eJournals Internationales Verkehrswesen 70/2

Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2018-0045
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2018
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All-Electric-Tourism - nachhaltige Bodenseereisen

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2018
Helene Schmelzer
Thomas Sauter-Servaes
Fahrradreisen liegen im Trend, E-Räder entwickeln sich aus der Marktnische zu einer relevanten Fortbewegungsoption. Daraus ergibt sich eine Chance für besonders umweltverträgliche Tourismusprodukte auf der Basis elektromobiler Mobilitätsdienstleistungen. Im Projekt E-Destination wurden Konzepte für den Bodenseeraum entwickelt, um die Kombination von Bahnreise und Elektroradverkehr im Tourismus zu stärken. Im Zentrum stand dabei die Gestaltung innovativer Sharingservices im Dialog mit den lokalen Akteuren. Ziel war die Steigerung von Sichtbarkeit und Kundennutzen durch neue Geschäftsmodelle.
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Internationales Verkehrswesen (70) 2 | 2018 67 All-Electric-Tourism - nachhaltige Bodenseereisen Radtourismus mit neuen Chancen Elektromobilität, E-Bike, Intermodalität, Tourismus, Bodensee Fahrradreisen liegen im Trend, E-Räder entwickeln sich aus der Marktnische zu einer relevanten Fortbewegungsoption. Daraus ergibt sich eine Chance für besonders umweltverträgliche Tourismusprodukte auf der Basis elektromobiler Mobilitätsdienstleistungen. Im Projekt E-Destination wurden Konzepte für den Bodenseeraum entwickelt, um die Kombination von Bahnreise und Elektroradverkehr im Tourismus zu stärken. Im Zentrum stand dabei die Gestaltung innovativer Sharingservices im Dialog mit den lokalen Akteuren. Ziel war die Steigerung von Sichtbarkeit und Kundennutzen durch neue Geschäftsmodelle. Helene Schmelzer, Thomas Sauter-Servaes D as Fahrrad erlebt gegenwärtig eine Renaissance. Bestand und Nutzung steigen [1]. Elektroräder und dabei insbesondere Pedelecs sind der Wachstumstreiber im deutschen Fahrradmarkt [2]. 1,9 Millionen Privathaushalte in Deutschland waren Anfang 2016 im Besitz mindestens eines E-Rads. Das entspricht 5,1 % aller Haushalte, eine Steigerung gegenüber 2014 um 50 % [3]. Gemäss des repräsentativen Fahrrad-Monitor- Deutschland haben 16 % aller Befragten schon einmal ein E-Fahrrad ausprobiert. Interesse an Elektrorädern zeigen 42 % der Befragten [4]. Dabei kann das E-Rad aus der Sicht der Mehrheit der Nutzer das Auto zumindest teilweise substituieren [5]. Gleichzeitig hat sich die Sharing Economy im deutschen Fahrradmarkt fest etabliert. Nach dem Boom stationsbasierter städtischer Verleihsysteme und dem folgenden Markteintritt zahlreicher Anbieter von Freefloating-Systemen sind Leihräder inzwischen fester Bestandteil des Mobilitätsangebots in deutschen Grossstädten. Dies führt zu sinkenden Berührungsängsten in allen Zielgruppen und immer mehr Sharing-Erfahrung. 62 % der Deutschen haben schon einmal etwas von öffentlichen Fahrradverleihsystemen gehört, eine große Mehrheit der Kenner (79 %) bewerten dieses Konzept positiv [4]. Gute Infrastruktur, fehlende Vernetzung Davon profitiert auch der Radtourismus. Gerade in Tourismusregionen, die vielerorts an den Verkehrs- und Umweltbelastungen des touristisch induzierten motorisierten Individualverkehrs leiden, könnte das Elektrorad 1 Abhilfe schaffen. In dem von der Internationalen Bodenseehochschule geförderten Projekt E-Destination beschäftigte sich die Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) in Zusam- Foto: Uschi Dreiucker/ pixelio.de Nachhaltigkeit MOBILITÄT Internationales Verkehrswesen (70) 2 | 2018 68 MOBILITÄT Nachhaltigkeit menarbeit mit der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Gestaltung (HTWG) mit der touristischen Elektromobilität in der Bodenseeregion. Ein Fokus im Projekt lag auf der Untersuchung der Vernetzung der einzelnen Mobilitätsangebote sowie der Zusammenarbeit der Akteure. Eine wichtige Erkenntnis ist, dass in der Region intermodale Mobilitätsangebote für Touristen fehlen, wie z. B. Kombi-Tickets und dementsprechende Kooperationen, die die Nutzung des Öffentlichen Verkehrs (ÖV) mit dem Verleih von E-Rädern verknüpfen - sowohl für die An- und Abreise als auch für die Mobilität vor Ort. Dabei könnten derartige Kooperationen einen Mehrwert für alle Beteiligten bieten, den motorisierten Individualverkehr reduzieren und zur Attraktivität der Tourismusregion Bodensee beitragen. Um das Potenzial solcher intermodalen Angebote zu überprüfen, wurde die bestehende E-Bike-Verleihinfrastruktur erfasst und die Entfernung dieser Verleihstationen zu den Bahnhalten betrachtet. Im Untersuchungsgebiet wurden auf Basis einer Internetrecherche etwa 100 E-Rad-Verleihstationen identifiziert. Diese werden hauptsächlich von Fahrradeinzelhändlern, aber auch von spezialisierten Fahrradverleihern, Tourismusinformationen und Hotels betrieben. In sieben der zehn größten Städte der Region ist mindestens eine E-Rad-Verleihstation weniger als 300 m vom Bahnhof entfernt. In einer weiteren Stadt befindet sich eine Verleihstation innerhalb einer Distanz von 500-m vom Bahnhof. Betrachtet man alle E- Rad-Verleihstationen im Untersuchungsgebiet, so sind etwa 40 % der Stationen maximal 500 m von einem Bahnhalt entfernt (vgl. Bild 1). Somit bietet sich die bestehende Verleihinfrastruktur für eine intermodale Mobilitätslösung an. Doch inwieweit existieren bereits gemeinsame intermodale Mobilitätsangebote in der Region? Vorbild Schweiz Auf der Schweizer Seite findet man mit Rent a Bike ein schweizweites Angebot - dies in Kooperation mit den Schweizerischen Bundesbahnen (SBB), diversen Privatbahnen und Partnern aus Tourismus und Sportfachhandel. Rent a Bike bietet rund 200 Verleihstationen an. Diese befinden sich überwiegend direkt am Bahnhof, wobei das Sortiment nicht nur auf elektrisch unterstützte Fahrräder beschränkt ist. Bei der Anreise mit dem ÖV erhält der Kunde mit den Rail- Away-Kombi-Angeboten bis zu 20 % Rabatt auf die Fahrradmiete. Zudem können die Räder an anderen Stationen abgegeben als ausgeliehen werden. Die SBB vermarkten dieses Angebot auf ihrem Internetauftritt und leiten interessierte Kunden direkt auf die Reservationsseite von Rent a Bike weiter. Anders als auf der Schweizer Seeseite fehlt am deutschen Ufer des Bodensees eine derartige Zusammenarbeit zwischen ÖV- Anbietern und E-Rad-Verleihern. Seitens DB Regio Baden-Württemberg besteht relevantes Interesse, den Radtourismus mit Leihfahrrädern zu stärken. Die Nutzung von Leihfahrrädern am Bodensee könnte die Kapazitätsnachfrage in den Zügen während der touristischen Hauptverkehrszeiten deutlich reduzieren. Verspätungen, die durch erhöhte Fahrgastwechselzeiten aufgrund vieler mitbeförderter Fahrräder induziert werden, würden reduziert. In der Summe resultiert für die Bahn aus attraktiven Verleihangeboten demnach nicht nur ein zusätzliches Nachfragepotenzial, sondern zugleich eine Verbesserung der