Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2019-0037
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Kurzfristiger Schienenersatzverkehr besser organisiert
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Alina Steindl
Uwe Clausen
Die Organisation eines kurzfristigen Schienenersatzverkehrs verläuft heute noch relativ starr und mittels telefonischer bzw. händischer Prozesse. Aktuelle Forschungen beschäftigen sich jedoch mit einer Digitalisierung des Prozesses. Vorliegender Artikel gibt einen Einblick über die Ausgangssituation bei Eisenbahnverkehrsunternehmen, Busanbietern und Fahrgästen sowie die Anforderungsstruktur auf Seiten der involvierten Akteure.
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Internationales Verkehrswesen (71) 2 | 2019 46 MOBILITÄT Busnotverkehr Kurzfristiger Schienenersatzverkehr besser organisiert Digitalisierung des Organisationsprozesses von Busnotverkehren. Schienenersatzverkehr, Busnotverkehr, Digitalisierung, Prozess, Organisation Die Organisation eines kurzfristigen Schienenersatzverkehrs verläuft heute noch relativ starr und mittels telefonischer bzw. händischer Prozesse. Aktuelle Forschungen beschäftigen sich jedoch mit einer Digitalisierung des Prozesses. Vorliegender Artikel gibt einen Einblick über die Ausgangssituation bei Eisenbahnverkehrsunternehmen, Busanbietern und Fahrgästen sowie die Anforderungsstruktur auf Seiten der involvierten Akteure. Alina Steindl, Uwe Clausen I m Falle der Unterbrechung des Laufweges eines schienengebundenen Verkehrsmittels muss gegebenenfalls der Linienverlauf unterbrochen und ein kurzfristiger Schienenersatzverkehr (Busnotverkehr) eingerichtet werden. Für Fahrgäste, die ein Ziel innerhalb eines gesperrten Streckenabschnitts haben, wird entlang des gesperrten Streckenabschnitts ein Ersatzverkehr mit Bussen oder Taxis eingerichtet. Das betroffene Eisenbahnverkehrsunternehmen muss innerhalb kürzester Zeit Busse organisieren, die die Fahrgäste an Ort und Stelle abholen und zu ihrem Zielbahnhof befördern. Für den Fahrgast ergeben sich Komfortverluste aufgrund des Umstiegs auf ein anderes Verkehrsmittel. Die Fahrgäste müssen die teils nicht barrierefreien Umsteigewege trotz einer oftmals unzureichenden Wegeführung vom Zug zur Ersatzhaltestelle bewältigen. Aus den zusätzlichen Fußwegezeiten, Synchronisationszeiten beim Umstieg von Zug auf Bus sowie durch längere Fahrzeiten mit dem Bus ergibt sich eine erhebliche Reisezeitverlängerung. Ein weiterer Nachteil resultiert aus den begrenzten Kapazitäten der Busse, die oftmals nicht ausreichend dimensioniert sind, und Busfahrern, die nicht richtig informiert sind. Die Ressourcen Bus und Fahrer müssen vom Eisenbahnverkehrsunternehmen oder einem Vertreter angefragt und organisiert werden. Hierbei kommen meistens Subunternehmen zum Einsatz, die gegebenenfalls nachts oder an Wochenenden schlecht erreichbar sind. 1 Zudem kommt es vor allem in Stoßzeiten, zum Beispiel zu den Zeiten des Schülertransports morgens und mittags, zu Engpässen, da die Kapazitäten der Busunternehmen ausgelastet sind. Eine weitere Herausforderung besteht in der Kommunikation: Das Eisenbahnverkehrsunternehmen beauftragt ein Generalunternehmen mit der Organisation der Busse. Dieses Generalunternehmen ruft die Busunternehmer telefonisch nacheinander an und befragt diese nach Verfügbarkeiten für den Busnotverkehr. Informationen über Verfügbarkeiten von Fahrern und Fahrzeugen müssen