eJournals Internationales Verkehrswesen 70/4

Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2018-0075
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2018
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So war die Verkehrswende wohl nicht gemeint

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Gerd Aberle
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Gerd Aberle KURZ + KRITISCH Internationales Verkehrswesen (70) 4 | 2018 11 So war die Verkehrswende wohl nicht gemeint S chon seit über drei Jahrzehnten wird über einen drohenden Verkehrsinfarkt in Deutschland strittig diskutiert - vor allem mit Blick auf den (Fern-) Straßenverkehr. Aber bis vor gut zehn Jahren trat er nicht ein. Nunmehr aber schlagen die Überlastungen der Infrastruktur in bislang unbekannter Intensität auf ihre Nutzer durch. Betroffen sind neben weiten Bereichen des Straßenverkehrs auch der Schienen-, ÖPNV- und Luftverkehr. Unkalkulierbare Reisezeiten, hohe Qualitätseinbußen und Kontrollverluste im Personen- und Gütertransport, gestörte Logistikprozesse und zunehmende Frustration sind die Folge. Und die Folgen der langen Trockenperiode 2018 mit einem weitgehenden Ausfall der Binnenschifffahrt in diesem Herbst gefährden die Rohstoffversorgung der Industrie ernsthaft, verdeutlichen aber auch den Stellenwert dieses Verkehrsträgers. Die Ursachen dieser Infrastrukturkrise - wird vom Klimaproblem abgesehen - liegen auf der Hand: zu geringe Infrastrukturinvestitionen seit vielen Jahren, allerdings auch gefördert durch gesellschaftspolitische Widerstände, immer komplexere planungs- und baurechtliche Vorschriften mit Jahrzehnte langen Verzögerungen, Umsetzung von finanzpolitischen Einsparzielen gleichermaßen bei den Straßenbauetats, den behördlichen Planungskapazitäten und bei der DB. Obwohl die Finanzmittel für die Schiene, die Straßen und den ÖPNV deutlich gesteigert wurden, tritt auch mittelfristig trotz aller Bemühungen um die Entschärfung der planungsrechtlichen Vorgaben keine Entlastung ein. In den Behörden fehlt das erforderliche Fachpersonal, nicht zuletzt aufgrund der völlig marktfremden Bezahlung. Da verwundert es viele ÖPNV-Nutzer in den überlasteten Agglomerationsräumen, wenn durch die Politik der erwünschte „Shift to Rail“ mittels kostenfreier oder äußerst stark bezuschusster Tickets für bedeutende zusätzliche Nutzerpotenziale zu fördern versucht wird, ohne dass entsprechende Kapazitätsausweitungen möglich sind. Obwohl der Personenverkehr der Bahn auf Hauptabfuhrstrecken immer häufiger durch technische Störungen an Triebfahrzeugen, Stellwerken und Streckenüberlastungen mit inzwischen dramatischen Verspätungseffekten und Zugausfällen kämpft, versucht das Unternehmen, durch steigende Rabattierungen wie Spar-/ Supersparpreise die Reisendenzahlen zu erhöhen. Vom ökonomischen Ergebnis des Yields erfährt man wenig; die Belastungen durch die ständigen Ablaufstörungen mit wochenlangen Abschließungen von Waggons wegen zu kurzer Bahnsteiglängen einiger Haltepunkte und die Überfüllung der Restzugteile verdeutlichen die mittlerweile dramatischen Qualitätsdefizite. Völlig unverständlich ist auch das intensive Einwerben von Billig-Airlines mittels reduzierter Gebühren durch bereits partiell überlastete Großflughäfen. So mussten im Sommer 2018 aufgrund der Attraktivität der im Vergleich zu allen anderen Beförderungsmöglichkeiten extrem niedrigen Beförderungspreise kapazitätsbedingte massenhafte Flugausfälle und Verspätungen hingenommen werden. Abfertigungs-, Kontroll- und Flugsicherungsengpässe sowie gestörte Flugzeugumläufe waren und sind entscheidende Überlastungsursachen. Wenn die Qualität der Verkehrssysteme aufgrund infrastruktureller Überlastungen und offensichtlicher Technikdefizite insbesondere im Bahnbereich stetig sinkt, manifestiert sich eine neue Art „Verkehrswende“. Angesichts der seit Jahren deutlich wachsenden Bevölkerung und einer immer noch steigenden Zahl von Fahrzeugzulassungen bei gleichzeitig hoher Nachfrage nach Mobilität im Personen- und Güterbereich ist die Krisenlage relativ zukunftssicher. Dies auch vor dem Hintergrund, dass ökonomisch sinnvolle preispolitische Steuerungsinstrumente gesellschaftlich und politisch nicht akzeptiert werden. Der dafür zu zahlende Preis ist jedoch hoch. Ständig wird von Politik und Teilen der Wissenschaft auf die so segensreichen Entlastungspotenziale durch Digitalisierung verwiesen - schon fast ein „Totschlagargument“ bei allen Engpassproblemen. Wenn es denn so einfach wäre. ■ Prof. Gerd Aberle zu Themen der Verkehrsbranche