Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2019-0080
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Touristische Beschilderung an deutschen Autobahnen
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Sven Groß
Christian Reinboth
Es gibt immer mehr sogenannte touristische Unterrichtungstafeln an deutschen Autobahnen. Diese sollen laut den Richtlinien für die touristische Beschilderung zur Unterrichtung über touristisch bedeutsame Ziele dienen und eine hinweisende Funktion haben. Ob sie jedoch tatsächlich von den Autofahrern wahrgenommen werden, ob sich Autofahrer an diese Schilder und die darauf abgebildeten Points of Interest (PoI) erinnern können und ob sie auch das Entscheidungsverhalten beeinflussen, wurde bisher nicht wissenschaftlich untersucht. Eine Online-Befragung liefert nun erstmals Hinweise zur Beantwortung dieser Fragen.
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Internationales Verkehrswesen (71) 4 | 2019 40 Touristische Beschilderung an deutschen Autobahnen Bedeutung der touristischen Unterrichtungstafeln Touristische Beschilderung, Unterrichtungstafeln, Wahrnehmung, Erinnerung, Entscheidungsverhalten, Autobahnen, Tourismus Es gibt immer mehr sogenannte touristische Unterrichtungstafeln an deutschen Autobahnen. Diese sollen laut den Richtlinien für die touristische Beschilderung zur Unterrichtung über touristisch bedeutsame Ziele dienen und eine hinweisende Funktion haben. Ob sie jedoch tatsächlich von den Autofahrern wahrgenommen werden, ob sich Autofahrer an diese Schilder und die darauf abgebildeten Points of Interest (PoI) erinnern können und ob sie auch das Entscheidungsverhalten beeinflussen, wurde bisher nicht wissenschaftlich untersucht. Eine Online-Befragung liefert nun erstmals Hinweise zur Beantwortung dieser Fragen. Sven Groß, Christian Reinboth M it Hilfe der touristischen Unterrichtungstafeln sollen Reisende an Autobahnen über Sehenswürdigkeiten, Städte und Landschaften (Points of Interest, PoI) informiert werden, an denen sie vorbeifahren. Die in Deutschland seit 1984 existierende Beschilderung ist in der Straßenverkehrsordnung und in den Richtlinien für touristische Beschilderung (Zeichen 386.3) geregelt [1]. Mit ihr wird auf Ziele hingewiesen, die entweder von der Autobahn aus sichtbar oder grundsätzlich nicht weiter als 10 km Luftlinie von einer Autobahnanschlussstelle entfernt sind. Typisch ist, dass die symbolischen Darstellungen von Tourismusattraktionen oder geographischen Foto: Karl-Heinz Laube/ pixelio PEER REVIEW - BEGUTACHTET Eingereicht: 12.09.2019 Endfassung: 07.10.2019 INFRASTRUKTUR Wissenschaft Internationales Verkehrswesen (71) 4 | 2019 41 Wissenschaft INFRASTRUKTUR Einheiten durch eine Bezeichnung ergänzt werden (Bild-1) [2]. Nach ausgiebiger Recherche und Auskunft verschiedener Institutionen gibt es für Deutschland bisher keine Studien speziell zu den touristischen Unterrichtungstafeln. Ziel dieser Untersuchung ist es daher, herauszufinden, inwiefern touristische Unterrichtungstafeln an deutschen Autobahnen von Reisenden wahrgenommen werden, inwieweit sie in Erinnerung bleiben und ob hieraus Entscheidungen resultieren. Hierzu wird bspw. untersucht, wieviele Autofahrer bereits mindestens einmal von der Autobahn abgefahren sind, um spontan einen abgebildeten PoI zu besuchen, welche Fahrtdauer sie hierfür in Kauf