eJournals Internationales Verkehrswesen 70/4

Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2018-0078
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2018
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Seattle macht das Spiel

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2018
Andreas Kossak
Wachsende Verkehrsströme, überforderte Infrastrukturen und hohe Schadstoffwerte stellen viele Städte vor immense Herausforderungen. Seattle im US-Bundesstaat Washington geht die Herausforderungen auf innovative und bemerkenswert „demokratische“ Weise an.
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Internationales Verkehrswesen (70) 4 | 2018 16 Seattle macht das Spiel Das „New Mobility Playbook“ als Strategiepapier urbaner-Verkehrspolitik Verkehrsentwicklung, Bürgerbeteiligung, Wachsende Verkehrsströme, überforderte Infrastrukturen und hohe Schadstoffwerte stellen viele Städte vor immense Herausforderungen. Seattle im US-Bundesstaat Washington geht die Herausforderungen auf innovative und bemerkenswert „demokratische“ Weise an. Andreas Kossak D ie Stadt Seattle, gelegen im Bundesstaat Washington zwischen dem Pudget Sound am Pazifischen Ozean und dem Lake Washington, rund 150 km südlich der Grenze zu Kanada, ist die größte Kommune im Nordwesten der Vereinigten Staaten von Amerika. Gemeinsam mit dem kanadischen Vancouver im Norden und Portland, Oregon, im Süden ist Seattle Haupt-Verkehrsknotenpunkt sowie wirtschaftliches, wissenschaftliches und kulturelles Zentrum der Region Pazifischer Nordwesten des amerikanischen Kontinents. Die Einwohnerzahl innerhalb der Kommunalgrenzen beträgt rund 710 000, die der Metropolregion etwa 3,8 Mio. [1]. Die Stadt gehört seit vielen Jahren zu den weltweiten Vorreitern beim Einsatz für den Klimaschutz. Im Mai dieses Jahres wurde das erneut bestätigt durch die Veröffentlichung des „Climate Action Plan 2018“, der Fortschreibung bereits zahlreicher Vorgänger-Pläne zu dem Thema [2]. Ein Schwerpunkt in diesem Zusammenhang ist der Ausbau des öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV). Heute gilt Seattle als erfolgreichste ÖPNV-Stadt der USA [3]. Das ist nicht zuletzt auf eine konsequent integrierte Weiterentwicklung des Gesamtverkehrssystems unter den Hauptgesichtspunkten Umweltschutz, Lebendigkeit, Gerechtigkeit, Reduzierung schwerer Verkehrsunfälle („Vision Zero“) und Berücksichtigung der Belange benachteiligter Bevölkerungsgruppen zurückzuführen (Bild 1). Eine bemerkenswerte Besonderheit der städtebaulichen und verkehrlichen Entwicklung in der Region ist die intensive Beteiligung der Bevölkerung an der Diskussion und den Entscheidungen über praktisch alle wesentlichen Konzepte und Maßnahmen. Neben dem aktuell gültigen Ausbauplan für den ÖPNV unter dem Logo „Sound Transit 3“ aus dem Jahr 2016 mit einem Kostenvolumen von rd. 54 Mrd. USD [4] zählt dazu aktuell insbesondere das im September 2017 veröffentlichte „New Mobility Playbook“ [5]. Dabei handelt es sich um eine in Art und Differenzierung bisher wohl einmalige Dokumentation städtischer Verkehrspolitik sowie ihrer auf Interaktion angelegten Präsentation. Das „Spielbuch“ - begrifflich angelehnt an die im American Football „Playbook“ genannte Aufstellung strategischer Spielzüge - steht seither im Mittelpunkt der öffentlichen und fachlichen Diskussion zu dem betreffenden Themenkomplex; davon konnte sich der Verfasser erst kürzlich bei Treffen mit den zuständigen Abteilungsleitern im Rathaus der Stadt überzeugen. Gegenstand und Intention des Spielbuchs Im Vorspann für das „Spielbuch“ wird festgestellt: „Die Zukunft des Verkehrs ist geteilt, aktiv, autonom, elektrisch, datengetrieben - und voller Möglichkeiten.