eJournals Internationales Verkehrswesen 70/3

Internationales Verkehrswesen
iv
0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2018-0066
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2018
703

Auswirkungen des autonomen Fahrens aus Sicht der Verkehrsplanung

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2018
Konrad Rothfuchs
Philip Engler
Dem derzeit viel diskutierten Thema autonomes Fahren fehlt aus Sicht der Autoren eine fokussierte Betrachtung der Wirkungen aus verkehrs- und stadtplanerischer Perspektive, während vor allem zu technischen Aspekten zahlreiche Überlegungen und Forschungen angestellt werden. Um eine sinnvolle Abwägung zwischen den Vor- und Nachteilen der Einführung autonomer Fahrsysteme für die Verkehrsentwicklung treffen zu können, soll der vorliegende Beitrag die Aufmerksamkeit stärker darauf lenken, welche Implikationen das fahrerlose Fahren für das Verkehrssystem als solches mit sich bringen könnte.
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Internationales Verkehrswesen (70) 3 | 2018 60 MOBILITÄT Autonomes Fahren Auswirkungen des autonomen-Fahrens aus Sicht der-Verkehrsplanung Thesen und offene Fragen Fahrerloses Fahren, Stadtplanung, Akzeptanz, Sharing-Systeme, Marktdurchdringung Dem derzeit viel diskutierten Thema autonomes Fahren fehlt aus Sicht der Autoren eine fokussierte Betrachtung der Wirkungen aus verkehrs- und stadtplanerischer Perspektive, während vor allem zu technischen Aspekten zahlreiche Überlegungen und Forschungen angestellt werden. Um eine sinnvolle Abwägung zwischen den Vor- und Nachteilen der Einführung autonomer Fahrsysteme für die Verkehrsentwicklung treffen zu können, soll der vorliegende Beitrag die Aufmerksamkeit stärker darauf lenken, welche Implikationen das fahrerlose Fahren für das Verkehrssystem als solches mit sich bringen könnte. Konrad Rothfuchs, Philip Engler D as autonome Fahren nimmt in der fachlichen Debatte einen immer breiteren Raum ein. Ausdruck dessen sind eine stetig steigende Zahl von Beiträgen in wissenschaftlichen oder praxisbezogenen Veröffentlichungen sowie eine wachsende mediale Aufmerksamkeit für das Thema. Zudem nehmen auch die Einrichtung von Testfeldern und die Durchführung von Pilotprojekten zu und illustrieren den Schritt von der theoretischen zur praktischen Erprobung dieses neuartigen Mobilitätsfeldes. Aus Sicht der Autoren besteht in der Beschäftigung mit dem Thema eine inhaltliche Schieflage: Während vor allem zu technischen Aspekten der Umsetzbarkeit zahlreiche Überlegungen und Forschungen angestellt werden, bleiben grundlegende verkehrsplanerische Betrachtungen selten. Mit dem vorliegenden Beitrag soll versucht werden, die Aufmerksamkeit stärker darauf zu lenken, welche Implikationen das fahrerlose Fahren für das Verkehrssystem mit sich bringen könnte. Entwicklungsstand autonomer Fahrsysteme Unter autonomen Fahrsystemen bzw. dem fahrerlosen Fahren wird die vollständige Übernahme der Fahrfunktion durch ein computergesteuertes System verstanden, das ohne den Eingriff eines menschlichen Fahrers auskommt. Der Mensch kann sich während der Fahrt fahrfremden Tätigkeiten zuwenden bzw. seine Anwesenheit im Fahrzeug ist nicht erforderlich. Letzteres ist insbesondere für Gütertransporte [1] und Rückführungen sowie im Bereich des autonomen Parkens relevant, da hier