nehmen und ob sie einen der abgebildeten PoI schon einmal bewusst später aufgesucht haben. Forschungsstand In der wissenschaftlichen Literatur lassen sich verschiedene Zugänge zum Thema finden. Inhaltlicher Schwerpunkt ist die Beschilderung während der An- und Abreise, aber auch Flughäfen, Freizeiteinrichtungen, Hotels und Nationalparks sind Orte der Betrachtung. Thematisiert werden bspw. die Einflussfaktoren auf die Verständlichkeit von Beschilderung wie etwa Alter, Bildungsgrad, Fahrerfahrung oder Geschlecht [3, 4]. Aber auch das Fahrerblickverhalten [5], die Informationsaufnahme und die daraus abgeleitete Gestaltung von Wegweisern [6] werden betrachtet - so wurde u.a. untersucht, ob Texte oder Symbole auf Schildern verständlicher sind, welchen Einfluss Farben auf die Wahrnehmung haben oder wie viel Lesezeit für Schilder zur Verfügung steht. Tourismusbezogene Studien untersuchen u. a. die Wahrnehmung und Verständlichkeit von Straßenschildern bei (internationalen) Touristen [7, 8], oder ob Touristen in unbekannten Umgebungen Verkehrszeichen missverstehen und (unbewusst) gegen lokale Gesetze verstoßen [9]. Daneben existieren Studien, die touristische Informationsschilder auf ihre Verständlichkeit hin [10], auf die Zufriedenheit mit der Beschilderung [11], die Bedeutung im Marketing von Destinationen [1, 12] sowie die Beobachtung zur Wirksamkeit der Beschilderung [13] untersuchen. Auch gibt es Studien zur Bedeutung von Verkehrsschildern für den Informations- und Planungsprozess von Reisen. So wurde etwa am Beispiel Kanadas, der USA und Norwegens untersucht, inwiefern Schilder Motoristen dazu motivieren können, in der Region - zusätzlich zum eigentlichen Ziel - ungeplante Wege bzw. zusätzliche Aktivitäten in Kauf zu nehmen-[14]. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die (touristische) Beschilderung seit Jahren Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen ist, es bisher jedoch so gut wie keine Forschungsbeiträge zur Wahrnehmung, zum Entscheidungsverhalten und zur Erinnerung von (touristischen) Verkehrsschildern bei Autofahrern gibt. Definitorische und theoretische Grundlagen Kognitive Prozesse sind Denkvorgänge von Menschen, die als innere Ereignisse stattfinden (z. B. entscheiden, wahrnehmen) [15]. Nach der vorherrschenden Perspektive kognitiver Prozesse kann ein System, das zwischen Input-Reiz und Verhalten vermittelt, als informationsverarbeitendes System aufgefasst werden [16]. Die Wahrnehmung kann Gegenstände, Vorgänge und Beziehungen umfassen und wird mit den Sinnesorganen aufgenommen. „Wahrnehmung ist ein Prozess der Informationsverarbeitung: Durch diesen Prozess werden sowohl aufgenommene Umweltreize als auch innere Signale entschlüsselt. Sie bekommen dadurch einen Sinn (Informationsgehalt) für das Individuum und werden zusammen mit anderen Informationen zu einem inneren Bild der Umwelt und der eigenen Person verarbeitet.