eJournals Internationales Verkehrswesen 71/4

Internationales Verkehrswesen
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expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2019-0073
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Mobilität 2042 - die Verkehrswende beginnt heute

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Hartmut Topp
Dieser Beitrag geht zum Teil zurück auf ein Fachgespräch des Autors mit den Professoren Regine Gerike und Gerd-Axel Ahrens im Rahmen der Öffentlichkeitsbeteiligung zum Masterplan für das Neuenheimer Feld in Heidelberg, einen mit etwa 150 Hektar sehr großen Uni-Campus mit medizinischen Service- und Forschungseinrichtungen. Dabei ging es allerdings in erster Linie um die Mobilität im Allgemeinen mit den Zeithorizonten 2035 und 2050, also zeitlich auch über den zurzeit in Bearbeitung befindlichen Verkehrsentwicklungsplan der Stadt Heidelberg hinaus.
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POLITIK Standpunkt Internationales Verkehrswesen (71) 4 | 2019 12 Mobilität 2042 - die Verkehrswende beginnt heute Betrachtungen zur Mobilität der Zukunft Bürgerbeteiligung, Mobilitätswende, Stadtentwicklung, Verkehrsplanung Dieser Beitrag geht zum Teil zurück auf ein Fachgespräch des Autors mit den Professoren Regine Gerike und Gerd-Axel Ahrens im Rahmen der Öffentlichkeitsbeteiligung zum Masterplan für das Neuenheimer Feld in Heidelberg, einen mit etwa 150 Hektar sehr großen Uni-Campus mit medizinischen Service- und Forschungseinrichtungen. Dabei ging es allerdings in erster Linie um die Mobilität im Allgemeinen mit den Zeithorizonten 2035 und 2050, also zeitlich auch über den zurzeit in Bearbeitung befindlichen Verkehrsentwicklungsplan der Stadt Heidelberg hinaus. Hartmut Topp D er Begriff Mobilität 2042 soll an Verkehr 2042 erinnern, einen Aufsatz des Autors vor 20 Jahren [1]; die Themen sind immer noch die gleichen. Der 1994 verstorbene Philosoph Karl Popper sagte einmal: „Wir wissen einiges über die Zukunft oder können es einigermaßen abgesichert vermuten. Wir wissen aber grundsätzlich nicht, was wir künftig wissen werden; sonst wüssten wir es heute schon.“ - „Einigermaßen abgesichert vermuten“? Auch das ist inzwischen fraglich angesichts der durch Digitalisierung initiierten Veränderungen und zu nutzenden Möglichkeiten. Der Soziologe Dirk Baecker [2] bezeichnet die Digitalisierung als vierte Revolution in der Geschichte der Menschheit, nach Erfindung der Schrift, des Buchdrucks und der Industrialisierung. Man mag das für übertrieben halten oder auch nicht - mich hat es jedenfalls noch einmal zum Nachdenken über fundamentale Auswirkungen der Digitalisierung auf unsere Mobilität angeregt. Die Zukunft der Mobilität beginnt in der Gegenwart Die heutige autozentrierte Mobilität steckt in der Sackgasse. Das lässt sich vielfach belegen, unter anderem mit zentralen Aussagen der dem Fachgespräch voraus gegangenen Vorträge zu Städtebau und Freiraum [3] und zu technischer Infrastruktur [4]. Außerhalb der Fußgängerinseln in den Innenstädten, wie der Heidelberger Altstadt, dominiert das Auto und okkupiert, fahrend und parkend, die urbanen Freiräume. Ohne Verkehrswende sind die CO 2 -Reduktionsziele nicht zu erreichen, auch die Stadt Heidelberg hat den Klimanotstand erklärt. Und selbst gesundheitliche Aspekte spielen zunehmend eine Rolle [5]. Wie kommen wir aus der Sackgasse raus? Es gibt phantastische, nicht weiterführende Heilsversprechen wie Flugtaxis, Drohnen für den Lieferverkehr, Hyperloop als Rohrpost für Personen - alles in keiner Weise nachhaltig, wenngleich Drohnen im Neuenheimer Feld im Spezialfall einer zeitkritischen medizinischen Versorgung trotzdem durchaus Sinn ergeben können. Auch das automatische Fahren ist kein Patentrezept, aber da muss man genauer hinschauen: Möglichkeiten und Chancen liegen zweifelsohne in ländlichen Räumen in der Erweiterung der Einzugsbereiche der ÖPNV-Haltestellen durch automatische, fahrerlose Kleinbusse, wie schon heute beispielsweise in Bad Birnbach - allerdings mit Begleitperson - oder auf dem Campus von Universitäten oder Firmen wie zum Beispiel in der Berliner Charité [6]. Und das ist durchaus auch ein Ansatz für das Neuenheimer Feld. Auch auf Autobahnen, Schnellstraßen und auf städtischen Magistralen wird automatisches Fahren in absehbarer Zukunft Verkehr sicherer und leistungsfähiger machen. Kritisch zu sehen ist automatisches Fahren jedoch im quirligen Stadtverkehr mit Zu-Fuß-Gehenden und Radfahrenden, die absichtlich oder unabsichtlich selbstfahrende Fahrzeuge jederzeit ausbremsen können. Und eine digitale oder physische „Einzäunung“ von Stadtstraßen entspricht nicht unserem Verständnis von Stadtraum. Die Debatte um „autonomes“ Fahren ist industriepolitisch und technisch dominiert; einen guten Überblick aus stadt- und verkehrsplanerischer Sicht geben Rothfuchs und Engler [7] auf Basis ihrer Studie für die HafenCity in Hamburg. Elektrisch fahren und alles ist gut? Das ist wichtig, aber deutlich zu kurz gesprungen: Was bleibt, ist insbesondere der enorme Flächenanspruch des ruhenden und fließenden Autoverkehrs neben bisher ungelösten Fragen der flächendeckenden Versorgung mit Öko-Strom mangels ausreichender Speicher- und Leitungskapazitäten und des Vorrats und der Art der Gewinnung einiger Rohstoffe für die Herstellung der Batterien. Vielleicht ist E-Mobilität mit Wasserstoff ja doch eine sinnvolle Alternative zur Batterie - wie ohnehin bei schweren LKW. Privat-PKW werden im statistischen Mittel eine Stunde pro Tag bewegt, 23 Stunden stehen sie herum. Dieses groteske Missverhältnis ist seit langem bekannt, ohne dass es bisher dem privaten PKW-Besitz viel antun konnte. Wer auf ein Auto - Kaufpreis 30.000 bis 40.000 Euro oder mehr plus monatlichen Unterhalt - verzichtet, kann vom Ersparten Taxi fahren ohne Ende: in der Stadt oder im regionalen Nahverkehr einfach so, im Fernverkehr in Kombination mit Bahn oder Bus oder einem Mietwagen. So rechnet aber kaum jemand mit Autobesitz. Vielleicht ändert sich das - insbesondere bei den Jüngeren - bei zunehmendem Bewusstsein ökologischer (aber auch ökonomischer) Notwendigkeiten und anderen Statussymbolen. Fridays for Future lässt hoffen. Genauso krass wie das zeitliche Missverhältnis ist jenes von Fahrzeuggewicht zum Gewicht der durchschnittlich im Alltagsver- Internationales Verkehrswesen (71) 4 | 2019 13 Standpunkt POLITIK kehr transportierten 1,2 bis 1,3 Personen: SUVs wiegen leer 2,0 t bis 2,5 t , die 1,2 bis 1,3 Personen 100 kg bis 150 kg; im Verhältnis etwa 15 bis 20. Und SUVs machen einen wachsenden Marktanteil aus, wodurch technische Verbesserungen der Verbrennungsmotoren bezüglich CO 2 konterkariert werden. Im Gegensatz zu allen anderen Sektoren ist im Bereich Verkehr seit 1990 keine Reduktion der Treibhausgase erreicht worden. Zum Thema Geschwindigkeit kursiert in Brüssel ein Witz, wonach es weltweit nur zwei Länder ohne Tempolimit auf Autobahnen gibt: Deutschland und Afghanistan - und in Afghanistan gibt es keine Autobahnen. Zur Verkehrswende gehört natürlich auch Tempo 30 als Regellimit (mit Ausnahmen) in der Stadt. Beides würde über Sicherheit und entspanntes Fahren hinaus einen deutlichen Beitrag zur CO 2 -Minderung leisten - und das zum Nulltarif. Mobility as a Service: Autos nutzen statt besitzen oder multimodal unterwegs zu sein, wird dank Digitalisierung und Smartphone immer einfacher; so hat beispielsweise Carsharing, stationsgebunden oder „free-floating“, in den Städten seit Jahren zweistellige Zuwachsraten. Je verbreiteter das ist, desto einfacher und verlässlicher ist die per App angezeigte Verfügbarkeit von Fahrzeugen in unmittelbarer Nähe - das gilt jedenfalls für die Stadt, auf dem Land sieht das anders aus. Selbstfahrende Robotaxis braucht es in der Stadt eigentlich nicht; sie würden zwar die Anzahl abgestellter Fahrzeuge drastisch verringern, den fließenden Verkehr jedoch durch Leerfahrten erhöhen [8]. Anders ausgedrückt: Die durchschnittliche Besetzung eines PKW könnte unter 1 sinken, während wir andererseits versuchen, mit höherer Besetzung durch Ridesharing Autofahrten einzusparen. Die Reduzierung des ruhenden Autoverkehrs erreichen wir auch mit klassischem Carsharing, und das ohne mehr fließenden Autoverkehr - im Gegenteil: Carsharer nutzen als Basis