durch den Verzicht auf einen Fahrer erhebliche Zeit- und Kostenersparnisse sowie Erleichterungen wie eine wegfallende Parkraumsuche entstehen. Fahrerloses Fahren ist bisher nicht in Serienreife entwickelt worden und - von Teststrecken und Pilotprojekten abgesehen - regelhaft auf keiner Straße zugelassen. Aussagen zur technischen Machbarkeit aus der Automobil- und der IT-Industrie, die maßgeblich mit dem Themenfeld autonomes Fahren beschäftigt sind, sind uneinheitlich und schwierig zu verifizieren. Die Vielzahl öffentlicher Ankündigungen mit stetig kürzeren Zeiträumen bis zur Markteinführung dürfte zu einem hohen Maße auch dem Wettbewerb zwischen den Unternehmen geschuldet sein. Allerdings verdeutlichen sie ebenso wie die in Aussicht oder schon bereit gestellten finanziellen Ressourcen den hohen Stellenwert des Themas in der Branche ebenso wie in Politik und Gesellschaft. Es liegen nur wenige belastbare Einschätzungen zur Zeitschiene vor. Dennoch herrscht in der Industrie die Überzeugung vor, dass autonome Systeme eines Tages tatsächlich auf die Straßen kommen werden. Die Politik scheint diese Überzeugung zu teilen und setzt über neue Regelungen und Förderprogramme schrittweise Anreize zur Nutzung autonomer Fahrsysteme. Dagegen wird dem autonomen Fahren - von leichter handhabbaren Anwendungsfällen wie Autobahnen oder Parkhäusern abgesehen - von einigen Akteuren aus Wissenschaft und Planung keine flächendeckende Zukunft vorausgesagt. Begründet wird dies meist mit der Schwierigkeit, mit komplexen Situationen umzugehen und mit weniger berechenbaren Verkehrsteilnehmern wie Radfahrern und Fußgängern zu kommunizieren. Auch die Gefahr von Cyberattacken und eine mangelnde Akzeptanz in der Bevölkerung könnten dazu führen, dass das autonome Fahren nicht vollständig manuell gesteuerte Fahrzeuge ersetzt. Ob sich die Nutzung autonomer Fahrzeuge tatsächlich in allen Bereichen durchsetzt oder nicht, ist aufgrund der vielen verschiedenen beeinflussenden Faktoren derzeit nicht absehbar. Berücksichtigt man die vorherrschende Begeisterung für das (eigene) Auto in weiten Teilen der Gesellschaft, steht dies sogar komplett infrage. Klar ist aber, dass bis zu einer nennenswerten Durchdringung des KFZ-Bestands durch autonome Fahrzeuge noch ein längerer Zeitraum vergehen wird (Bild 1). Entsprechend müssen Überlegungen zu den Auswirkungen autonomen Fahrens immer auch ein Szenario berücksichtigen, in dem manuell gesteuerte und autonom fahrende Fahrzeuge parallel im Straßenverkehr unterwegs sind. Internationales Verkehrswesen (70) 3 | 2018 61 Autonomes Fahren MOBILITÄT Fragen zur weiteren Entwicklung des autonomen Fahrens aus Sicht der Verkehrsplanung Die Beschäftigung mit der Thematik wirft an vielen Stellen Fragen auf. Deren Beantwortung ist von zentraler Bedeutung für den weiteren Umgang mit dem autonomen Fahren. Im Folgenden werden einige dieser Fragen aufgelistet und erläutert sowie der Versuch erster Antworten unternommen. Die Liste ist nicht abschließend und kann dies auch nicht sein, da beim Thema autonomes Fahren die Beantwortung oder Bearbeitung einzelner Fragen meist neue Fragen aufwirft und viele diskussionswürdige Details erst mit der Zunahme praktischer Erfahrungen sichtbar werden dürften. Wie ist das autonome Fahren aus Sicht der Verkehrsplanung einzuordnen? Dem autonomen Fahren