eJournals Internationales Verkehrswesen 70/4

Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2018-0082
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Einsatzkritische Kommunikation

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Bernhard Klinger
Sichere einsatzkritische Sprachkommunikation erfolgt heute nahezu ausschließlich über dedizierte Funknetze (PMR-Netze) und exklusiv zugeteilte Frequenzen. Die Nutzung kommerzieller Mobilfunknetze für die einsatzkritische Sprachekommunikation erschien in der Vergangenheit nicht geeignet. Doch die Diskussionen um künftige breitbandige Anwendungen – insbesondere Datendienste im Bereich der einsatzkritischen Kommunikation – haben in den letzten Jahren an Fahrt aufgenommen. Dabei steht auch der Einsatz kommerzieller Netze im Blickpunkt.
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Internationales Verkehrswesen (70) 4 | 2018 28 INFRASTRUKTUR Kommunikationsnetze Einsatzkritische Kommunikation Mit kommerziellen Mobilfunknetzen möglich? Public Safety, einsatzkritische Breitbanddienste, Datenverkehr Sichere einsatzkritische Sprachkommunikation erfolgt heute nahezu ausschließlich über dedizierte Funknetze (PMR-Netze) und exklusiv zugeteilte Frequenzen. Die Nutzung kommerzieller Mobilfunknetze für die einsatzkritische Sprachekommunikation erschien in der Vergangenheit nicht geeignet. Doch die Diskussionen um künftige breitbandige Anwendungen - insbesondere Datendienste im Bereich der einsatzkritischen Kommunikation - haben in den letzten Jahren an Fahrt aufgenommen. Dabei steht auch der Einsatz kommerzieller Netze im Blickpunkt. Bernhard Klinger K lar ist: Die überlebenswichtigen Sicherheits-, Verkehrs- und Versorgungssysteme funktionieren nicht ohne mobilen Funk. 1 Hinzu kommt eine zunehmende Abhängigkeit auch von Breitband-Funkdiensten mit hoher Reichweite. Im Jahr 2013 bereits gab die Europäische Kommission eine Studie in Auftrag, in der geklärt werden sollte, ob und unter welchen Rahmenbedingungen sich kommerzielle Mobilfunknetze für einsatzkritische Breitbanddienste eignen. Die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union hatten laut dieser Ende 2014 veröffentlichten Studie schon mindestens 19- Mrd. EUR für Kommunikationssysteme der Sicherheits- und Rettungsdienste ausgegeben. Der größte Teil dieser Summe wurde in die Funktechnologien TETRA und TETRAPOL investiert, die Datendienste aber nur mit geringem Datendurchsatz unterstützen. Die bisherigen Investitionen in Schmalbandfunknetze europäischer Eisenbahnsysteme, die derzeit einen 900-MHz-Dienst auf der Basis ihrer eigenen privaten Funknetze und einer Variante des GSM-Standards (GSM-R) nutzen, werden sogar auf über 25 Mrd. EUR geschätzt. Angesichts dieser Kosten wies die Studie auch auf die angespannte Finanzlage, Sparzwänge und den Haushaltsdruck in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union hin. Als Reaktion auf diesen Haushaltsdruck bei gleichzeitiger Notwendigkeit der Einführung neuer, leistungsfähiger mobiler Breitbanddienste gab die Europäische Kommission eine detaillierte Untersuchung von Kosten und Nutzen des Einsatzes kommerzieller Funknetze für missionskritische Breitbanddienste in Auftrag. Kommerzielle Netze versus Public-Safety Netze Die Geschäfts-, Funktions- und Einsatzmodelle kommerzieller Netze und der Netze der Sicherheits- und Rettungskräfte (Public Safety) unterscheiden sich stark. Die Sprach- und Datenkapazität kommerzieller Netze wird in der Regel durch die sogenannte „busy hour“ an einem gewöhnlichen Tag definiert und die Qualität die Funkversorgung von der Bevölkerungsdichte abhängig gemacht. Sie ist also dort am besten, wo sich üblicherweise viele Nutzer aufhalten: in urbanen Ballungsräumen. Bei der Kommunikation in kommerziellen Netzen handelt es sich überwiegend um direkte Punkt-zu-Punkt-Kommunikation. Der Datenverkehr in kommerziellen Netzen besteht überwiegend aus Downloads, Musikbzw. Video-Streams mit meist nur durch den Tarif bestimmter Priorisierung. Ein Netzausfall