“ [17] Unter dem Begriff Gedächtnis bezeichnet der Informationsverarbeitungsansatz die Fähigkeit eines Organismus, Informationen aufzunehmen, zu speichern und bei Bedarf wieder abzurufen [15]. Die Fähigkeit, Informationen später wieder zu nutzen, setzt voraus, dass drei geistige Prozesse ablaufen: Enkodieren (Repräsentation im Gedächtnis), Behalten (Aufrechterhalten enkodierter Informationen über eine gewisse Zeitspanne) und Erinnern (Wiedergewinnung gespeicherter Informationen zum späteren Zeitpunkt) [18]. Gegenwärtig werden mehrere Gedächtnismodelle unterschieden, wobei sich die Unterscheidung zwischen kurzfristigem (Arbeitsgedächtnis) und langfristigem Behalten etabliert hat [19]. Das Langzeitgedächtnis wird wiederum nach verschiedenen Arten von gespeicherten Inhalten unterschieden. Auf der einen Seite stehen die Speicherung erworbener Strukturen zur Steuerung körperlichen und sprachlichen Verhaltens (prozedurales Gedächtnis, v.a. Verhaltensroutinen) und die daraus abgeleiteten konzeptuellen Strukturen (semantisches Gedächtnis, verbalisierbares Wissen über die Welt). Auf der anderen Seite steht die Speicherung der erlebten Ereignisse in ihrer raum-zeitlichen Verankerung im episodischen Gedächtnis (persönliche Erlebnisse). Beim episodischen Erinnern sind immer der spezielle Bezug zum Selbst, das spezielle phänomenale Wiedererleben und die zeitliche Einordnung gegeben [20]. Eine Entscheidung ist ein kognitiver „(…) Prozess des Wählens zwischen Alternativen, der Auswahl bestimmter Alternativen und die Zurückweisung anderer Möglichkeiten.“ [15] Entscheidungen sind als Prozesse angelegt und äußern sich durch Handlungen in der Realität [21]. Das Entscheidungsverhalten wird danach differenziert, in welchem Ausmaß es kognitiv kontrolliert wird (Tabelle 1). Während habitualisiertes Verhalten das alltägliche Verhalten betrifft, sind impulsive Entscheidungen durch rasches Handeln geprägt, die ungeplant sind und gedanklich kaum kontrolliert werden (Intuitivent- Bild 1: Beispiel für eine an Autobahnen der Bundesrepublik Deutschland aufgestellte Unterrichtungstafel Foto: pixabay Internationales Verkehrswesen (71) 4 | 2019 42 INFRASTRUKTUR Wissenschaft scheidungen) [22]. Extensives Entscheidungsverhalten („echte Entscheidungen“), wird mit umfassenden, zum Großteil bewusst ablaufenden Problemlösungsprozessen umschrieben. Letztlich liegen bei limitierten Entscheidungen bereits Erfahrungen vor, aus denen mehr oder minder festgefügte Entscheidungskriterien resultieren-[23]. Die vorliegende Studie konzentriert sich auf die visuelle Wahrnehmung und das episodische Gedächtnis. Im Fokus stehen dabei das Erinnern (also die Wiedergewinnung gespeicherter Informationen über die Unterrichtungstafeln) sowie das Verhalten (also kognitive Entscheidungen, v. a. die impulsive Entscheidung, spontan aufgrund einer Tafel von der Autobahn abzufahren). Daneben sind auch das extensive Entscheidungsverhalten (z. B. bei Zukunftsplänen) und limitierte Entscheidungen (z. B. bei Wiederholungsbesuchen) relevant. Methodische Grundlagen Für die vorliegende Untersuchung wurde zwischen dem 21. und dem 28. Juni 2019 eine Online-Befragung über ein Panel der respondi AG durchgeführt. Zur Grundgesamtheit zählen deutschsprachige, in Privathaushalten lebende Internetnutzer zwischen 18 und 75 Jahren, die PKW, Motorrad und/ oder Wohnmobil regelmäßig oder gelegentlich privat verwenden oder Beifahrer sind und die in den letzten zwölf Monaten auf deutschen Autobahnen unterwegs waren. Laut Onlinestudie von ARD/ ZDF verfügten 63,3 Mio. Deutsche (76,5 %) im Jahr 2018 über einen eigenen Internetzugang, 53,2 Mio. Deutsche nutzen das Internet täglich [25]. Im Jahr 2018 gab es in Deutschland 41,37 Mio. private Haushalte [26], 78,4 % aller Personen verfügten im Jahr 2017 über einen