werden zahlreiche Vorteile zugeschrieben. Insbesondere wird von einer (deutlichen) Reduzierung von Unfällen und damit der Zahl von Verletzten und Toten im Straßenverkehr ausgegangen. Dies wird damit begründet, dass die Hauptunfallursache menschliches Versagen kaum noch zum Tragen käme. Dieser weit verbreiteten und teilweise nicht hinterfragten Argumentation treten mittlerweile jedoch zahlreiche Verkehrsforscher entgegen. Kossak [3] führt beispielsweise aus, dass auch die betreffenden Systeme fehleranfällig seien und ein bedeutender Teil der heute dem menschlichen Versagen zugeschriebenen Unfallursachen auch bei autonomen Fahrzeugen fortbestünde (etwa Mängel des Straßenzustands, Witterungseinflüsse; [3], S. 640/ 641). Zudem könne sich die Vision einer deutlichen Reduzierung der Verkehrsunfälle allenfalls auf den Zeitpunkt der vollständigen Durchdringung des Verkehrsgeschehens durch autonome Fahrzeuge beziehen, während „in der Übergangsphase […] sogar eher mit einer Zunahme von Personenschäden zu rechnen“ wäre ([3], S. 642). Des Weiteren gewinnt der bisherige Fahrer Zeit, die er für andere Aktivitäten nutzen kann, während das System das Auto steuert oder nach Fahrtende selbstständig parkt. Beim Carsharing und im Taxiwesen sowie beim Güterverkehr wird von hohen Kostenvorteilen ausgegangen, da für Überführungen sowie den Personen- und Gütertransport selbst keine Arbeitskräfte mehr benötigt würden [1]. Aus diesem Grund werden auch erhebliche Attraktivitätsgewinne für Ridesharing-Angebote gesehen (s. u.). Für nachfrageschwächere Gegenden wird dem autonomen Fahren ein erhebliches Potenzial zur Stärkung des öffentlichen Verkehrsangebots durch zielgenaue On- Demand-Dienste in Kombination mit leistungsfähigen Linienverkehren zugeschrieben. Ein wesentlicher Vorteil liegt darin, dass autonome Fahrzeuge so programmiert sein werden, dass sie angeordnete Tempolimits, Halteverbote etc. bedingungslos befolgen. In Bereichen, in denen ausschließlich autonome Fahrzeuge verkehren, sind daher erhebliche Erleichterungen bei der Verkehrsplanung zu erwarten, da keine möglichen unangepassten Verhaltensweisen der Fahrzeugnutzer und entsprechend auch keine Gegenmaßnahmen (etwa zur Verkehrsberuhigung) mitgedacht werden müssen. Als weiterer Vorteil des Einsatzes autonomer Fahrzeuge kann der deutlich geringere Bedarf an Parkraum angesehen werden (Bild 2). Da durch den Einsatz autonomer Fahrsysteme mutmaßlich der PKW-Bestand zurückgehen wird und gleichzeitig gegenüber manuell gesteuerten Fahrzeugen die Abstellzeiten abnehmen werden, lässt der Bedarf an nach Parkraum insgesamt nach. Besonders stark dürfte die Nachfrage nach Parkständen im öffentlichen Raum sinken, da autonome Fahrzeuge nicht mehr direkt am Start- oder Zielort einer Fahrt parken müssen, sondern sich von dort aus auch ohne Insassen zu größeren Parkierungsanlagen bewegen können. Den geschilderten Vorteilen stehen jedoch auch absehbare Nachteile gegenüber. So muss von einer Zunahme der Fahrleistung ausgegangen werden, da das autonome Fahren „aufgrund der damit verbundenen Auflösung von Raumwiderständen und einem anderen Zeitverständnis für Distanzen starke Wirkung auf unsere Entscheidungen und die gebaute Umwelt entfalten [wird]“ [4]. Die angenommene Verkürzung von Fahrzeiten (incl. entfallender Parkplatzsuche) und vor allem die