. Darüber hinaus liegt im Problem der Drittverwendungsfähigkeit von Einhüllentankern eine gewisse Ironie. Sollten nämlich die dafür in Frage kommenden Einhüllentanker eine anderweitige Drittverwendung finden, etwa dergestalt, dass ihre Frachträume - wie bereits geschehen - einfach aufgeschnitten und gekürzt werden für andere Schüttgutladungen, dann entfielen deren Transportvolumina in gleichem Maße für die in vorliegendem Kontext avisierten Nährstofflogistik-Kreisläufe. 3. Schließlich ist festzuhalten, dass die Annahme Porters, in Low-Tech-Industrien wie der Binnenschifffahrt sei kein Hyperwettbewerb zu erwarten, weil das Umfeld nicht hyperkompetitiv sei [8], trügerisch sein kann. Dass Binnenschiffstanker technisch träge sind und die Branche selbst ebenfalls so konnotiert ist, ist das eine. Dass jedoch aufgrund der Digitalisierung das Umfeld der Branche sehr wohl hyperkompetitive Züge zeitigt, ist das andere. Es eröffnen sich daher denjenigen auskömmliche Renditen, die diese Entwicklung antizipieren, getreu der beinahe 2000 Jahre alten Weisheit des römischen Kaisers Vespasian: „Pecunia non olet“. ■ QUELLEN [1] Binnenschifffahrt ZfB (2013): Binnenschifffahrt ringt um mehr Anerkennung, Nr. 10, S. 8 [2] Decker, T. (2014): Transport von Agrogütern mit Binnenschiffen zur Versorgung von Biomassekraftwerken, Ergebnisbericht zum EURE- GIO-Forschungsprojekt HARRM Neusser Schriften, 25 S., 1. Jg., (1) 2014 [3] Decker, T./ Kostosz, R. (2016): Untersuchung der Seehafenhinterlandanbindungen entlang einer West-Ost-Schiene zwischen Nordrhein-Westfalen und Sachsen-Anhalt / Brandenburg / Berlin, 20 S., Neusser Schriften, 3. Jg., (1) 2016 [4] Landtag NRW (2015): Enquetekommission zur Zukunft der chemischen Industrie in Nordrhein-Westfalen im Hinblick auf nachhaltige Rohstoffbasen, Produkte und Produktionsverfahren, Landtagsdrucksache 16/ 8500, April 2015, S. 229f. [5] https: / / www.rhein-zeitung.de/ region/ lokales/ bad-neuenahr_ artikel,-guelleschiffe-sorgen-in-brohl-fuer-grossen-Aerger-_ arid,1390936.html (18.01.03) [6] Wasser- und Schifffahrtsdirektion West im Auftrag des Bundesministeriums für Verkehr, Bau- und Stadtentwicklung; Hrsg.; 2002): Güterverzeichnis für den Verkehr auf deutschen Binnenwasserstraßen, Binnenschiffahrts-Verlag, 1986 [7] Zethner, G./ Süßenbacher, E. (2012): Vergärung von Wirtschaftsdüngern in Biogasanlagen, Umweltbundesamt Wien, 2012 [8] Porter, M.E. (1996): What is Strategy? , in: Harvard Business Review, Vol. 74 (1996), S. 61-78 [9] Hermanns, U. (2017): Bildquellen - Gülle-Stopp für die Grafschaft, http: / / guelle-stopp.de/ 2017/ 08/ 23/ guelleschiff-im-hafen-brohlam-rhein (2018.01.18) Thomas Decker, Prof. Dr. Studiengangleiter Logistik & Supply Chain Management, Professur für Transport- und Verkehrslogistik, Rheinische Fachhochschule Köln gGmbH, Standort Neuss thomas.decker@rfh-neuss.eu Bild 2: Tankstelle mit Tankwart [9] Bild 3: Tank mit Luke [9]