gegenwärtigen betrieblichen Angebotsqualität - bis hin zur Vermeidung von zukünftigen Kostensprüngen durch ggf. notwendiges zusätzliches Fahrzeugmaterial bei der weiteren Zunahme des Radtourismus am Bodensee [6]. Eine wesentliche Herausforderung auf der deutschen Seeseite, eine derartige Mobilitätsdienstleistung anzubieten, besteht im Fehlen eines einzelnen großen E-Rad- Verleihers oder eines Verleihnetzwerks. Das Angebot ist stark fragmentiert, die einzelnen Verleiher sind meist sehr klein und bieten nur lokale Verleihoptionen oder sehen den Verleih von E-Rädern nicht als ihr Kerngeschäft an. Dies hemmt zum einen umsatzfördernde Kooperationen sowohl horizontal (z. B. Zusammenarbeit mit Schweizer Rent a Bike) als auch vertikal (z. B. Vertriebskooperation mit DB AG) in der Wertschöpfungskette. Zum anderen verhindert dies die Möglichkeit, E-Bikes an einer Verleihstation abzuholen und an einer anderen wieder zurückzugeben (sog. Oneway-Fahrten). Das Angebot beschränkt sich somit auf sog. Roundtrips, die eine Rundfahrt bedingen. Für die Nutzung des Bodenseeradwegs eine eher ungünstige Randbedingung, wenn nicht der komplette See umrundet werden soll. Insbesondere für Multiplikatoren wie die Deutsche Bahn oder die Tourismusorganisation des Bodenseeraums sind auf dieser Basis keine Sichtbarkeit stei- Bild 1: Distanz von E-Velo-Verleihstationen zum nächstgelegenen Bahnhalt Internationales Verkehrswesen (70) 2 | 2018 69 Nachhaltigkeit MOBILITÄT gernden Zusammenarbeiten oder gar Paketangebote entwickelbar. Offene Plattformen zur Nutzung bestehender Wachstumschancen Dabei zeigen Marktrecherche und Stakeholder-Gespräche große Potenziale für neuartige Verleihkonzepte und die Integration von Bahn- und Radverkehr. Tagesausflüge in der Freizeit sowie während des Urlaubs stellen mit 266 Mio. Ausflügen nicht nur zahlenmäßig das bei weitem größte Radreisesegment in Deutschland dar. Es verzeichnete 2017 auch als einziges Radreisesegment deutliche Zuwächse [7]. Für viele Touristen ist das Leihrad eine attraktive Option. Schon heute interessieren sich 40 % der Tagesausflügler für Mieträder, davon rund die Hälfte für Elektrofahrräder [7]. Jeder fünfte Radreisende findet es wichtig, dass es am Urlaubsort auch Elektrofahrräder zur Miete gibt [8]. Wie könnte also eine entsprechende Lösung für den deutschen Raum und im Idealfall eine grenzüberschreitende Zusammenarbeit vorangetrieben werden? Aus den Gesprächen mit Vertretern der Branche kommen wir zu dem Ergebnis, dass es einen Austausch zwischen den relevanten Akteuren und Interessensvertretern braucht. Da der Markt sehr fragmentiert ist und eine treibende Kraft fehlt, könnte dieser durch eine neutrale Instanz initiiert werden, wie z.B. die Internationale Bodenseekonferenz, die Internationale Bodenseetourismus GmbH und/ oder im Rahmen eines Anschlussprojektes. Bei der Konzeption von neuen Angeboten ist insbesondere darauf zu achten, keine neuen abgeschlossenen Insellösungen zu schaffen, sondern an bestehenden Angeboten anzuknüpfen. Neue Mobilitätsangebote sollten zudem offene Systeme sein, die möglichst europaweit vernetzt und nutzbar sind. Voraussetzung hierfür sind einheitliche Nutzungs- und Tarifstrukturen sowie intra- und interregionale Kooperationen und Netzwerke. ■ 1 Der Begriff E-Rad umfasst hier sowohl Pedelecs als auch E-Bikes. Pedelecs geben eine elektrische Unterstützung beim Treten bis 25km/ h mit einer maximalen Leistung von 250W. E-Bikes weisen eine höhere Leistung und Geschwindigkeit