Neubewertung dieser Zeit im Auto könnte eine Zunahme der Wege nach sich ziehen. Ebenfalls ist von einer Beeinflussung der Wohnstandortwahl auszugehen: „Eine Folge wäre die Entste- Bild 1: Mögliche Marktdurchdringung der autonomen Fahrzeugflotte Eigene Darstellung nach [2], S. 13 Bild 2: Wirkung des autonomen Fahrens auf den Parkraumbedarf Quelle: ARGUS/ beyond visual arts Internationales Verkehrswesen (70) 3 | 2018 62 MOBILITÄT Autonomes Fahren hung von neuen Siedlungsgebieten vergleichsweise geringer Dichte und geringer Nutzungsmischung analog zur Suburbanisierung“ ([5], S. 231) - ein Szenario, das den Zielen nachhaltiger Stadt- und Verkehrsentwicklung entgegensteht. Darüber hinaus besteht ein Grundkonflikt zwischen einem autonom fahrenden KFZ-Verkehr mit dem Fuß- und Radverkehr, der aufgrund einer erleichterten Störung des KFZ-Verkehrs in höherem Maße die Leistungsfähigkeit von Straßen beeinflussen kann. Eine zusammenfassende Beurteilung des autonomen Fahrens ist an dieser Stelle noch nicht vorzunehmen, da sowohl bedeutsame Vorals auch Nachteile identifiziert werden können. Klar ist jedoch, „dass die reine Existenz von marktreifer Technologie noch lange nicht deren Erfolg und Veränderungspotenzial bedeutet“ [4]. Mit welchen Instrumenten lässt sich die Entwicklung des autonomen Fahrens im Sinne einer nachhaltigen Stadt- und Verkehrsentwicklung steuern und nutzen - welche Stellschrauben stehen Politik/ Verwaltung zur Verfügung? Die Beantwortung dieser Frage sollte bei den entsprechenden Akteuren eine hohe Priorität haben. Die derzeitige Situation, dass die Einführung autonomer Fahrsysteme durch Konzerne vorangetrieben wird, dürfte zur Erreichung von verkehrs- und stadtplanerischen Zielen nur bedingt geeignet sein. Insbesondere werden nachteilige Effekte für bestimmte Bevölkerungsgruppen oder auf Umweltbedingungen so nicht ausreichend beachtet. Einen wesentlichen Faktor für die Nutzbarmachung des autonomen Fahrens für eine nachhaltige Verkehrsentwicklung stellt eine Erhöhung des Car- und Ride-Sharing- Anteils dar, durch die der PKW-Bestand auf der Straße reduziert werden kann. Hier sind verschiedene Maßnahmen denkbar, insbesondere die Gewährung spezifischer Vorteile für Anbieter und Kunden solcher Sharing-Dienste, etwa Sonderspuren auf Hauptverkehrsstraßen oder eine Einfahrtserlaubnis in Quartiersstraßen, die ansonsten für den PKW-Verkehr gesperrt sind. Unabdingbar scheint der flankierende Aus- oder Aufbau eines hochleistungsfähigen (schienengebundenen) ÖPNV-Netzes. Nur so lässt sich verhindern, dass die gesamte Wegekette im autonomen Fahrzeug zurückgelegt wird. Vielmehr können autonome Fahrzeuge durch ihre flexible und anwenderfreundliche Mobilität eine gute Ergänzung zu einem eher starren und gleichzeitig schnellen und massenkompatiblen Verkehrsmittel wie dem schienengebundenen Nahverkehr darstellen. Eine weitere Möglichkeit zur sinnvollen Integration autonomer Fahrsysteme in eine nachhaltige, auf kurze Wege und die Nutzung des Umweltverbundes ausgelegte Mobilität besteht im Aufbau einer (oder mehrerer) Mobilitätsplattform(en), über die intermodales Verkehrsverhalten gefördert werden kann, das autonome Fahrzeuge nicht als singuläre Option, sondern als Bestandteil eines umfassenden Mobilitätsangebots wahrnimmt. Wo liegt die Grenze zwischen der Leistungsfähigkeit