eJournals Internationales Verkehrswesen 71/2

Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2019-0027
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EU zwischen Sozialunion und Binnenmarkt

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Werner Balsen
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Internationales Verkehrswesen (71) 2 | 2019 17 R und um den Rond-Point Schuman, den Kreisverkehr im Brüsseler Europaviertel, bewegt das erste EU-Mobilitätspaket auch in diesen Tagen noch die Gemüter - nach fast zwei Jahren Dauerstreit über Entsendung von Truckern, Kabotage sowie Lenk- und Ruhezeiten. In der ersten Aprilwoche hat das Europäische Parlament (EP) über die „sozialen Themen“ des ersten Mobilitätspakets abgestimmt. Damit ging ein langer politischer Kampf im Hohen Haus über die wichtige Reform des Straßengüterverkehrs vorläufig zu Ende. Wie immer bei entscheidenden Fragen im EP, fühlten sich die Abgeordneten weniger dem politischen Lager verpflichtet, dem sie angehören, als den Interessen des Landes, aus dem sie stammen. Deshalb standen sich die Parlamentarier aus den nord- und südosteuropäischen Staaten und jene aus Nordwesteuropa unversöhnlich gegenüber - auch in der eigenen Gruppe. Tiefe Risse gingen so vor allem durch die Fraktionen der Europäischen Volkspartei, der auch die deutschen Unionsabgeordneten angehören, und der Progressiven Allianz der Sozialdemokraten im EP. Die aus dem Nordwesten kämpfen für den sozialen Schutz der LKW-Fahrer auf Europas Straßen. Ihre Gegenspieler aus dem Osten sahen darin vor allem den Versuch, heimische Märkte abzuschotten und sprachen - nicht ganz zu Unrecht - von einer Verletzung der Regeln des europäischen Binnenmarktes. Vor diesem Hintergrund ist positiv hervorzuheben, dass es dem Hohen Haus noch in der laufenden Legislaturperiode gelang, seinen Standpunkt zu definieren. Zumal eine große Gruppe von Parlamentariern in diversen politischen Gruppen bis zuletzt versuchte, genau das mit allerlei Verfahrenstricks zu verhindern. Das misslang. So können die drei gesetzgebenden EU-Institutionen noch in diesem Jahr - wenn auch vermutlich erst in der zweiten Hälfte - mit den Trilog-Verhandlungen beginnen. Sie dürften weniger kompliziert werden, als zu befürchten war. Denn die Position des EP unterscheidet sich nicht allzu sehr von jener der EU-Verkehrsminister. Die legten ihren Standpunkt bereits im Dezember 2018 fest. Politisch verursacht die weitgehende Übereinstimmung von Abgeordneten und Ministern ein Problem: Denn die Positionen beider EU-Institutionen berücksichtigen die Wünsche der Nordwest-Staaten in der Union stärker als die Interessen der nord- und südosteuropäischen Staaten. Der Sozialgedanke, den der Nordwesten bei den Debatten betonte, schlägt sich in den Ergebnissen deutlich klarer nieder als die Freiheit des Binnenmarktes, auf die die Ost-Länder pochten. So wird die Position des EP die Abgeordneten aus Bulgarien, Rumänien oder Litauen in dem Empfinden bestärken, von den Kollegen aus dem Nordwesten kujoniert worden zu sein. Wieder einmal. Als die EU-Kommission im Mai 2017 das erste Mobilitätspaket vorlegte, wollte sie damit die Regeln im Straßengüterverkehr „präzisieren“, für deren effizientere Durchsetzung sorgen und den Verwaltungsaufwand für Firmen reduzieren. Weder bei den Beschlüssen der Verkehrsminister noch bei den vom EP vorgelegten Positionen ist Grosso modo erkennbar, dass die Ziele erreicht wurden. Schon die Definition einer „bilateralen“ Fahrt mit zwei „zusätzlichen Be- und Entladungen in beiden Richtungen“ ist nicht ohne. Wie ein kontrollierender Beamter erkennen soll, ob ein LKW auf einer solchen Fahrt unterwegs (und somit von den Entsenderegeln befreit) ist, oder ob für ihn das Entsenderecht und somit der nationale Mindestlohn gilt, ist völlig unklar. Die Abgeordneten (wie die Verkehrsminister) setzen auf den Intelligenten Tachografen, den sie in Neufahrzeugen schon ab 2022 vorschreiben wollen. Aber noch weiß niemand, ob er seine ihm zugeschriebenen Fähigkeiten tatsächlich sofort ausspielen kann. Für die Unternehmen werden die neuen Regeln einiges an bürokratischem Aufwand bedeuten. Für die großen wird das zu stemmen sein, kleinere Firmen könnte es überfordern - etwa wenn sie die Mindestlöhne verschiedener Länder einkalkulieren müssen. Es ist nicht auszuschließen, dass der Mehraufwand an Verwaltung die Strukturen im Markt verändert und kleinere Transporteure aus dem internationalen Geschäft drängt. Rund um den Rond-Point Schuman im Europaviertel überwiegt so nach fast zwei Jahren Debatte über das erste Mobilitätspaket zu Recht die Skepsis. Nicht nur bei jenen, die auf ausgewogene Vorschriften zwischen Ost und West hofften - zwischen „Sozialunion“ und Binnenmarkt. Auch bei denen, die Vereinfachung und effizientere Durchsetzung der Regeln erwartet haben. ■ Werner Balsen EU-Korrespondent der DVZ Deutsche Verkehrs-Zeitung B E R I C H T A U S B R Ü S S E L VON WERNER BALSEN EU zwischen Sozialunion und-Binnenmarkt