den ÖPNV und die aktive Mobilität zu Fuß oder mit Fahrrad, in letzter Zeit auch vermehrt Tretroller und andere Mikro-Fahrzeuge für den „ersten und letzten Kilometer“. Damit sind wir bei der multimodalen Vernetzung aller Mobilitätsformen von der aktiven über die motorisierte bis hin zur virtuellen Mobilität angelangt - physisch durch Mobilitätshubs und Haltestellen und digital mit Smartphone und App. Die Digitalisierung verändert nicht nur unsere Verkehrswelt und unser Verkehrsverhalten, sondern auch unsere Lebens- und Arbeitswelten - vielleicht mit viel weiter gehenden Folgen für unsere Mobilität. Stichworte für das Beispiel Neuenheimer Feld mit den hohen Konzentrationen von Arbeitsplätzen, Studierenden, Patienten und Besuchern sind Home Office, e-Learning, Telemedizin, Online-Fernstudium, Video- Konferenzen - Technologie für einen virtuellen Campus als Ergänzung zum realen. Was macht all das mit unserem heutigen ÖPNV? Eines ist ziemlich sicher: In den großen Städten brauchen wir auch künftig einen leistungsfähigen, massentauglichen ÖPNV. So auch im Neuenheimer Feld, selbst wenn für Einige die physische Anwesenheit durch virtuelle ersetzt werden kann, und wenn aktive Mobilität zu Fuß oder mit dem Fahrrad noch mehr Lifestyle wird. Naheliegend für das Neuenheimer Feld ist die in Heidelberg gut vernetzte Straßenbahn, aber auch eine Seilbahn über den Neckar, wie in einem der Entwürfe vorgeschlagen. Entscheidend für die Entwicklung der Mobilität sind politische Weichenstellungen in Richtung Nachhaltigkeit, zum Beispiel bei heute völlig fehlender Kostenwahrheit der verschiedenen Verkehrssysteme - Autoverkehr kostet Kommunen das Dreifache des ÖPNV [9] - oder bei ebenso fehlender ökologisch orientierter Bepreisung des Verkehrsverhaltens [10]. Als Beispiel: Im Neuenheimer Feld gibt es noch nicht einmal eine lückenlose Parkraumbewirtschaftung, über die zurzeit noch fehlende Jobtickets für den ÖPNV finanziert könnten. Ein anderes, vielleicht symbolträchtiges Beispiel für die Dominanz des Autoverkehrs in Deutschland auch in Recht und Verordnungen: Schwarzparken ohne Parkschein im öffentlichen Raum kostet 10 EUR, Schwarzfahren im ÖPNV ohne Ticket kostet 60 EUR und zählt zudem als Straftat. Das Fazit: Die Mobilitäts- und Verkehrswende braucht neben Digitalisierung und Technik Verhaltensänderungen - und zu allem braucht es dringend politische Setzungen. ■ QUELLEN [1] Topp, Hartmut (2000): Verkehr 2042. Verkehrszeichen 16, Nr. 4 [2] Baecker, Dirk (2018): 4.0, oder Die Lücke, die der Rechner lässt. Merve Verlag [3] Scheuvens, Rudolf (2019): Campus der Zukunft: Städtebau und Freiraum. Vortrag in der Öffentlichkeitsveranstaltung „Die Stadt und ihre Orte für die Wissenschaft von morgen“ am 4. Juli 2019 in Heidelberg [4] Cody, Brian (2019): Campus der Zukunft: Technische Infrastruktur und Freiraum. Vortrag in der Öffentlichkeitsveranstaltung „Die Stadt und ihre Orte für die Wissenschaft von morgen“ am 4. Juli 2019 in Heidelberg [5] Kemen, Juliane (2019): Aktive Mobilität und Gesundheit. Gesundheitliche Auswirkungen des Arbeitsweges auf Berufstätige. Nachrichten der Akademie für Raumforschung und Landesplanung 49, Nr. 1 [6] Spiegel online (2018): Berliner Klinikum: Charité testet autonome Busse [7] Rothfuchs, Konrad; Engler, Philip (2018): Das öffentliche Interesse muss die Entwicklung bestimmen! Auswirkungen des autonomen Fahrens aus Sicht der Verkehrsplanung - einige Thesen und zahlreiche offene Fragen. Straßenverkehrstechnik 62, Nr. 8 [8] OECD - International Transport Forum (2015): Urban Mobility System Upgrade - How shared self-driving cars could change city traffic. [9] Saighani, Assadollah; Leonhäuser, Daniel; Sommer, Carsten (2017): Verfahren zur ökonomischen Bewertung städtischer Verkehrssysteme. Straßenverkehrstechnik 61, Nr. 10 [10] Holz-Rau, Christian; Mattioli, Giulio (2019): CO 2 -Steuer - Worüber streitet die Politik überhaupt? Internationales Verkehrswesen 71, Heft 3, S. 15-17 Hartmut Topp, Prof. Dr. topp.plan: Stadt.Verkehr.Moderation, Kaiserslautern topp.plan@t-online.de Blick über Altstadt und Neckar zum Neuenheimer Feld Foto: 4028mdk09 | Wikimedia | CC-BY-SA-3.0