des KFZ-Verkehrs und den Anforderungen an eine durch Nahmobilität und Aufenthaltsqualität geprägte Quartiersentwicklung? Diese Frage ist ein Schlüssel zum Umgang autonomer Fahrsysteme mit dem restlichen Verkehr, v.a. dem Fuß- und Radverkehr. Die Grenze dürfte je nach Kontext von Situation zu Situation unterschiedlich liegen und müsste entsprechend einzelfallbezogen definiert werden, auf Basis entsprechender Studien und vor allem mit flexiblen Planungskonzepten im Sinne einer Planungskultur, „die das Experimentieren und die Entwicklung von temporären Lösungsansätzen stärker aufnimmt“ ([6], S. 10). Die mittlerweile zahlreichen Shuttle-Angebote, die teilweise bereits auf öffentlichen Straßen unterwegs sind (z. B. Bad Birnbach) oder in der nächsten Zeit eingesetzt werden (z. B. HafenCity Hamburg), können hier wichtige Erfahrungswerte liefern. Dass autonome Fahrzeuge auch in kleinen Quartiersstraßen zum Einsatz kommen, scheint grundsätzlich kein Problem zu sein - wenn allen Beteiligten bewusst ist, dass diese Fahrzeuge sich dann der Situation vor Ort unterordnen werden und ggf. nur sehr langsam vorankommen. Dies allein dürfte die Bereitschaft der Nutzer, in solche Straßen einzufahren (bzw. sich einfahren zu lassen), ausreichend senken, und diese Fahrten nur Notfällen oder zwingenden Erfordernissen (Mobilitätseingeschränkte, Lastentransporte, Lieferdienste) vorbehalten bleiben. Wie groß ist die Wirkung autonomer Systeme auf die Nutzung von Sharing-Systemen? Die Zahl der künftig auf der Straße verkehrenden Fahrzeuge hängt wesentlich davon ab, wie diese Fahrzeuge oder zumindest ein Teil davon genutzt wird. Es liegt auf der Hand, dass autonome Fahrzeuge zu einer deutlichen Erhöhung des Anteils von Carsharing führen werden, da das Abholen und Wegbringen und damit ein wesentlicher Nachteil heutiger Carsharing-Systeme entfällt. Auch für ein (technisch) funktionierendes Ridesharing-System, bei dem ein autonomes Fahrzeug auf individuelle Anforderung hin mehrere Personen an verschiedenen Orten aufsammelt und abliefert, ist von deutlichen Vorteilen des Einsatzes autonomer Fahrsysteme auszugehen: Der Fahrer als größter Kostenfaktor wird eingespart und wirkt nicht länger beschränkend (Lenkpausen, Arbeitszeitbegrenzung) auf die Verfügbarkeit des Fahrzeugs, das theoretisch rund um die Uhr unterwegs und abrufbar sein könnte (Bild 3). Die zur Optimierung dieser Fahrtwege notwendige (Karten-) Software existiert bereits, wie neueste Projekte auch in deutschen Städten zeigen (z.B.- CleverShuttle, Berlkönig, Drive2day, MOIA). Der „fehlende“ Fahrer könnte aus Sicht der Nutzerakzeptanz sowohl positive als auch negative Implikationen mit sich bringen: Einerseits fällt eine mögliche Hürde für Nutzer weg, die nicht mit einer fremden Person fahren möchten, andererseits fehlt damit auch eine Person zur sozialen Kontrolle. Die subjektive Sicherheit kann nur zum Teil durch Kameras o. . ä. gewährt werden. Die Zielvorstellung ist ein Ride-Sharing- System, in dem „kostengünstige autonome Taxis nicht auf festen Routen und nach star- Bild 3: Das Self-Driving-Car SEDRIC des Volkswagen-Konzerns wurde von Grund auf für das autonome Fahren konzipiert. Quelle: Volkswagen AG Internationales Verkehrswesen (70) 3 | 2018 63 Autonomes Fahren MOBILITÄT ren Fahrplänen [operieren], sondern bedarfsorientiert und