sich die Busunternehmer zuerst von Fahrern einholen, da meist keine genaue Kenntnis über die aktuelle Auslastung der Fahrzeuge besteht. Daraufhin werden wieder der Generalunternehmer und über ihn die Transportleitung des Bahnunternehmens informiert, welche die Abwicklung der Störung unternehmensintern koordiniert. Aufgrund dieser vielschichtigen Kommunikation zwischen Transportleitung, General- und Busunternehmer warten die Fahrgäste mindestens 30 bis 60 Minuten auf den Weitertransport mit Bussen. Zeitkritisch ist nicht nur die Wartezeit an sich, sondern auch die lange Informationskette über das Zugpersonal hin zum Fahrgast. Diesem fehlen oftmals Informationen zum weiteren Ablauf der Fahrt bzw. zu Reisealternativen. Diese Verzögerungen im Foto: Glaser/ fotolia.com Internationales Verkehrswesen (71) 2 | 2019 47 Busnotverkehr MOBILITÄT Informationsablauf werden von den Fahrgästen besonders kritisch gesehen, insbesondere von Berufspendlern und Anschluss- oder Flugreisenden. Herausforderungen, die mit der Einrichtung eines kurzfristigen Schienenersatzverkehrs, d. h. eines Busnotverkehrs einhergehen, sind wie skizziert vielseitig. Involvierte Akteure und Personengruppen sind neben dem Zugpersonal und der Transportleitung eines Eisenbahnverkehrsunternehmens auch Fahrdienstleiter und Disponenten des Eisenbahninfrastrukturunternehmens sowie ein gegebenenfalls eingebundener Generalunternehmer, der die Busse bestellt. Des Weiteren sind Subunternehmer als Leistungserbringer sowie der Busfahrer eingebunden. Im Fokus steht der betroffene Fahrgast, den es möglichst schnell und komfortabel weiter zu transportieren gilt (Bild 1). Grundsätzlich bleibt festzuhalten, dass ein Busnotverkehr immer eine unattraktive Alternative zur Mobilität auf der Schiene ist. Die Bayerische Oberlandbahn (BOB) in Holzkirchen hat diese Probleme erkannt, möchte die Herausforderungen angehen und Abhilfe für die Beteiligten schaffen. Im Rahmen eines Forschungsprojekt mit den weiteren Umsetzungspartnern einer Softwarelösung (Catenate GmbH, Lang & Fendel GmbH) entwickelte das Fraunhofer IML den zugrundeliegenden Prozess zur Organisation von Busnotverkehren. Das Fraunhofer IML führte gemeinsam mit der BOB eine Fahrgastumfrage in den Zügen der BOB im Jahr 2017 durch. Daraus konnten Anforderungen und Bedarfe von Seiten der Fahrgäste für den Anwendungsfall eines Busnotverkehrs erhoben werden. Darüber hinaus finden seit Juli 2017 fortlaufend Gespräche, Interviews und Workshops mit am Prozess beteiligten Akteuren (siehe Bild 1) statt. Durch die detaillierte Kenntnis der aktuellen Situation sowie Bedürfnis- und Anforderungsstruktur konnte eine übergeordnete Zielstellung für den Umgang mit oben skizzierter Problematik definiert werden (Bild 2). Demnach zeigten die Untersuchungen, dass der Organisationsprozess für einen Busnotverkehr erweitert, neu strukturiert sowie beschleunigt werden muss. Dies bezieht sich beispielsweise auf den begleitenden Prozess der Fahrgastinformation und -kommunikation. Mit dem Instrument der Digitalisierung und Automatisierung geht eine Neustrukturierung und Beschleunigung des Prozesses einher. Auswirkungen können sich hinsichtlich einer Kostenreduktion für die Einrichtung eines Busnotverkehrs ergeben. Darüber hinaus soll die Anbieter- und Fahrgastzufriedenheit gesteigert werden. Digitalisierung und Automatisierung lassen darüber hinaus auch eine Unterstützung bei der Organisation und eine mögliche