PKW [27]. Somit gibt es ca. 32,4 Mio. Haushalte in Deutschland, die auf einen privaten PKW zugreifen können. Die Stichprobe ist unter den nachfolgend beschriebenen Einschränkungen einer quotierten Online-Stichprobe repräsentativ (Konfidenzniveau: 95 %, Fehlerspanne: 3 %) für die deutschen Internetnutzer, denen ein PKW im Haushalt zur Verfügung steht (n = 1.100). Als Merkmale für die Stichprobenkonstruktion wurden das Alter, das Geschlecht und die Herkunft (Nielsen-Region) verwendet. Bei einer solchen Quotenstichprobe wird versucht, eine Repräsentativität herzustellen, indem man die Stichprobe auf der Basis von Quoten konstruiert, mit denen man bekannte Merkmalsverteilungen in der Grundgesamtheit nachbildet. Die grundlegende Annahme ist, dass eine Stichprobe, die bekannte Merkmalsverteilungen im korrekten Verhältnis wiedergibt, auch für unbekannte Merkmalsverteilungen repräsentativ sein sollte. Diese Annahme ist in der wissenschaftlichen Diskussion umstritten. Da nur Personen mit Internetzugang an der Befragung teilnehmen konnten und hiervon wiederum nur Personen, die Mitglieder des Panels sind, könnten bestimmte Einkommensschichten, Berufsgruppen o. ä. über- oder unterrepräsentiert sein. Als wesentliches Argument für die Repräsentativität solcher Stichproben wird angeführt, dass sie sich in der Praxis vielfach bewährt haben und wirtschaftlicher und schneller als Zufallsauswahlen sind. Im vorliegenden Fall musste eine quotierte Stichprobe genutzt werden, da kein vollständiges Verzeichnis der Grundgesamtheit existiert, das für die Realisation einer echten Zufallsauswahl zur Verfügung gestanden hätte. Weitere Nachteile solcher Auswahlen sind in der Literatur beschrieben, wie bspw. die Paneleffekte [28]. Die Interpretation der Ergebnisse hat unter Berücksichtigung dieser Einschränkungen zu erfolgen. Ergebnisdarstellung Zunächst werden Ergebnisse zur Wahrnehmung und Erinnerung dargestellt, um anschließend auf Entscheidungsverhalten, Zufriedenheit mit den touristischen Unterrichtungstafeln und Wünsche für deren Weiterentwicklung einzugehen. Wahrnehmung So gut wie alle Probanden geben an, dass sie die touristischen Unterrichtungstafeln entweder als Fahrer und/ oder Beifahrer auf deutschen Autobahnen wahrnehmen (Tabelle 2). Fahrer nehmen die Unterrichtungstafeln etwas häufiger wahr als Beifahrer, dafür geben etwas mehr Fahrer als Beifahrer an, dass sie die Schilder gleich wieder vergessen. Sofern Unterrichtungstafeln wahrgenommen werden, kann man sich hierüber mit (ggf. vorhandenen) Mitfahrern austauschen. Mehr als zwei von drei Personen (70,2 %) haben sich bereits mindestens einmal mit Art der Entscheidung Dominante Prozesse emotional kognitiv reaktiv extensiv ● ● limitiert ● habitualisiert ● impulsiv ● ● Tabelle 1: Dominante psychische Prozesse beim Entscheidungsverhalten (kognitiv: gedankliche Steuerung der Entscheidung; emotional: Aktivierung, v.a. bei biologisch programmierten Emotionen) bzw. Interpretation der inneren Erregung; reaktiv: automatische Reagieren in der Handlungssituation) Quelle: [24] Wahrnehmung in Prozent Wahrnehmung in Prozent Ja, immer als Fahrer 28,2 % Ja, immer als Beifahrer 28,9 % Ja, meistens als Fahrer 35,7 % Ja, meistens als Beifahrer 25,5 % Ja, vereinzelt als Fahrer 16,4 % Ja, vereinzelt als Beifahrer 11,8 % Ja, als Fahrer, vergesse sie aber gleich wieder 9,4 % Ja, als