flexibel. Sie sind im permanenten Fahrbetrieb und verkehren in einem stadtweiten, dichten Netz von Stationen“ ([5], S. 232). In der Theorie scheint die Wirksamkeit bedarfsorientierter und flexibler Ride-Sharing-Systeme sehr plausibel zu sein. Zudem zeigen zahlreiche bereits laufende oder angekündigte Angebote (z.B. Clever Shuttle, Berlkönig, Allygator oder MOIA) das große Interesse sowohl der Automobilwie auch der IT-Industrie an dieser Dienstleistung. Diese Projekte werden jedoch erst zeigen müssen, wie groß die Möglichkeiten des Ridesharing in der Praxis tatsächlich sind. Dies betrifft einerseits die Bereitschaft der Nutzer, ihre Mobilität in einem kleinen Fahrzeug mit fremden Personen abzuwickeln. Andererseits besteht systemisch die Schwierigkeit, die Nachfrage an unterschiedlichen Orten in einer Stadt so abzuwickeln, dass die Nutzer nicht mit zu großen Umwegen und die Straßen nicht mit zu vielen Leerfahrten belastet werden. Einen Hinweis geben die Angebote teilweise bereits heute, da nicht alle ein aufwendiges Tür-zu-Tür-Konzept verfolgen, sondern auf ein Netz aus virtuellen Haltestellen setzen. Ist eine Teil-Zulassung autonomer Fahrzeuge sinnvoller als eine vollständige? Die ersten Erkenntnisse zur Wirkungsweise und zu Problemen autonomer Fahrsysteme sind zunächst in abgeschlossenen Teilbereichen zu erwarten: vergleichsweise weniger komplexe Abläufe, etwa auf Autobahnen oder in Parkhäusern sowie niedrigere Geschwindigkeiten, beispielsweise bei innerstädtischen Shuttle-Bussen wie im niederbayerischen Bad Birnbach. Solchen Systemen wird eine Pionierrolle zugeschrieben, zumal „die Vorab-Erwartungen der Fahrgäste die tatsächlichen technischen Fähigkeiten des Fahrzeugs noch überstiegen“ ([7], S. 58). Heinrichs ([5], S. 234) geht demgegenüber jedoch davon aus, „dass die Akzeptanz aufgrund der individuellen Vorteile für Lebensstil oder Handel in den kommenden Jahrzehnten steigen wird“, insbesondere, wenn sich das autonome Fahren als effizienteres und umweltschonenderes Verkehrssystem erweisen würde. Die größten Effekte für die innerstädtische Verkehrsentwicklung lässt das Thema Parken erwarten. Durch das selbstständige Aufsuchen von Parkierungsanlagen können Parkstände im öffentlichen Raum weitgehend reduziert werden. Daher sollte dieser Teilbereich autonomer Fahrsysteme in jedem Fall und möglichst zeitnah zur Anwendung kommen. Dabei stellt dies bereits maximale Anforderungen an die autonomen Fahrzeuge, da sie auch den öffentlichen Raum bis zum Parken nutzen würden. Das autonome Fahren auf Autobahnen würde zahlreiche Vorteile bei nur wenigen Nachteilen mit sich bringen. Die Reduzierung schwerer Verkehrsunfälle kann insbesondere hier erreicht werden. Zudem gibt es auf Autobahnen weniger komplexe Verkehrssituationen und keine Benachteiligung anderer Verkehrsmittel, wie dies in städtischen Räumen der Fall wäre. Allerdings muss auch hier ein Umgang mit manuell betriebenen Fahrzeugen entwickelt werden, vor allem für den Extremfall eines aggressiven und/ oder das Nachgeben autonomer Fahrzeuge ausnutzenden Fahrzeugführers. Nachteilig bliebe allerdings die Gefahr der Neubewertung des motorisierten Fahrens mit den beschriebenen Implikationen für die Zunahme der Fahrten und die Wohnstandortwahl, da gerade die Autobahn große tägliche Aktionsradien erlauben würde. Ansonsten bleibt