Internationales Verkehrswesen
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expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2019-0002
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Internationales Verkehrswesen (71) 1 | 2019 6 IM FOKUS Reversible Brennstoffzellen als bidirektionale Energiewandler W issenschaftler des Forschungszentrums Jülich haben ein hochgradig effizientes Brennstoffzellen-System in Betrieb genommen, das einen elektrischen Wirkungsgrad im Wasserstoffbetrieb von über 60 % erzielt. Ein so hoher Wert wurde bis jetzt von keinem anderen Forscherteam weltweit berichtet. Die Anlage weist noch eine weitere Besonderheit auf: Die reversiblen Hochtemperatur-Brennstoffzellen können nicht nur Strom erzeugen, sondern lassen sich auch für die Herstellung von Wasserstoff durch Elektrolyse nutzen. Reversible Brennstoffzellen, englische Bezeichnung „reversible Solid Oxide Cell“, kurz rSOC, verbinden praktisch zwei Geräte in einem. Der Zelltyp ist daher in besonderer Weise für den Bau von Anlagen geeignet, die Elektrizität in Form von Wasserstoff zwischenspeichern und diesen zu einem späteren Zeitpunkt wieder rückverstromen können. Eine derartige Speichertechnologie könnte eine wichtige Rolle bei der Energiewende spielen. Sie wird benötigt, um Schwankungen erneuerbarer Energien auszugleichen und dem Auseinanderlaufen von Angebot und Nachfrage entgegenzuwirken. Zusätzlich bietet sich der Einsatz für abgelegene Stationen auf Inseln und Bergen an, um dort eine autarke Energieversorgung sicherzustellen. Wissenschaftler der Otto-von-Guericke- Universität Magdeburg wiederum entwickeln eine reversible Brennstoffzelle, die sowohl Strom als auch Wärme aus Wasserstoff erzeugen kann und gleichfalls überschüssige elektrische Energie in Wasserstoff zurückwandelt. Damit wird es künftig möglich sein, in derselben Anlage regenerativ erzeugten Strom aus Wind und Sonnenenergie kostengünstig und flexibel zu speichern und bei Bedarf als Strom oder Wärme wieder zur Verfügung zu stellen. www.fz-juelich.de www.ovgu.de Neue Methode für sichere Brücken D er stark zunehmende Auto- und Lastwagenverkehr belastet die oft in die Jahre gekommenen Bauwerke in einem Ausmaß, das nicht abzusehen war, als sie errichtet wurden. Da Schäden an der Bausubstanz im frühen Stadium auch mit sehr großem Aufwand kaum zu erkennen sind, bleibt der tatsächliche innere Zustand einer Brücke oftmals lange unbestimmt. Sanierungsmaßnahmen werden häufig erst verspätet und unter Zeitdruck ergriffen. Deshalb arbeiten Forschende des KIT an einer Methode, den wahren Zustand von Brücken rechtzeitig zu ermitteln, ohne in die Bausubstanz eingreifen zu müssen. Im Projekt „Zebbra“ soll dies durch Radarsensorik in Kombination mit intelligenten Algorithmen erreicht werden. Wenn nämlich Fahrzeuge auf eine Brücke fahren, versetzen sie diese in Schwingungen, die mit hochpräzisen Radargeräten aufgezeichnet werden. Speziell entwickelte Computer-Algorithmen analysieren die Radarsignale. Gibt es dabei Abweichungen von der Norm der Schwingungen der jeweiligen Brücke, ist das ein Hinweis auf Schäden an der Bausubstanz. Die Wissenschaftler erwarten, dass sich mit der Methode Veränderungen sehr genau lokalisieren und Schäden auch in einzelnen Brückensegmenten wie Pfeilern oder Fahrbahnabschnitten aufspüren lassen. www.kit.edu Foto: Erich Westendarp/ pixelio Foto: Markus Breig, KIT Internationales Verkehrswesen (71) 1 | 2019 7 IM FOKUS SecProPort: Häfen vor Cyberangriffen schützen H eute sind alle am Hafentransport beteiligten Akteure - also Terminalbetreiber, Reeder, Spediteure, Betreiber