“ Unter der Überschrift „Die Zukunft unserer Stadt gestalten“ folgt eine Kurzbeschreibung der Zielsetzung: „In diesen Tagen verändert und entwickelt sich die Mobilität ständig, mit zahllosen neuen Unternehmen und Diensten, die jedes Jahr in den Markt eintreten. In Hinblick auf diese Zeit des schnellen Wandels haben wir eine starke und angemessene Strategie entwickelt … um zu erreichen, dass die Innovationen zu einer sicheren, nachhaltigen und gerechten Zukunft der Stadt beitragen. Im Mittel- POLITIK Verkehrsstrategie Panorama von Seattle mit dem Wahrzeichen „Space Needle“ Foto: pixaba Internationales Verkehrswesen (70) 4 | 2018 17 Verkehrsstrategie POLITIK punkt des Spielbuchs stehen fünf Spiele, mit denen unser Ansatz hinsichtlich der neuen Technologien dargestellt wird sowie kreative und effektive Lösungen stimuliert werden sollen. Wir laden dazu ein, die Spiele und die Strategien, die sie inspiriert haben, und die ersten Schritte, die wir bereits begonnen haben, umzusetzen sowie die längerfristigen Strategien, deren Realisierung für die nächsten fünf Jahre vorgesehen ist, kennenzulernen.“ Warum das Vorhaben „gerade jetzt“ in Angriff genommen worden ist, wird ausführlich begründet: „Der schnelle Wandel der Verkehrstechnologien bietet den Städten die Gelegenheit, ihre Straßen neu zu organisieren sowie gesunde Nachbarschaften und lebendige öffentliche Räume entstehen zu lassen.“ Vor diesem Hintergrund sei es geboten, sich eben gerade jetzt den Herausforderungen zu stellen. Das gelte insbesondere für Seattle: „Amerikas 2016 und 2017 am schnellsten wachsende Großstadt … zieht Menschen und Arbeitsplätze mit hoher Geschwindigkeit an, und es ist davon auszugehen, dass das Wachstum sich weiter fortsetzt. Ohne überlegte und intelligente Aktionen könnte dieser Zufluss von Einwohnern zu mehr Luftverschmutzung und zu einem sich verschlimmernden Klimawandel führen. Das könnte sich vor allem zum Vorteil der Reichen auswirken und Seattle könnte für viele Menschen unbezahlbar werden …“ Als maßgeblicher Anlass werden neue Technologien und Mobilitätsformen benannt - „vom Bikesharing über das Carsharing bis zu Mietwagen-Rufdiensten wie Uber und Lyft. Bei einem Blick in die Zukunft sehen wir möglicherweise fahrerlose Autos, Drohnen, die Güter anliefern und neue Verkehrsarten, die heute erst noch auf dem Reisbrett sind. Seattles Verkehrsstrukturen ändern sich auch in anderen Richtungen. Immer mehr Menschen benutzen den öffentlichen Personennahverkehr, gehen zu Fuß oder fahren Fahrrad. Immer weniger Menschen fahren allein zur Arbeit. Und die Wähler haben entschieden, beträchtliche Investitionen in den öffentlichen Personennahverkehr und in die Sicherheit auf den Straßen zu unterstützen.“ Die sogenannte „Neue Mobilität“ sei daher gekennzeichnet durch technologisch ermöglichte und von Menschen realisierte Mobilitätsoptionen, „die uns überall hinbringen, wohin wir wollen, wann und wo wir sie benötigen“. Mit anderen Worten: „Unsere zentrale Ambition ist es, die Mobilität in der Form voranzubringen, dass die Menschen im Vordergrund stehen. Wir streben nach neuen Technologien und Innovationen, die zu einer gerechteren Stadt führen.“ Der Anspruch des Projekts geht also explizit über die eigenen Stadtgrenzen hinaus: „Die Herausforderungen beschränken sich nicht auf Seattle. Indem wir den gewählten Weg beschreiten und eine Stadt gestalten, in der die neue Mobilität zu Gunsten von jedermann funktioniert, hoffen wir, eine Basis zu schaffen, auf der auch andere Städte und Innovatoren aufbauen können.