Beifahrer, vergesse sie aber gleich wieder 4,0 % Nein, nehme sie nicht wahr 4,0 % Tabelle 2: Wahrnehmung der Unterrichtungstafeln (Mehrfachnennungen; n = 1.100) Austausch in Prozent Austausch in Prozent Ja, häufig während der Fahrt 30,7 % Ja, nach der Fahrt 2,2 % Ja, selten während der Fahrt 32,4 % Nein, da ich (fast) ausschließlich alleine unterwegs bin 9,1 % Ja, bisher erst einmal während der Fahrt 4,9 % Nein, das ist bisher kein Thema gewesen 20,7 % Tabelle 3: Austausch zu touristischen Unterrichtungstafeln mit Mitfahrern (n = 1.100) Internationales Verkehrswesen (71) 4 | 2019 43 Wissenschaft INFRASTRUKTUR Mitfahrern ausgetauscht, fast jeder Dritte (30,7 %) tauscht sich sogar häufig aus (Tabelle 3). Erinnerung Zwei von drei Personen (66,4 %) geben an, dass sie sich an touristische Unterrichtungstafeln und die darauf abgebildeten PoI erinnern können, wobei fast jedem Vierten (23,1 %) sofort Beispiele einfallen. Die Mehrheit derjenigen, die sich generell an Unterrichtungstafeln erinnern können, gibt an, sich an zwei bis drei Schilder erinnern zu können (59,6 %). Nur wenige Probanden können sich an mehr als fünf (sechs bis zehn Schilder (2,7 %) bzw. zehn Schilder (1,5 %) erinnern. Für die Frage, ob sich die Probanden überhaupt, d.h. sofort, mit längerem Nachdenken oder gar nicht, an Unterrichtungstafeln erinnern können, spielt offenbar die Nutzungshäufigkeit der Autobahn eine Rolle. Führt man einen Chi-Quadrat-Test (χ 2 -Test) 1 auf stochastische Unabhängigkeit durch, wird das Ergebnis mit p <.001 signifikant. Somit kann davon ausgegangen werden, dass die beiden Eigenschaften „Häufigkeit der Autobahnnutzung“ und „Erinnerung an touristische Unterrichtungstafeln“ nicht stochastisch unabhängig voneinander sind. Ein Zusammenhang zwischen der auf der Autobahn verbrachten Zeit und dem Vermögen, sich an die Unterrichtungstafeln zu erinnern, ist zu vermuten (χ 2 (10, N = 1.100) = 34,878, p < .001). Dies lässt sich ggf. auf die Lerntheorie des verzögerten Vergessens zurückführen, nach der ein Stimulus bei Wiederholung langsamer in Vergessenheit gerät, was auch für „für das Lernen von informativen (nicht von emotionalen) Werbebotschaften gilt“ ([17]: 456). Innerhalb der Gruppe der Probanden, die sich an wenigstens ein Schild erinnern können, lässt sich kein weiterer Zusammenhang zwischen der Nutzungsintensität der Autobahn und der konkreten Anzahl erinnerter Schilder konstatieren (χ 2 -Test auf stochastische Unabhängigkeit (10, N = 730) = 10,459, p = .401). Entscheidungsverhalten Viele Akteure wünschen sich, dass mit Hilfe der touristischen Unterrichtungstafeln mehr Besucher zu den jeweiligen PoI gelockt werden. Es ist daher von Interesse, ob und wie die Unterrichtungstafeln das Entscheidungsverhalten beeinflussen. Spontanes Verhalten Knapp jeder sechste Befragte (17,1 %) ist bereits mindestens einmal aufgrund einer touristischen Unterrichtungstafel spontan von einer Autobahn abgefahren, um den abgebildeten PoI zu besuchen. Der Großteil dieser Befragten hat innerhalb des letzten Jahres mindestens einen solchen Spontanbesuch durchgeführt (87,2 %). Im Durchschnitt wurde 1,9 mal (sd 2,2, bereinigt um einen Ausreißer) 2 ein abgebildeter PoI aufgesucht - somit sind wenige Besuche pro Jahr festzuhalten. Untersucht wurde auch die Möglichkeit eines Zusammenhangs zwischen dem Erinnerungsvermögen und