von Hafen-IT, Bahn, Hafenbehörden, Zoll - über ihre eigenen, historisch gewachsenen IT-Systeme komplex miteinander vernetzt. Gelingt es einem Angreifer, diesen Verbund erfolgreich anzugreifen - sei es durch einen Angriff auf das IT-System eines Hafenakteurs oder als Innentäter - kann er manipulierte Nachrichten in das Gesamtsystem einspielen und beispielsweise Containerinformationen manipulieren, vertrauliche Daten abgreifen oder Zollfreigaben blockieren. Dies kann schlimmstenfalls zu einem Totalausfall des gesamten Hafenbetriebs einschließlich der damit verbundenen Transportinfrastruktur führen. Trotz der großen Sicherheitsrisiken existiert bislang keine umfassende Sicherheitsarchitektur, die den gesamten Hafenkommunikationsverbund vor derlei Angriffen schützt. Hier setzt das im November 2018 gestartete Verbundprojekt SecProPort an, das vom Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (BMVI) im Rahmen des Förderprogramms Innovative Hafentechnologien (IHATEC) über eine Laufzeit von drei Jahren gefördert wird. Es hat zum Ziel, eine allgemeine und umfassende IT-Sicherheitsarchitektur für das in Häfen zum Einsatz kommende Kommunikationsnetzwerk zu entwickeln. Die innovative Architektur soll die verschiedenen Sicherheitsanforderungen der in dem Netzwerk ablaufenden Arbeitsprozesse unterstützen, diese vor Sabotage schützen und das Ausspionieren von sensiblen Daten durch Dritte verhindern. Zudem wird die Architektur Resilienz-Maßnahmen bereitstellen, die im Schadensfall die Auswirkungen auf andere Akteure des Verbunds minimieren und das betroffene Netz in kontrollierter Weise wieder in den Normalzustand zurückführen soll. Das Projekt verfolgt dabei einen präventiven Ansatz: So spielen Sicherheitsaspekte im Entwicklungsprozess von Anfang an eine zentrale Rolle, um später im Angriffsfall größere Schäden zu verhindern. Damit dies erfolgreich gelingt, vereint das Projekt die Expertise von acht Projektpartnern, zu denen neben Akteuren aus der Hafenwirtschaft - dbh Logistics IT AG, Hapag-Lloyd AG, BLG LOGISTICS GROUP AG & Co. KG und Duisburger Hafen AG - auch das Deutsche Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI), das Institut für Seeverkehrswirtschaft und Logistik (ISL) und die Universität Bremen sowie als Dienstleister im Bereich der Informationssicherheit die datenschutz cert GmbH gehören. Der DFKI-Forschungsbereich Cyber-Physical Systems und die Universität Bremen beschäftigen sich seit Jahren mit Netz- und Softwaresicherheit. Uni-Institute waren schon am Forschungsprojekt PortSec beteiligt, in dem die Sicherheit eines Port Community Systems untersucht und verbessert wurde. www.dfki.de/ cps Foto: H. D. Volz/ pixelio ZF mit Technologie für MaaS-Lösungen N eue urbane Mobilitätsangebote sind einer der größten Treiber für die Entwicklung des autonomen Fahrens. Dazu zählt insbesondere das autonome „Ride- Hailing“, das auf der geteilten Nutzung von Fahrten in Robo-Taxis oder Robo-Shuttles basiert. Das Technologieunternehmen ZF hat sich für derartige „Mobility-as-a- Service“-Lösungen auf Umfeldsensoren wie Radar-, Kamera- und LiDAR-Systeme, Zentralrechner wie die ZF ProAI RoboThink inklusive Software und Algorithmen sowie mechatronische Aktuatoren und Sicherheitssysteme fokussiert. Darüber hinaus bietet der süddeutsche Technologiekonzern an, all diese Systeme sinnvoll zu vernetzen und in Fahrzeuge zu integrieren, wenn Kunden, die nicht die Fahrzeuge selbst, sondern die Mobilität anbieten wollen. Mit einem Robo-Taxi ohne Lenkrad und Pedale demonstrierte das Unternehmen auf der CES 2019 in Las