ist daher in der Regel lästig, aber nicht bedrohlich. Eine Authentifizierung des Teilnehmers findet auf Geräteebene statt und wird vom Netzbetreiber durchgeführt. Primäres Ziel der Public-Safety-Netze ist der Schutz von Leben, Eigentum und Staat. Die dafür erforderliche Kapazität wird durch ein „Worst-Case-Szenario“ bestimmt, also eine sogenannte Großschadenslage. Die Funkversorgung muss daher territorial ausgelegt sein und auch in ländlichen Regionen eine gute Qualität aufweisen. Die hauptsächlich genutzte Kommunikationsart ist der Gruppenruf, wobei die Gruppen häufig dem Einsatz entsprechend dynamisch zusammengestellt werden. Der Ausfall eines Public-Safety-Netzes kann zu ernsthaften Bedrohungen bis hin zum Verlust von Menschenleben führen. Der Datenverkehr besteht eher aus Uploads, etwa Livevideos von der Einsatzstelle an die Zentrale. Daher erfordern Public- Safety-Anwendungen eine signifikante Differenzierung in der Priorisierung, je nach Rolle des Nutzers bzw. Ausmaß des Vorfalls, und das mit einer dynamischen Zuordnung. Dabei befindet sich die Teilnehmerinformation im Besitz der Behörde, die Authentifizierungen bis auf die Benutzerebene durchführt. Was bedeutet „missions- und einsatzkritisch“? Die Studie definiert eine Mission als „kritisch“, wenn durch ihr Versagen Menschenleben gefährdet werden oder ein Gut bedroht wird, dessen Verlust oder Beeinträchtigung erheblichen Schaden für Gesellschaft oder Wirtschaft bedeutet. „Einsatzkritisch“ ist eine Kommunikation dann, wenn schon eine geringfügige Störung der Kommunikation schlimme Konsequenzen wie Gefährdung von Menschenleben oder erheblichen Schaden für die Gesellschaft bzw. die Wirtschaft haben könnte. Daraus ergeben sich vier zentrale Fragen: • Kann und wird LTE einsatzkritische Dienste wie z.B. den Gruppen- und Prioritätsruf mit garantierten deterministischen Rufaufbauzeiten von kleiner als 500 ms oder den sogenannten Direct Internationales Verkehrswesen (70) 4 | 2018 29 Kommunikationsnetze INFRASTRUKTUR Mode (Kommunikation ohne Infrastruktur) bereitstellen? • Können kommerzielle LTE-Netze zu angemessenen Kosten für einsatzkritische Anwendungen „gehärtet“ und vor Ausfällen und externen Angriffen geschützt werden? • Kann ein gehärtetes LTE-Netz im Hinblick auf Realisierung, Betrieb und erforderliche Technik günstiger als ein „dediziertes“, also nur für die Einsatzkräfte bestimmtes Netz sein? • Sind kommerzielle Netzbetreiber bereit, langfristige Verträge einzugehen sowie die erforderliche Dienstezuverlässigkeit und -verfügbarkeit zu langfristigen Festpreisen bereitzustellen? Die Studie jedenfalls kam zum Schluss: Kommerzielle Netze sind für die einsatzkritische Datenübertragung geeignet. Aber nur, wenn entsprechende rechtliche, administrative und vertragliche Rahmenbedingungen vorliegen, welche die Sicherstellung der Erfüllung der missionskritischen Dienste der Sicherheitskräfte, Versorgungs- und Transportunternehmen garantieren. Die missionskritischen Dienste der Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben (BOS) 2 sowie der Versorgungs- und Transportunternehmen, die schon gesetzlich zu einer gewissen Betriebskontinuität verpflichtet sind, dürfen also nicht gefährdet sein. Um dies zu gewährleisten, sind neben entsprechenden Vertragsstrukturen auch gesetzgeberische und regulatorische Maßnahmen erforderlich. Praktisch würde dies auf eine Reihe neuer Zulassungsbedingungen für den Betrieb eines öffentlichen Funknetzes hinauslaufen: Bestehende Richtlinien, Gesetze oder Vorschriften bedürfen der Prüfung und ggf. Änderung. Regulierungsbehörden sollten auch die Tarife für einsatzkritische Dienste festlegen. Grundlage der Preisfindung sollte die Untersuchung der realen Kosten der Mobilfunkbetreiber und der entsprechenden Kosten in anderen europäischen Ländern sein. Die Offenlegung der Kostenrechnung durch die Mobilfunknetzbetreiber wäre dazu erforderlich. Fünf Szenarien und die Kosten Auf Basis der Fakten zu technischen Möglichkeiten und Frequenzbändern stellt die