Fehlerminimierung währenddessen zu. Das Konzept Das entwickelte Konzept für ein digitales System bezieht sich auf folgenden Kernprozess, wobei die abgebildeten Akteure über Kommunikationsprozesse eingebunden sind bzw. den Prozess initiieren (EVU/ Generalunternehmen) (siehe Bild 3). Die einzelnen Schritte des Kernprozesses wurden mit den organisierenden Akteuren hinsichtlich oben abgebildeter übergeordneter Zielstellungen diskutiert. Anfrage Mit der Entscheidung, dass ein Busnotverkehr eingerichtet wird, beauftragt ein Eisenbahnverkehrsunternehmen üblicherweise ein Generalunternehmen mit der Organisation der Busse. Das Generalunternehmen beginnt mit der Anfrage bei den Busunternehmen nach verfügbaren Kapazitäten. Die Digitalisierung ermöglicht eine Anfrage bei mehreren Anbietern gleichzeitig. Über das konzipierte und umgesetzte System in Form einer Softwarelösung erhält der Anbieter eine digitale Anfrage, auf die er sich zurückmelden kann. Über den Eingang einer neuen Anfrage können automatisch versendete SMS oder generierte Anrufe informieren. Bei Rückmeldung eines Teilangebots durch den Anbieter wird die Anfrage automatisch aktualisiert. So erhalten andere Anbieter die Information, dass bereits ein Teil der Anfrage durch einen anderen Anbieter gedeckt ist. Die Konzipierung dieses Prozessschritts bezieht auch die Möglichkeit eines Datenbankabgleichs zwischen Besteller und Auftragnehmer mit ein. So können freie Kapazitäten des Anbieters ohne vorherige Anfrage durch das Generalunternehmen eingesehen werden. Dies ist über eine Schnittstelle zum Dispositionssystem des Anbieters oder über eine Datenbank im System lösbar. Der Besteller greift somit auf die Datenbank zu und sieht, ob der Anbieter freie Kapazitäten für den gewünschten Zeitraum eingestellt hat. Grundvoraussetzung dafür ist eine ausreichende Pflege des Systems durch den Anbieter des Busnotverkehrs. Voraussetzungen und Befugnisse müssen in Rahmenverträgen geklärt werden. Auftragsvergabe Nachdem einzelne Anbieter auf die Anfrage reagieren, sieht das Konzept eine weitgehend automatische Auftragsvergabe vor. Eine Voraussetzung ist beispielsweise, dass das Angebot des Anbieters der Anfrage entspricht. Eine Prozessbeschleunigung durch automatisch herbei geführte Entscheidungen kann entstehen. Mit dem Auftrag soll auch die Übergabe von Zusatzinformationen zu Strecke, Haltestellen, Baustellen, Besonderheiten, wie dem Transport von Fahrrädern, mobilitätseingeschränkten Perso- Bild 1: Beteiligte Akteure und der Fahrgast im Fokus Alle Darstellungen: Autoren Bild 2: Übergeordnetes Ziel bei der Organisation von Busnotverkehren Internationales Verkehrswesen (71) 2 | 2019 48 MOBILITÄT Busnotverkehr nen, möglich sein. Diese Informationen sind Grundlage zur Qualitätssteigerung des Transports für den Reisenden, da der Busfahrer einen besseren Informationsstand erhält. Auch nach einer Beauftragung soll es zudem die Möglichkeit einer Veränderung des Auftrags im Nachhinein geben. Dies ist insbesondere dann wichtig, wenn sich während der Durchführung des BNV Änderungen, wie z. B. eine Ausweitung des oder frühzeitige Beendigung ergeben. Durchführung Auch während der Durchführung des Busnotverkehrs ergeben sich einige Zielstellungen. So zeigten die Untersuchungen, dass eine Erleichterung und Prozessbeschleunigung durch Routing und Navigation der Busse herbeigeführt werden kann. Ist der Busfahrer ortsunkundig, kann es vorkommen, dass Ersatzhaltestellen