Vegas, wie neue Mobilitätsformen in der Stadt aussehen können: Das Demofahrzeug konnte über ein mobiles Endgerät bestellt werden, fuhr autonom vor und chauffierte seine Fahrgäste ans gewünschte Ziel. Über das ZFSensorset kann dem Demofahrzeug seine Umgebung präzise wahrnehmen. ZF ProAI RoboThink, der leistungsstarke Zentralrechner für das autonome Fahren, soll die enorme Menge Sensordaten verarbeiten, zu einem Gesamtbild zusammenfassen und daraus entsprechende Handlungsbefehle ableiten. Deren Umsetzung übernehmen vernetzte ZF-Systeme wie etwa Fahrwerk, Antrieb, Lenkung, Bremse oder Insassenschutzsysteme. Außerdem treibt ZF die Vernetzung der intelligenten mechanischen Systeme mit seiner cloud-basierten Plattform für Mobilitätsdienstleistungen voran. Sie ermöglicht es, anbieterübergreifend Funktionen beispielsweise für das Ride-Hailing zu integrieren - ebenso wie für innovative Zustelldienste und das Flottenmanagement. Das schließt die Möglichkeit ein, die Fahrzeugsoftware über die Cloud zu aktualisieren. www.zf.com Foto: ZF Internationales Verkehrswesen (71) 1 | 2019 8 IM FOKUS Magnesium-Batterien: Aufbruch ins Post-Lithium-Zeitalter D ie Lithium-Ionen-Batterie gilt derzeit als leistungsfähiger Standard. Doch am Helmholtz-Instituts Ulm (HIU), einem vom KIT in Kooperation mit der Universität Ulm und den assoziierten Partnern DLR und ZSW gegründeten Forschungsinstitut zur Erforschung und Entwicklung elektrochemischer Batteriekonzepte arbeitet man bereits an der Nachfolgetechnologie - der Magnesiumbatterie. Magnesium als Anodenmaterial ermöglicht eine höhere Energiedichte und wäre auch viel sicherer als das an der Luft leicht entzündliche Lithium. Vor diesem Hintergrund könnte eine breite Verfügbarkeit von Magnesiumbatterien die Elektrifizierung von Mobilität und den Ausbau dezentraler Heimspeicher entscheidend voranbringen. Um die Entwicklung des neuartigen Batterietyps im europäischen Rahmen zu beschleunigen, kooperiert das HIU im Forschungsprojekt European Magnesium Interactive Battery Community (E-MAGIC) nun mit weiteren wissenschaftlichen Institutionen auf dem Gebiet der Batterie- und Materialforschung. Das im Programm „Horizon 2020“ von der EU geförderte Forschungsprojekt, koordiniert wird E-MAGIC von der spanischen Fundación Cidetec, bündelt die Expertise von insgesamt zehn wissenschaftlichen Einrichtungen. Dabei vereinen die Partner alle notwendigen Schritte zur Entwicklung von Magnesium-Batterien von der Grundlagenforschung bis zu den Prozessen bei der Zellproduktion. Neben der größeren Sicherheit und Energiedichte könnte der Einstieg in die Magnesiumtechnologie bei der Batteriefertigung außerdem dabei helfen, die Abhängigkeit von Lithium als Rohstoff zu verringern: Als Element ist Magnesium auf der Erde etwa 3000 Mal so häufig vertreten wie Lithium und kann im Gegensatz dazu einfacher recycelt werden. Entsprechend wären Magnesiumbatterien auch günstiger als Lithium-Ionen-Batterien. Kommt Europa bei der Entwicklung zügig voran, könnten Magnesiumbatterien außerdem dabei helfen, die Dominanz der asiatischen Produzenten von Batteriezellen zu vermindern und eine konkurrenzfähige Batteriefertigung in Europa zu etablieren. https: / / cordis.europa.eu/ project/ rcn/ 218681_en.html Forschende am HIU montieren Magnesiumbatterien unter Argon-Schutzgas. Foto: Laila Tkotz/ KIT Foto: Fraport AG, Fototeam Stefan Rebscher Autonome Fahrzeuge auf Deutschlands größtem Flughafen I m Rennen um die Entwicklung selbstfahrender Autos fördert das Bundeswirtschaftsministerium das vom Sensorhersteller Ibeo koordinierte Projekt „AirPortMover“, in dem autonome, elektrisch angetriebene Nutzfahrzeuge für Flughäfen entwickelt werden sollen. Die Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) soll mit ihren Analysen die Zuverlässigkeit der Fahrzeuge und damit das Vertrauen in die Roboterautos erhöhen. Auf dem Flughafen Frankfurt am Main, größter deutscher Flughafen und mit rund 70 Mio. Passagieren und über 2 Mio. t Fracht eines der weltweit bedeutendsten Luftfahrtdrehkreuze, sollen in drei Jahren zwei Fahrzeuge computergesteuert unterwegs sein. Sie werden Flugzeugbesatzungen an ihren Arbeitsplatz bringen und mobile Gangways an Flugzeuge heranfahren. Ein hoch gestecktes Ziel, bedenkt man, dass die technischen Herausforderungen für autonomes Fahren auf einem Flughafengelände noch einmal höher liegen als im normalen Straßenverkehr. Die Autos müssen zum Beispiel Kollisionen mit Flugzeugen vermeiden und dabei insbesondere auch in der Luft hängende Tragflächen und Triebwerke erkennen. Zudem müssen sie sich in den extrem geschäftigen Flughafenhallen orientieren und in den Betriebsablauf einfügen. Die Software, die das leisten soll, muss vor allem zuverlässig sein. Deshalb wird sie nicht erst im praktischen Betrieb auf dem Gelände des Projektpartners Fraport auf Herz und Nieren getestet. Die Umwelt- und Einsatzszenarien der Fahrzeuge sind enorm komplex, und so wird mithilfe eines neuen Großrechners der Uni Kiel zum Beispiel geprüft, ob sich die Software in bestimmten Situationen „aufhängt“ oder sich parallele Rechenoperationen gegenseitig behindern. Entscheidend sind diese Analysen für die spätere Sicherheitszertifizierung und schließlich die Zulassung der selbstfahrenden Nutzfahrzeuge. Neben der CAU, Ibeo und Fraport sind auch Airbus und die Hanseatische Fahrzeug Manufaktur am Projekt beteiligt. Das Projekt wird vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) im Rahmen des Fachprogramms „Neue Fahrzeug- und Systemtechnologien“ gefördert. www.bmwi.de Internationales Verkehrswesen (71) 1 | 2019 9 IM FOKUS Schweizer Berufstätige zu 71 % Pendler L aut aktuellem Mobilitätsbericht des Schweizer Bundesamts für Statistik waren im Jahr 2017 neun von zehn Erwerbstätigen in der Schweiz Pendler, also Personen, die zum Aufsuchen des Arbeitsplatzes ihr Wohngebäude verlassen. Dies entspricht rund vier Millionen Menschen. Hiervon arbeiteten 71 % außerhalb ihrer Wohngemeinde - deutlich mehr als noch im Jahr 1990 (59 %). Entsprechend durchziehen heute weitaus größere Pendlerströme das Schweizer Mittelland und die Alpentäler als noch vor wenigen Jahrzehnten. Der Kantonsvergleich zeigt, dass Basel-Stadt und Zug gemessen an ihrer Größe die meisten Berufspendler aus anderen Kantonen anziehen. Etwas mehr als die Hälfte der Pendelnden (52 %) benutzte 2017 als Hauptverkehrsmittel für den Arbeitsweg das Auto. 31 % begaben sich mit dem öffentlichen Verkehr zur Arbeit, 15 % zu Fuß oder mit dem Rad. Durchschnittlich legten sie pro einfachem Arbeitsweg 15 km zurück und benötigten dafür 31 Minuten. Zusätzlich zu den Berufspendlern wurden gut 800 000 Ausbildungspendler ab 15 Jahren gezählt, also Schüler, Lehrlinge und Studierende. Um zu ihrer Ausbildungsstätte zu gelangen, legten diese im Schnitt 21 km zurück, und zwar vorzugsweise mit öffentlichen Verkehrsmitteln: Eisenbahn und öffentlicher Straßenverkehr kamen 2017 auf einen gemeinsamen Anteil von 67 % an den Hauptverkehrsmitteln. Die Details und Grafiken zu dieser und allen verwandten Auswertungen sind auf der Webseite des Bundesamts für Statistik unter Statistiken Mobilität und Verkehr zu finden. www.bfs.admin.ch