die Anforderung bestehen, für die verschiedenen Straßentypen jeweils zu definieren, ob dort - im Zusammenspiel mit Fuß- und Radverkehr - autonome Fahrzeuge zugelassen werden sollen. Letztlich ist die Frage der vollständigen Einführung autonomer Fahrzeuge auch von der technischen Entwicklung abhängig, da es denkbar bleibt, dass nicht für alle komplexen Verkehrssituationen Lösungen gefunden werden und autonome Fahrsysteme schon aus diesem Grund auf Teilbereiche beschränkt bleiben müssen (Bild 4). Wie hoch sind die zusätzlichen Anreize für die Nutzung des KFZ, und welche Auswirkungen hat dies auf das ÖPNV-Angebot? Die Vorteile, die dem autonomen Fahrzeug zugeschrieben werden, decken sich größtenteils mit jenen des ÖPNV: Mobilität ohne eigene Anstrengung, mit der Möglichkeit, sich mit anderen Dingen zu beschäftigen. Gleichzeitig kommen autonome Fahrsysteme ohne einige Nachteile des ÖPNV aus: Die unflexible Bindung an Linien, Haltestellen und Fahrpläne oder das Aufeinandertreffen auf engem Raum mit vielen fremden Personen gibt es hier höchstens in abgeschwächter Form (beim Ridesharing). Außerdem erweitert sich durch autonomes Fahren der Kreis der KFZ-Nutzer auch in Gesellschaftskreise hinein, die bisher auf den ÖPNV angewiesen waren (z. B. Führerscheinlose, Mobilitätseingeschränkte, Jugendliche, weniger wohlhabende Personen). Somit gehen die spezifischen Vorteile des ÖPNV gegenüber dem PKW verloren. Auf der anderen Seite können autonome Fahrsysteme auch als Baustein einer MIVunabhängigen Wegekette und damit als Beitrag zur Stärkung des (hochleistungsfähigen) ÖPNV-Systems gedacht werden, insbesondere bei Nutzung im Sinne eines Ride- Sharing-Angebots: „Die Taxis übernehmen die Zubringerbzw. Feinverteilungsfunktionen zu den Stationen des schienengebundenen ÖV und nehmen dort Fahrgäste auf, während der leistungsfähigere und möglicherweise schnellere ÖV die langen Streckenabschnitte übernimmt. […] Es könnte zu einem grundlegenden Wandel des öffentlichen Nahverkehrs führen und das Problem der letzten Meile von Hochgeschwindigkeitsbahnen lösen“ ([5], S. 233). In dieser Sichtweise wären autonome (Sharing-)Systeme als Konkurrenz zum privaten PKW zu verstehen und würden zu einer Stärkung des ÖPNV führen. Diese Grundfrage der Nutzung autonomer Fahrsysteme hat deutliche Auswirkungen auf ihre Wirkung auf das Verkehrsge- Bild 4: Organisation des Erschließungssystems mit ausschließlich autonomen Quartiersverkehren Eigene Darstellung Internationales Verkehrswesen (70) 3 | 2018 64 MOBILITÄT Autonomes Fahren schehen. Daher muss jede zukunftsgerichtete Verkehrsplanung hier ansetzen und Wege aufzeigen, mit welchen unterstützenden Maßnahmen welches Szenario erreicht werden kann. Fazit Dem derzeit auf vielen Ebenen und von unterschiedlichen Akteuren diskutierten Thema autonomes Fahren fehlt eine fokussierte Betrachtung der Wirkungen aus verkehrs- und stadtplanerischer Perspektive. Um eine sinnvolle Abwägung zwischen den Vor- und Nachteilen der Einführung autonomer Fahrsysteme für die Verkehrsentwicklung treffen zu können, ist eine detaillierte Betrachtung einzelner Aspekte nötig, die über bestehende modellhafte Berechnungen hinausgeht. Dazu gehören vor allem Fragen nach der Nutzung autonomer Fahrzeuge - individuell oder geteilt - und der damit einhergehenden Wirkung auf die Gesamtzahl der