als Pedelecs auf, teilweise mit Antrieb ohne Treten, mit Versicherungs- und Helmpflicht [1]. LITERATUR [1] BMVI (2014): Radverkehr in Deutschland. Zahlen, Daten, Fakten. Berlin, http: / / www.ziv-zweirad.de/ uploads/ media/ radverkehr-in-zahlen.pdf [2] Zweirad-Industrie-Verband (2018): Zahlen - Daten - Fakten zum Deutschen E-Bike-Markt 2017. E-Bikes mit Rekordzuwächsen. Pressemitteilung vom 13. März 2018. Bad Soden. http: / / www.ziv-zweir a d . d e / f i l e a d m i n / r e d a k t e u r e / D o w n l o a d s / M a r k t d a t e n / PM_2018_13.03._E-Bike-Markt_2017.pdf [3] Destatis (2017): 1,9 Millionen Haushalte in Deutschland mit Elektrofahrrad. Mitteilung vom 30.05.2017. https: / / www.destatis.de/ DE/ PresseService/ Presse/ Pressemitteilungen/ zdw/ 2017/ PD17_22_ p002.html [4] Sinus Markt- und Sozialforschung (2017): Fahrrad-Monitor Deutschland 2017. Ergebnisse einer repräsentativen Online-Befragung. Heidelberg. http: / / www.bmvi.de/ SharedDocs/ DE/ Anlage/ G/ fahrradmonitor-2017-ergebnisse.pdf? __blob=publicationFile [5] Internetstores (2016): Studie zum Thema E-Bikes & Pedelecs. Esslingen. https: / / www.fahrrad.de/ info/ content/ uploads/ ebike-pedelecstudie-zahlen-fakten.pdf [6] Sascha Baron, Michał Beim, Oliver Dümmler, Volker Schmitt (2011): Fahrradmitnahme im Schienenpersonennahverkehr. Praxiserfahrungen und Handlungsempfehlungen. Grüne Reihe Nr. 70. Kaiserslautern [7] ADFC (2018): ADFC-Travelbike-Radreiseanalyse 2018. 19. bundesweite Erhebung zum fahrradtouristischen Markt. Langversion. https: / / www.adfc.de/ radreiseanalyse/ die-adfc-radreiseanalyse-2018 [8] ADFC (2017): ADFC-Travelbike-Radreiseanalyse 2017. 18. bundesweite Erhebung zum fahrradtouristischen Markt. Langversion. https: / / www.adfc.de/ radreiseanalyse/ die-adfc-radreiseanalyse-2017 Helene Schmelzer Projektleiterin, Institut für Nachhaltige Entwicklung, Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, Winterthur helene.schmelzer@zhaw.ch Thomas Sauter-Servaes, Dr.-Ing. Mobilitätsforscher, Institut für Nachhaltige Entwicklung, Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, Winterthur thomas.sauter-servaes@zhaw.ch Planen Sie gemeinsam mit uns in Bremen die Zukunft der Mobilität mit nachhaltigen Strategien und innovativen Verkehrsprojekten. Wir suchen Planer/ innen und Ingenieure/ innen in der Abteilung Verkehr beim Senator für Umwelt, Bau und Verkehr für die folgenden Aufgaben: Verkehrsentwicklungsplanung, Verkehrsprojekte, ÖPNV-Planung und Koordination, ÖPNV- und Eisenbahninfrastrukturausbau, Mobilitätsmanagement, Rad- und Fußverkehrsplanung, Nahmobilitätskonzepte, Strategie und Verkehrspolitik, Baustellenkoordination. Projekte und Konzepte der Freien Hansestadt Bremen wurden u.a. ausgezeichnet mit dem SUMP-Award der EU für Nachhaltige Mobilitätskonzepte, dem Deutschen Verkehrsplanungspreis und dem Deutschen Fahrradpreis. Wir bieten Ihnen u.a. • einen eigenverantwortlichen hohen Gestaltungspielraum, • eine unbefristete und zukunftssichere Beschäftigung im öffentlichen Dienst, • umfassende Weiterbildungsmöglichkeiten und regelmäßige Teilnahme an Fachtagungen und Mitarbeit in Fachgremien, • flexible Arbeitszeiten sowie die Förderung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Weitere Informationen, Ansprechpartner und Stellenausschreibungen finden Sie auf unserer Internetseite www.bauumwelt.bremen.de l Verkehr l Stellenangebote Bremen bewegen: Heute den Verkehr von morgen gestalten © machart-bremen.de, Foto: BSAG