eJournals Internationales Verkehrswesen 71/1

Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2019-0009
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Bleibt die EU ein Zukunftsprojekt?

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Werner Balsen
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Internationales Verkehrswesen (71) 1 | 2019 23 S o bedeutsam war es noch nie. In den vergangenen Jahrzehnten waren Europawahlen eher politische Ereignisse zweiter oder gar dritter Klasse. Kaum jemand maß ihnen große politische Bedeutung bei. Anders in diesem Jahr: Die neunte Direktwahl zum Europäischen Parlament (EP) im Mai gilt als entscheidender Urnengang. Als einer, bei dem die Wähler über die Zukunft der Europäischen Union bestimmen. Das liegt weniger an der über die Jahre gestiegenen Bedeutung der Institution mit Sitz in Straßburg, dem größten demokratischen Parlament der Welt. Dessen Abgeordnete vertreten knapp 500 Mio. Menschen. Nein, die Europawahl 2019 gilt als die bedeutungsvollste, weil es die erste ist, bei der sich der grundlegende Wandel des Parteiensystems in den EU-Staaten im EP niederschlagen wird. Nach nahezu einem Jahrzehnt, in dem sich die Union fast ununterbrochen im Krisenmodus befand, verlieren etablierte, traditionell europafreundliche Parteien zwischen Finnland und Malta die Unterstützung des Wahlvolks, während europaskeptische und -feindliche Gruppierungen großen Zulauf haben. Deshalb gilt die Europawahl 2019 als Testwahl, die darüber entscheidet, ob die EU ein Zukunftsprojekt bleibt, oder ob sie nach und nach abgewickelt wird. Das hat die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel in ihrer Rede Mitte November 2018 vor dem Hohen Haus in Straßburg deutlich zum Ausdruck gebracht. Die Ansprache kann als Auftakt für den Europa-Wahlkampf gelten. Er hat damit in diesem Jahr früher begonnen als bei den Europa- Urnengängen zuvor. Auch die Spitzenkandidaten (das deutsche Wort hat sich etabliert) der Parteien oder Parteienbündnisse sind schon oder werden deutlich zeitiger bestimmt. Für die bislang größte Dach-Partei im EP, die Europäische Volkspartei (EVP), der die deutschen Unionsparteien angehören, wird der CSU-Abgeordnete Manfred Weber als Spitzenkandidat in den Wahlkampf gehen. Die europäischen Grünen stellten die deutsche EU-Abgeordnete Ska Keller und deren niederländischen Parteikollegen Bas Eickhout als Spitzenkandidaten auf. Die zweitgrößte Gruppe im EP, die Progressive Allianz der Sozialdemokraten (S&D), der die SPD angehört, wählten den Niederländer Frans Timmermans zu ihrem Frontmann. Er ist derzeit in der EU-Kommission der erste Stellvertreter des Präsidenten Jean-Claude Juncker. Juncker selbst war vor fünf Jahren Spitzenkandidat der EVP. Damals setzte das Parlament zum ersten Mal durch, dass die Abgeordneten den Präsidenten der EU-Kommission aus der Reihe ihrer Spitzenkandidaten wählen. Juncker setzte sich gegen den damaligen Spitzenkandidaten von S&D, den Sozialdemokraten Martin Schulz durch. Es ist zum ersten Mal höchst fraglich, ob EVP sowie S&D ihre traditionelle Dominanz des EP auch nach der Wahl im Mai fortsetzen können. Beide Parteien müssen befürchten, zusammen nicht mehr mehrheitsfähig zu sein. Denn fast bei jeder nationalen Wahl seit 2014 haben die etablierten Parteien an Einfluss verloren. Dagegen haben neue, kleine und fragmentierte Gruppen an Bedeutung gewonnen. Sie sind meist, aber nicht immer europafeindlich. Auch die proeuropäische Bewegung des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, „La République en Marche“, gehört dazu. Wie stark die EU-kritischen Kräfte in der nächsten Legislaturperiode auftrumpfen können, hängt davon ab, wie die einzelnen Gruppen an den Wahlurnen abschneiden. Aber entscheidend ist auch, wie die stark fragmentierte Rechte in der Lage ist, sich im Hohen Haus zu Bündnissen zusammen zu schließen. Interessant ist, dass neben dem Erstarken der EU-Skeptiker auch eine zunehmende Sympathie für die EU messbar ist. Das Eurobarometer, eine von der EU-Kommission in Auftrag gegebene, regelmäßige Meinungsumfrage, misst derzeit überraschend hohe Zustimmungswerte von EU-Bürgern für die Union. In Deutschland etwa haben 81 % der Befragten ein positives Bild von ihr. Der Wendepunkt war offenbar der Brexit, der vielen wie ein Schock in die Glieder fuhr. Danach, so ist in Brüssel zu beobachten, beendeten die nationalen Politiker ihr traditionelles „Brussels-Bashing“ weitgehend, die Neigung, das Negative der EU zuzuschieben, das Positive aus Brüssel aber den eigenen Fahnen anzuheften. Und Europäer, die sich in der Welt umschauen, erkennen zunehmend, dass die Union das Beste ist, was ihnen passieren konnte. Ob die Wähler im Mai das Kürzel EU mit dem „goldenen Zeitalter Europas“ (Süddeutsche Zeitung) verbinden oder mit einem bürokratischen Moloch, dem die nationale Souveränität nicht weiter geopfert werden darf, hängt auch davon ab, wie engagiert die Europafreunde ihren Wahlkampf führen. ■ Werner Balsen EU-Korrespondent der DVZ Deutsche Verkehrs-Zeitung B E R I C H T A U S B R Ü S S E L VON WERNER BALSEN Bleibt die EU ein Zukunftsprojekt?