oder Bahnhöfe nicht auf direktem Weg angefahren werden und sowohl Umwege als auch längere Reisezeiten vom Fahrgast in Kauf genommen werden müssen. Zu diesem Zwecke ist es wichtig, den Busfahrer mit ausreichenden Informationen über den geplanten Einsatz zu versorgen. Ein ortsabhängiges Nachverfolgen der Busse spielt zudem Informationen zum aktuellen Standort an den Besteller zurück. Davon können auch die Fahrgäste profitieren. Dokumentation und Rechnungsstellung Über den gesamten Kernprozess erweist sich eine stetige Dokumentation der einzelnen Prozess- und Arbeitsschritte und deren Status als sinnvoll. Eine automatische Dokumentation und Rechnungstellung wird für das System konzipiert. Aufbauend auf diesen Erkenntnissen, insbesondere zu den Anforderungen an den Kernprozess, entsteht aktuell ein umfassendes Konzept zur Organisation von Busnotverkehren. Der Bedarf an entsprechenden Konzepten und effizienten Systemen für die Organisation von kurzfristigen Verkehrsleistungen ist groß. Nicht nur für den Ersatz von Schienenverkehrsleistungen spielt ein spontaner Einsatz von Transportmitteln eine entscheidende Rolle. Forschungen bestehen auch im Einsatz derartiger Systeme für den bedarfsnahen Einsatz von Verkehrsleistungen bei Nachfrageschwankungen, z. B. bei Großveranstaltungen oder Extremwetterlagen. Interessant sind hierbei die Möglichkeiten verbesserter Prognosen zur Abschätzung der Verkehrsnachfrage. ■ 1 Vgl. Schnieder, Lars (2015).: Betriebsplanung im öffentlichen Personennahverkehr. Ziele, Methoden, Konzepte. Berlin: Springer Vieweg (VDI-Buch), S. 159f Alina Steindl, M.Sc. Projektleitung Mobilität und Verkehr, Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik (IML), Prien am Chiemsee alina.maria.steindl@ prien.iml.fraunhofer.de Uwe Clausen, Prof. Dr.-Ing. Institutsleiter, Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik (IML) & Institut für Transportlogistik (ITL), Technische Universität Dortmund, Vorsitzender der Fraunhofer Allianz Verkehr uwe.clausen@iml.fraunhofer.de Bild 3: Kern- und Kommunikationsprozess Brief und Siegel für Wissenschafts-Beiträge Peer Review - sichtbares Qualitätsinstrument für Autoren und Leserschaft P eer-Review-Verfahren sind weltweit anerkannt als Instrument zur Qualitätssicherung: Sie dienen einer konstruktiv-kritischen Auseinandersetzung mit Forschungsergebnissen, wissenschaftlichen Argumentationen und technischen Entwicklungen des Faches und sollen sicherstellen, dass die Wissenschaftsbeiträge unserer Zeitschrift hohen Standards genügen. Herausgeber und Redaktion laden daher Forscher und Entwickler im Verkehrswesen, Wissenschaftler, Ingenieure und Studierende sehr herzlich dazu ein, geeignete Manuskripte für die Rubrik Wissenschaft mit entsprechendem Vermerk bei der Redaktion einzureichen. Die Beiträge müssen „Originalbeiträge“ sein, die in dieser Form und Zusammenstellung erstmals publiziert werden sollen. Sie durchlaufen nach formaler redaktioneller Prüfung ein standardisiertes Begutachtungsverfahren, bei dem ein Manuskript zwei, in besonderen Fällen weiteren Gutachtern (Referees) aus dem betreffenden Fachgebiet vorgelegt wird. Interessierte Autoren finden die Verfahrensregeln, die Autorenhinweise sowie das Formblatt für die Einreichung des Beitrages auf www.internationales-verkehrswesen.de/ autoren-service/ KONTAKT Eberhard Buhl, M.A. Redaktionsleiter Internationales Verkehrswesen Tel.: +49 7449 91386.44 eberhard.buhl@trialog.de