LKW-Abbiegeassistenten im Test A bbiegeassistenten sollen nach dem Koalitionsvertrag bundesweit verpflichtend in alle Lkw eingebaut werden. Nun hat in Baden-Württemberg ein in Deutschland einzigartiger Feldversuch begonnen. Dabei werden 500 LKW mit Abbiegeassistenten nachgerüstet und über einen Zeitraum von bis zu zwei Jahren wissenschaftlich begleitet. Initiatoren des Feldversuches sind der Verband Spedition und Logistik Baden- Württemberg e. V. (VSL) und das Verkehrsministerium des Landes. Sie wollen nach der Abschlussuntersuchung mit konkreten Ergebnissen, Auswertungen und Empfehlungen konkrete Handelsempfehlungen ableiten, um die Sicherheit aller Teilnehmer im Straßenverkehr zu erhöhen. Das Hamburger Unternehmen Luis Technology wurde als einziges deutsches Unternehmen ausgewählt, im Bereich der intelligenten Kamera am Pilotprojekt teilzunehmen. Dieses System ist kamerabasiert, filtert statische Objekte wie parkende Autos oder Ampelmasten heraus und verhindert so die „Abstumpfung“des Fahrers bei zu häufigen Fehlalarmen. Der Abbiegeassistent wird beim Einschlagen des Lenkrads sowie in einem bestimmten Geschwindigkeitsbereich des Fahrzeuges aktiviert. Der Fahrer wird über einen roten Kasten im Monitorbild und einen Signalton nur dann gewarnt, wenn eine Gefahr droht - also nur bei sich bewegenden Objekten wie Fußgängern oder Fahrradfahrern. Beide Gruppen sind am häufigsten von Unfällen beim Rechtsabbiegen von LKW und Bussen betroffen. Nachrüstbar sind laut Anbieter alle Nutzfahrzeuge und Busse, unabhängig von Fabrikat und Hersteller. Foto: Luis Technology 0 25 50 km 0 25 50 km Pendlerströme zwischen den Gemeinden, Zwischenstand 2014. Quelle: BfS Internationales Verkehrswesen (71) 1 | 2019 10 IM FOKUS Reallabor Schorndorf: Bedarfsbus-Forschungsprojekt erfolgreich beendet B usfahren nach Bedarf statt nach Fahrplan - im europaweit einmaligen Forschungsprojekt Reallabor Schorndorf haben Wissenschaftler unter Leitung des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) gemeinsam mit den Bürgern der baden-württembergischen Stadt Schorndorf ein flexibles und bedarfsgerechtes Bussystem entwickelt und in der Praxis getestet. Von März bis Dezember 2018 ersetzte der Bedarfsbus hier zwei reguläre Buslinien. Neben den bisherigen Haltestellen gab es mehr als 200 potenzielle Ein- und Ausstiegsorte. Für die Nutzer bedeutete das: kürzere Fußwege, neue Direktverbindungen und mehr Flexibilität - gerade auch in Zeiten niedriger Auslastung. Das Reallabor Schorndorf endete nun am 25. Januar 2019. Zu den Partnern der DLR-Verkehrswissenschaftler zählten die Stadt Schorndorf, der Verkehrs- und Tarifverbund Stuttgart (VVS), Knauss Linienbusse, die Hochschule Esslingen sowie das Zentrum für interdisziplinäre Risiko- und Innovationsforschung (ZIRIUS) der Universität Stuttgart. Während des Projekts sammelten die Forschenden eine Vielzahl von Daten und Erfahrungen. Deren Auswertung liefert neue wissenschaftliche Erkenntnisse, wie sich innovative Mobilitätskonzepte für den öffentlichen Nahverkehr gestalten und umsetzen lassen. Insgesamt beförderten die beiden im Projekt eingesetzten Kleinbusse mehr als 10 000 Fahrgäste und legten über 20 000 Kilometer zurück. Durchschnittlich nutzten jedes Wochenende rund 250 Personen das Angebot, zwei Drittel bestellten den Bus mittels Smartphone-App, ein Drittel nutzte den telefonischen Bestellservice. Alle weiteren Optionen - Bestellung über die Website oder in teilnehmenden Geschäften, Restaurants und Cafés - wurden nur selten in Anspruch genommen. Im Vergleich zum Liniensystem konnten etwa 10 % der Fahrzeugkilometer