“ Als maßgebliche neue Mobilitätstrends werden genannt: • Information ist die neue Infrastruktur • Die Menschen werden / wollen Mobilität teilen • Saubere Energie wird den Verkehr antreiben • Die Automobilindustrie bewegt sich in Richtung geteilter, elektrischer, verbundener und automatischer Mobilität. Bemerkenswert ist auch, dass ausdrücklich auf die Lehren aus der Geschichte verwiesen wird: „Es ist nicht das erste Mal, dass sich das Verkehrswesen in halsbrecherischer Geschwindigkeit verändert. Vor einem Jahrhundert haben die Automobile begonnen die Stadtstraßen zu dominieren - und die Städte haben darauf reagiert, indem sie dem gerecht wurden. Wir haben öffentliche Nahverkehrssysteme vernichtet, öffentliche Räume asphaltiert, umfangreiche Parkhäuser gebaut und sogar ganze Quartiere zerstört …, um Hauptverkehrsstraßen zu bauen. Das Resultat: In den Städten von heute ist es häufig unsicher und unerfreulich, anders zu reisen als mit dem Automobil.“ Bürgerbeteiligung einfordern Nun aber sei die Zeit gekommen, die Dinge anders anzugehen. „Statt der Technologie zu gestatten, unsere Städte zu prägen, werden wir die Technologie dazu nutzen, den Bedürfnissen der Menschen Rechnung zu tragen.“ Dies sei ein Themenkomplex, dessen Behandlung die intensive Beteiligung der Betroffenen erfordert: „Um sicher zu stellen, dass die neue Mobilität unsere Visionen vom geteilten Verkehr für die Zukunft von Seattle unterstützt, benötigen wir Ihre Hilfe. Bitte teilen Sie uns Ihre Gedanken und Reaktionen mit, indem Sie die Spiele und Strategien kommentieren.“ Das Spielbuch Das Spielbuch selbst beginnt mit der Feststellung „Schneller Wandel, Große Möglichkeiten“ und erläutert: „Die Zukunft der Mobilität steht vor der Tür - und ist voll gepackt mit Möglichkeiten. … Unser ‚Spielbuch neue Mobilität‘ bietet ein Spektrum von Strategien für die Gestaltung der Zukunft des Verkehrs, bei dem die Menschen im Mittelpunkt stehen. Wir kooperieren partnerschaftlich mit innovativen Bürgern, führenden Vertretern der sozialen Gerechtigkeit und Technologie-Unternehmen, um über unseren Ansatz zu informieren und neue Dienste zu kreieren.“ [5] Der Aufzählung und Erläuterung der fünf „Spiele“, werden die „Prinzipien der neuen Mobilität“, die dem Ansatz zugrunde liegen, als Spielregeln vorangestellt: „Wir stellen uns eine Stadt von und für die unterschiedlichen … Menschen vor, die Stadt und Region Bild 1: Die Straßenbahn in Seattle (First Hill Line Streetcar) an der Haltestelle Occidental Mall (Pioneer Square) Foto: pixabay Bild 2: Titelblatt des „New Mobility Playbook“ Quelle: newmobilityseattle .info POLITIK Verkehrsstrategie Internationales Verkehrswesen (70) 4 | 2018 18 Seattle ihre Heimat nennen. Wenn wir daran arbeiten, neue Mobilitätsoptionen in die Stadt, die wir lieben, zu integrieren, werden uns folgende Kernprinzipien leiten: • Stell die Menschen und ihre Sicherheit an die erste Stelle • Entwirf für die Würde und das Glücklichsein der Betroffenen • Verbessere die Bedingungen der Rassengleichheit und der sozialen Gerechtigkeit • Gestalte eine Zukunft sauberer Mobilität • Stell ein ausgeglichenes Spielfeld sicher.“ Die fünf „Spiele“ selbst sind wie folgt formuliert: • Spiel 1: Sicherstellung, dass die neue Mobilität ein faires und gerechtes Verkehrssystem für alle gewährleistet • Spiel 2: Ermöglichung einer sicheren, aktiveren und Menschengerechteren Nutzung der öffentlichen Verkehrsräume • Spiel 3: Reorganisation und Umrüstung der Verkehrsabteilung der Stadt Seattle hinsichtlich des Managements der Innovationen und der Daten • Spiel 4: Errichtung neuer Informations- und Daten-Infrastrukturen, damit innovative Mobilitätsdienste in Betrieb genommen werden können • Spiel 5: Antizipation, Anpassung an sowie Verbesserung von innovativen und disruptiven Verkehrstechnologien Die Erläuterung der einzelnen Spiele ist in drei Abschnitte untergliedert: • Wenn wir die Zukunft