PKW ebenso wie des benötigten Parkraums und der Verkehrsleistung, aus denen Anforderungen an den Straßenraum und die Planung neuer Stadtquartiere abgeleitet werden können. Im vorliegenden Beitrag wurden grundsätzliche Fragen aufgeworfen und in Teilen beantwortet. Damit werden Grundlagen für die weitere Betrachtung des Themas gelegt und der Bedarf an weiterer Forschung oder (politischen) Festlegungen aufgezeigt. Dahinter steht die Überzeugung, dass wichtige Aspekte bezüglich autonomer Fahrsysteme aus der Perspektive der Stadt- und Verkehrsplanung bearbeitet werden müssen, um die Potenziale und Risiken für eine nachhaltige Stadt- und Verkehrsentwicklung abschätzen zu können. Dies muss an die Stelle industriepolitischer Fragestellungen und Lösungsansätze treten, da die Auswirkungen der Autonomisierung des Individualverkehrs bedeutsam sein würden und bisherige Überzeugungen und Ansätze der Verkehrsplanung auf den Kopf stellen könnten, sei es im Bereich Fuß- und Radverkehr oder bezüglich der Ausgestaltung des ÖP- NV-Netzes. ■ LITERATUR [1] Flämig, Heike: Autonome Fahrzeuge und autonomes Fahren im Bereich des Gütertransports. In: Maurer et al. (Hg.): Autonomes Fahren - Technische, rechtliche und gesellschaftliche Aspekte. Berlin, Heidelberg: Springer, 2015, S. 377-398 [2] Isaac, Lauren : Driving Towards Driverless: A Guide for Government Agencies. New York: WSP, 2016 [3] Kossak, Andreas: Würde autonomes Fahren tatsächlich die Verkehrssicherheit erhöhen? In: Straßenverkehrstechnik, 9/ 2017, S. 639-643 [4] Randelhoff, Martin: Stadt formt Mobilität formt Stadt. Abrufbar unter: http: / / www.zukunft-mobilitaet.net/ 163387/ analyse/ mobilitaetstadt-siedlungsstruktur-autogerechte-stadt-technikglaeubigkeit (Stand: 19.02.2018) [5] Heinrichs, Dirk: Autonomes Fahren und Stadtstruktur. In: Maurer et al. (Hg.): Autonomes Fahren - Technische, rechtliche und gesellschaftliche Aspekte. Berlin, Heidelberg: Springer, 2015, S. 219-239 [6] Rothfuchs, Konrad: Aufbruch in der Straßenverkehrsplanung nötig - Der Mensch muss die maßstabsgebende Planungsgröße werden. In: PlanerIn 4/ 2016, S. 8-10 [7] Hunsicker, Frank; Knie, Andreas; Lobenberg, Gernot, Lohrmann, Doris; Meier, Ulrike; Nordhoff, Sina; Pfeiffer, Stephan: Pilotbetrieb mit autonomen Shuttles auf dem Berliner EUREF-Campus. In: Internationales Verkehrswesen 3/ 2017, S. 56-59 Konrad Rothfuchs ARGUS Stadt und Verkehr, Beratende Ingenieure, Hamburg k.rothfuchs@argus-hh.de Philip Engler, Dr. ARGUS Stadt und Verkehr, Beratende Ingenieure, Hamburg p.engler@argus-hh.de WISSEN FÜR DIE STADT VON MORGEN Digitalisierung versus Lebensqualität Big Data | Green Digital Charter | Kritische Infrastrukturen | Privatheit | Sharing-Systeme 1 · 2016 Was macht Städte smart? URBANE SYSTEME IM WANDEL. DAS TECHNISCH-WISSENSCHAFTLICHE FACHMAGAZIN Mit veränderten Bedingungen leben Hochwasserschutz und Hitzevorsorge | Gewässer in der Stadt | Gründach als urbane Klimaanlage |Baubotanik 1 · 2017 Stadtklima URBANE SYSTEME IM WANDEL. DAS TECHNISCH-WISSENSCHAFTLICHE FACHMAGAZIN Lebensmittel und Naturelement Daseinsvorsorge | Hochwasserschutz | Smarte Infrastrukturen | Regenwassermanagement 2 · 2016 Wasser in der Stadt URBANE SYSTEME IM WANDEL. DAS TECHNISCH-WISSENSCHAFTLICHE FACHMAGAZIN URBANE SYSTEME IM WANDEL. 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