und gut 20 % der möglichen Umläufe komplett eingespart werden, weil keine Buchungen vorlagen. Da kleinere Busse im Einsatz waren, ließ sich der Kraftstoffverbrauch um mehr als die Hälfte senken. Gerade das Vermeiden von Leerfahrten haben viele Schorndorferinnen und Schorndorfer in Umfragen sehr positiv bewertet. Bestätigt hat sich auch, dass Entwicklung und Betrieb eines Bedarfsbussystems viel Begleitung und Kommunikation erfordern, um alle Bevölkerungsgruppen mitzunehmen. Ein besonderer Schwerpunkt lag deshalb auf dem Aspekt der Partizipation. Das Team des Reallabors band Bürgerinnen und Bürger sowie kommunale Gremien intensiv ein - mit öffentlichen Informationsveranstaltungen, Befragungen, Testnutzerinnen und Testnutzern, Mobilitätswerkstätten und intensiver Kommunikation über den ganzen Projektzeitraum. Nutzerbefragungen verzeichneten eine entsprechend positive Entwicklung: Waren im Mai 2018 rund 34 % zufrieden oder sehr zufrieden mit dem Bedarfsbus, stieg die Zahl im Oktober 2018 auf 50 %. Deutlich zeigte sich bei den Auswertungen ein Generationensplit: Jüngere Nutzer gaben an, mit dem System besser zurechtzukommen und zufriedener zu sein als ältere. In Baden-Württemberg werden seit 2015 insgesamt 14 Reallabor-Vorhaben mit rund 18 Mio. EUR gefördert. www.reallabor-schorndorf.de Bedienoberfläche für Busfahrer. Foto: DLR Störungsmanagement: EU-Vorbilder für die Deutsche Bahn? I n Deutschland kommt fast jeder dritte Zug im Fernverkehr zu spät am Ziel an. Wie Eisenbahnen in ganz Europa mit Verspätungen umgehen, hat Prof. Dr. Dr. Lasse Gerrits, Inhaber des Lehrstuhls für Politikwissenschaft an der Universität Bamberg, in einem mehrjährigen Forschungsprojekt analysiert [1]. Mithilfe des politikwissenschaftlichen Netzwerkgovernance-Konzepts hat sich Gerrits dabei vor allem auf soziale Beziehungen und deren Auswirkungen auf den Betriebsablauf in Deutschland, Schweden, Belgien, Dänemark, Portugal, Österreich und den Niederlanden konzentriert. So konnte er zunächst systematisch untersuchen, welche Lösungen im Störungsmanagement unter welchen Bedingungen funktionieren. In Schweden oder Belgien verwenden die Bahnbeschäftigten einfache, informell nutzbare Benachrichtigungssysteme, um einzelne Kolleginnen und Kollegen schnell und zielgerichtet über Störungsfälle zu informieren. In Deutschland sind für Meldungen dieser Art bislang bestimmte Formulare und Dienstwege vorgeschrieben. Die niederländische Bahn wiederum hat über 1500 Notfall-Pläne, die klar definieren, was bei bestimmten Störungen zu tun ist. Oft hilft das den Verantwortlichen, blitzschnell zu entscheiden. Die Deutsche Bahn dagegen hat nur wenige Pläne in der Schublade und verlässt sich im Ernstfall auf Erfahrung und Urteilsvermögen der Beschäftigten. Das könne in unvorhersehbaren Situationen aber auch ein Vorteil sein, so der Forscher. Pluspunkte der Deutschen Bahn seien auch ihre dezentrale Organisation und das große Schienennetz mit Möglichkeiten der Umleitung im Störungsfall. Das Forschungsprojekt lief über fünf Jahre [2] und wurde von der niederländischen Bahngesellschaft ProRail und der niederländischen Forschungsgesellschaft NWO unterstützt. [1] Lasse Gerrits, Danny Schipper (2018): Internationale Vergleichsstudie zum Eisenbahnstörungsmanagement. DOI: 10.20378/ irbo-52592 [2] Lasse Gerrits, Danny Schipper (2018): Wie Automatisierung das Störungsmanagement im Schienenverkehr verbessern könnte. Eine internationale Untersuchung. In: Internationales Verkehrswesen (70), Heft 1, S. 80-83 Lagezentrum der Deutschen Bahn Foto: Deutsche Bahn AG / Thomas Herter
