Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2019-0026
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Wie vermeiden wir den Mobilitätswandel mit der Brechstange?
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Dirk O. Evenson
Autonomes Fahren, kostenloser ÖPNV, Fahrverbote für Dieselautos – die Liste aktueller Aufreger-Themen ist vielfältig. Und während die Einen die Notwendigkeit sehen, Mobilität mit allen Mitteln nachhaltiger zu machen, verbreiten die Anderen Schreckensszenarien für den Fall jeglichen Wandels. Es wird Zeit, Farbe zu bekennen, meint Dirk O. Evenson, Managing Partner Evenson GmbH und Direktor New Mobility World.
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POLITIK Standpunkt Internationales Verkehrswesen (71) 2 | 2019 16 Wie vermeiden wir den Mobilitätswandel mit der Brechstange? Autonomes Fahren, kostenloser ÖPNV, Fahrverbote für Dieselautos - die Liste aktueller Aufreger-Themen ist vielfältig. Und während die Einen die Notwendigkeit sehen, Mobilität mit allen Mitteln nachhaltiger zu machen, verbreiten die Anderen Schreckensszenarien für den Fall jeglichen Wandels. Es wird Zeit, Farbe zu bekennen, meint Dirk O. Evenson, Managing Partner Evenson GmbH und Direktor New Mobility World. Z u lange haben wir in Deutschland den Weg des geringsten Widerstands gewählt: Die Debatten rund um alternative Antriebe, nachhaltige oder digitale Mobilität und Luftverschmutzung sind nicht neu; die heute gültigen EU-Grenzwerte für Stickoxide gelten bereits seit 1998. Dennoch haben wir den notwendigen Mobilitätswandel auf die lange Bank geschoben. Bis vor Kurzem war der Individualverkehr, das eigene Auto, noch die Maxime im deutschen Mobilitätsmix. Auch in der Stadt. Erst die Gerichte haben uns mit Fahrverboten unsanft aus dem Dornröschenschlaf aufgeschreckt. Die ersten Reaktionen: Auf der einen Seite der aktionistische Ruf nach kostenlosem ÖPNV - wohlgemerkt dem gleichen ÖPNV, der jahrzehntelang unterfinanziert wurde und schon kaum die heutige Nachfrage deckt. Auf der anderen Seite das Beharren auf Besitzstandswahrung und kleinstmöglicher Veränderung - gepaart mit der Chuzpe, die Kläger zu den Schuldigen zu erklären. Weitsicht und Führung sehen anders aus. Ein erfolgreicher, nachhaltiger Mobilitätswandel setzt den Menschen in den Mittelpunkt. Bei dessen Mobilitätsentscheidungen spielen einige Faktoren eine Rolle, nicht nur der Preis: Bequemlichkeit, Zuverlässigkeit, Flexibilität, Geschwindigkeit sind weitere Entscheidungsfaktoren. Und so vielfältig wie die Entscheidungsgrundlagen sind auch die bevorzugten Transportmittel. Ein attraktiver, verlässlicher und schneller ÖPNV bleibt das Fundament aktiver, sauberer und integrierter urbaner Mobilität. Dazu brauchen wir aber ergänzende Vehicle- und Ridesharing-Angebote, 100-prozentige Elektrifizierung der Flotten und entsprechende Infrastruktur sowie einen flächendeckenden Ausbau breiter Fahrradwege - alles intelligent vernetzt. Von anderen Städten lernen Andere Städte bieten bereits einen breiten Pool an Best Cases und Negativbeispielen. Sie haben vorgemacht, wie der Mobilitätswandel angegangen werden kann; der vielleicht einzige Vorteil für die deutschen Spätstarter: • Die französische Hauptstadt Paris bündelt bereits seit 2007 diverse Maßnahmen in einem Paket, um den Verkehrskollaps zu vermeiden. Eine Kombination aus einem der weltweit größten Leihradsysteme Vélib, dem städtischen vollelektrischen Carsharing-Service „Autolib“ und diversen Infrastrukturmaßnahmen bieten attraktive Alternativen zum ineffizienten Individualverkehr. Mit Erfolg: Laut der Assoziation der französischen Transport- und Logistikinstitute sank der Anteil der Autos am Pariser Stadtverkehr zwischen 1990 und 2015 um 45 Prozent. Gleichzeitig stieg der Anteil der öffentlichen Verkehrsmittel um 30 Prozent - die Zahl der Radfahrer verzehnfachte sich gar. • Ein anderes Beispiel ist Vancouver. Die dortige Administration kaufte der Canadian Pacific Railway einen stillgelegten Bahnkorridor ab. Aus diesem baut die Stadt nun einen Highway aus Fahrradstrecken, Fußwegen, Straßen- und Stadtbahnen, mit welchem das Stadtzentrum mit umliegenden Nachbarschaften verbunden wird. • Ein potenzielles Negativbeispiel ist Brüssel - eine der Städte mit der höchsten Luftbelastung in Europa. Die Maßnahmen bekämpfen derzeit nur die Brandherde: die kostenfreie Nutzung des ÖPNV und des städtischen Bikesharing-Dienstes sowie Einfahrtsverbote bei kritischer Luftbelastung oder generelle Fahrverbote für ältere Diesel. Zwar soll bis 2030 die Nahverkehrsflotte elektrifiziert werden, aber ein integriertes und nachhaltiges Konzept sieht anders aus. Raus aus der Abwehrhaltung Viele Bürger sind offen für Alternativen, nur müssen ihnen diese gefallen. Fahrverbote sorgen nur für Abwehrreaktionen; nachhaltige, effiziente und attraktive Angebote hingegen schaffen Akzeptanz für die Mobilitätswende. Nun gilt es endlich zu agieren, statt dauerhaft zu reagieren. Technologie, Konzepte, Partner: Das ist alles da. Die Beispiele auch. Jetzt braucht es Zielsetzung, Zusammenarbeit, Finanzierung. Und vor allem: Ehrgeiz und Ungeduld in den Metropolen dieser Welt. ■ Foto: Marcus Höhn