EU-Studie fünf Szenarien mit unterschiedlichen Verwendungsoptionen dar und betrachtet vier der Szenarien im Hinblick auf die Kosten. • Szenario 1: Kosten und Nutzen bei Weiterführung bestehender eigener Schmalbandnetze (TETRA bzw. TETRAPOL) und Spezialfunkgeräte. Diese Anschaffungs- und Betriebskosten wurden als Referenz für die Szenarien 2 bis 4 herangezogen. • Szenario 2: Mitnutzung kommerzieller Breitbandfunknetze (LTE) mit kommerzieller Ausrüstung. Der kommerzielle Netzbetreiber baut, betreibt und besitzt das Netz, der Staat finanziert die erforderliche Netzhärtung und mietet die benötigten Dienste. Die Betriebskosten würden hier von kommerziellen und BOS-Nutzern gemeinsam getragen und lägen deutlich unter denen von Szenario 1. Das größere Problem wären jedoch die erforderlichen administrativen, rechtlichen und vertraglichen Rahmenbedingungen. • Szenario 3: Aufbau und Betrieb eines eigenen, dedizierten LTE-Funknetzes (vom Staat finanziert, gebaut, betrieben und im Eigentum) mit kommerziellen und speziell aufgerüsteten Geräten. Bei den Anschaffungskosten kommen Einspareffekte der kommerziellen Massenproduktion zum Tragen, die Betriebskosten fallen aber wegen der exklusiven Nutzung des Netzes durch die BOS-Anwender höher aus. Und das Szenario braucht ein eigenes Frequenzspektrum, das - wenn überhaupt - nur in geringem Umfang zur alleinigen Nutzung zur Verfügung stehen wird. • Szenario 4: Hybrides System mit Weiterverwendung des bestehenden Schmalbandfunknetzes, also Nutzung von TETRA für Sprache sowie Mitnutzung kommerzieller LTE-Mobilfunknetze für die Datenübertragung. Hier sieht die Studie deutlich höhere Kosten sowohl für die Anschaffung als auch für den Betrieb. Diese werden allgemein durch den Parallelbetrieb zweier Netze begründet. Andererseits bietet dieses Szenario höhere Flexibilität und die Möglichkeit einer schrittweisen Umstellung auf LTE. • Szenario 5: Einheitliches, gemeinsam genutztes Netz für BOS und Betreiber kritischer Infrastrukturen (Verkehr, Energieversorgung, usw.) auf Basis eines dedizierten LTE-Breitbandnetzes mit kommerziellen Geräten. Für dieses Szenario hat die Studie lediglich Chancen und Risiken ermittelt. LTE und einsatzkritische Dienste Die entscheidende Frage aber lautet: Kann oder wird LTE einsatzkritische Dienste bereitstellen? Die Studie sagt, dass bereits seit LTE-Release 11 (März 2013) im Rahmen der Standardisierung an der Umsetzung einsatzkritischer Leistungsmerkmale gearbeitet wird und in Release 13 (seit März 2016) die wichtigsten Arbeitspunkte abgeschlossen und standardisiert worden sind. Die Studie geht jedoch nicht im Detail darauf ein, um welche Leistungsmerkmale es sich handelt, die auf Basis der wichtigsten Arbeitspunkte für sicherheitskritische Anwender bereitgestellt werden. 3 Die Frage, ob kommerzielle Mobilfunknetze sich für missionskritische Breitbanddienste eignen, beantwortet die EU-Studie also grundsätzlich mit „Ja“. Die Mitnutzung kommerzieller LTE-Funknetze und kommerzieller Ausrüstung der Mobilfunknetzbetreiber (Szenario 2) ist vermutlich die günstigste Option. Allerdings müsste die langfristige Verfügbarkeit missionskritischer Dienste durch rechtliche, administrative und vertragliche Rahmenbedingungen sichergestellt werden. Hierbei müsste jeder Staat prüfen und individuell entscheiden, ob diese Voraussetzungen im konkreten Fall realisiert werden können. ■ 1 Siehe auch Klinger, Bernhard: Mobile Breitbanddienste für Verkehrsunternehmen. In: Internationales Verkehrswesen (67) 2015, Heft 4, S. 16-17 2 www.bdbos.bund.de 3 Im Rahmen der Fachtagung zur PMRExpo 2018, 24.- 27.11.2018 in Köln, referiert der Autor unter anderem über die Eignung der kommenden 5G-Technologie und das Potential von Hybrid-Lösungen für missionskritische Breitbanddienste. Bernhard Klinger Vice President Business Development, Hytera Mobilfunk; Stellvertretender Vorsitzender des Vorstandes und Leiter des Fachbereiches Breitband im Bundesverband Professioneller Mobilfunk e.V. (PMeV) klinger@pmev.de Foto: pixabay