gestalten - Hier werden jeweils die Vorteile einer sachgerechten Gestaltung im Zusammenhang mit dem in dem „Spiel“ behandelten Komplex hervorgehoben. • Wenn wir der Zukunft freien Lauf lassen - Hier werden die potentiellen Fehlentwicklungen und ihre Folgen beschworen, für den Fall, dass nicht aktiv reagiert wird. • Unser Plan - Dieser Abschnitt enthält die Auflistung der in dem jeweiligen Zusammenhang verfolgten Einzel-Strategien. Insgesamt sind 28 Strategien aufgeführt; über einen Link können nähere Erläuterungen dazu aufgerufen und Kommentare abgegeben werden („read more & comment“). Einordnung des Spielbuchs Das von der Verkehrsverwaltung der Stadt Seattle verfasste und herausgegebene „New Mobility Playbook“ ist ein höchst außergewöhnlicher, bemerkenswerter und exemplarischer Ansatz der kommunalen Auseinandersetzung mit den sich bereits vollziehenden und den weiter absehbaren Veränderungen der Bedingungen und Optionen der städtischen Mobilität sowie der Kommunikation darüber mit der betroffenen Bevölkerung. Es erscheint vor dem Hintergrund bereits langjähriger intensiver Aktivitäten der Stadt hinsichtlich einer Neuordnung des Verkehrssystems mit dem Vorrang für den öffentlichen Personenverkehr, den Fahrradverkehr und den Fußgängerverkehr in Verbindung mit massiven Maßnahmen auf den Gebieten Klimaschutz, Reduzierung der Personenschäden im Verkehr („Vision Zero“) sowie Wiederbelebung der Straßenräume und der Quartiere („New Urbanism“). Der sehr positive Eindruck wird auch nicht durch einige Aspekte oder Fakten geschmälert, die entweder durchaus diskussionswürdig, die primär ortsspezifischer Natur oder unter europäischen Gesichtspunkten eher als Nachholbedarf denn als wegweisend einzuordnen sind. Das betrifft insbesondere • die unkritische Haltung gegenüber der Zukunft des autonomen Fahrens im Widerspruch zu den Positionen zahlreicher unabhängiger qualifizierter Fachleute und Fachinstitute gerade in den USA; • die besondere Herausstellung der Bedürfnisse einer großen Menge und Vielfalt unterprivilegierter Bevölkerungsgruppen; • den - vor dem Hintergrund des für US- Verhältnisse vergleichsweise großen Erfolges im ÖPNV - bemerkenswerten Nachholbedarf hinsichtlich integrierter Mobilitätsangebote und Tarifsysteme (Verkehrsverbund) sowie moderner Bezahloptionen (e-Ticketing); • den Zustand gerade der Infrastruktur des Rückgrats des städtischen Bahnsystems, der Stadtbahn (City Link), und der „historischen“ Einwegbahn („Monorail“), mit der das Wahrzeichen der Stadt, die „Space-Needle“, angebunden ist. Es kann durchaus geteilte Meinungen zum Format des „Spielbuchs“ geben. Der Ansatz der Auseinandersetzung mit dem Mobilitätswandel und dessen öffentlicher Kommunikation ist jedoch in vieler Hinsicht auch für deutsche und europäische Großstädte und Regionen als Vorbild geeignet und sollte als solches gehandhabt werden. ■ QUELLEN [1] Wikipedia: Seattle; Stand 12.07.2018 [2] City of Seattle, Mayor Jenny A. Durcan: Seattle Climate Action; April 2018 [3] Lindsay, G.: The State of Play: Connected Mobility + U.S. Cities - How next generation transportation is shaping cities; Citylab Insights, Juli 2018 [4] Sound Transit: Sound Transit 3 - History: what voters approved; Stand 2018 [5] Seattle Department of Transportation: New Mobility Playbook, Version 1.0; September 2017; Online: https: / / newmobilityseattle.info (Aufgerufen: 06.11.2018) Andreas Kossak, Dr.-Ing. Kossak Forschung & Beratung, Hamburg drkossak@aol.com Bild 3: Stadtbahnen (Link Light Rail) im Downtown Seattle Tunnel, der auch von Duo-Mode-Bussen befahren wird. Foto: Steve Morgan/ Wikimedia Bild 4: Trolleybus zwischen 4th Avenue und 5th Avenue im Stadtzentrum. Foto: SounderBruce/ Wikimedia