einer spontanen Autobahnabfahrt. Hierfür wurde ein χ 2 - Test auf stochastische Unabhängigkeit durchgeführt, der zu einem signifikanten Ergebnis führte (χ 2 (2, N = 695) = 41,448, p > .001). Es darf daher davon ausgegangen werden, dass beide Variablen nicht unabhängig voneinander sind. Als Erklärung dieses Effekts bieten sich verschiedene Ansätze an. So könnte etwa eine bessere Wahrnehmung der Schilder eine höhere Abfahrtsbereitschaft begünstigen, bereits erfolgte Ausflüge könnten die zukünftige Wahrnehmung der Schilder verbessern oder die steigende Schilderdichte könnte sowohl zu mehr Abfahrten als auch zu einer höheren Wiedererkennungsrate beitragen. Ob einer der Erklärungsansätze zutrifft, bleibt weiteren Untersuchungen vorbehalten. Bei der maximal in Kauf genommenen Fahrtdauer fällt auf, dass zwei von drei Probanden (65,4 %) bereit sind, bis zu 30 Minuten aufzuwenden. Nur wenige Probanden würden längere Fahrtzeiten in Kauf nehmen (Tabelle 4). Neben einer spontanen Abfahrt können die abgebildeten PoI auch bewusst später besucht worden bzw. es könnte die Absicht entstanden sein, sie zukünftig aufzusuchen. Während fast jeder Zehnte (8,9 %) angibt, bereits mindestens einmal unmittelbar auf der Rückfahrt einen zuvor auf einer Unterrichtungstafel wahrgenommen PoI besucht zu haben, gibt etwas mehr als ein Drittel (35,5 %) an, einen PoI zu einem späteren Zeitpunkt aufgesucht zu haben. Das Potential für zukünftige Besuche ist relativ hoch: Nahezu zwei von drei Probanden können sich den zukünftigen Besuch eines PoI vorstellen. Es muss jedoch berücksichtigt werden, dass die meisten Befragten mit „ja, eventuell“ (38,3 %) und „ja, wahrscheinlich“ (17,8 %) antworten. Ein Teil (6,2 %) ist sich jedoch „ganz sicher“, dass sie in Zukunft eine auf einer touristischen Unterrichtungstafel abgebildete Sehenswürdigkeit, Stadt oder Landschaft besuchen wollen. „Nein, eher nicht“ geben 30,8 %, „nein, ganz sicher nicht“ 6,9 % an. Zufriedenheit und Wünsche für die Zukunft Die meisten Befragten sind mit dem Angebot der touristischen Unterrichtungstafeln auf den deutschen Autobahnen „zufrieden“ (51,6 %) oder „sehr zufrieden“ (13,7 %), die Gesamtzufriedenheit liegt bei 2,26 (sd 0,767) (Tabelle 5). Es fällt jedoch auf, dass die Zustimmung bei der Frage nach der Wichtigkeit der Tafeln weniger stark ausfällt. Die Angaben verschieben sich in Richtung „teils/ teils“ bis „(sehr) unwichtig“ bei einem Mittelwert von 2,58 (sd 1,011). Fahrtdauer in Prozent Fahrtdauer in Prozent bis 10 min 8,0 % bis 50 min 3,7 % bis 20 min 29,2 % bis 60 min 14,4 % bis 30 min 28,2 % 1 h und mehr 14,9 % bis 40 min 1,6 % Tabelle 4: Späterer Besuch von abgebildeten PoI ; maximale Fahrtdauer (ungefähr), um PoI spontan aufzusuchen (n = 188) Zufriedenheit in Prozent Wichtigkeit in Prozent sehr zufrieden 13,7 % sehr wichtig 12,6 % zufrieden 51,6 % wichtig 38,2 % teils/ teils 30,7 % teils/ teils 32,9 % unzufrieden 2,8 % unwichtig 11,3 % sehr unzufrieden 1,1 % sehr unwichtig 5,0 % Tabelle 5: Zufriedenheit mit den und Wichtigkeit der Unterrichtungstafeln (n = 1.100) Internationales Verkehrswesen (71) 4 | 2019 44 INFRASTRUKTUR Wissenschaft Neben Zufriedenheit und Wichtigkeit wurde auch untersucht, ob die Anzahl der der touristischen Unterrichtungstafeln in Deutschland aus Sicht der Befragten erhöht, gesenkt oder gleichbleiben soll. Die Mehrheit (51,1 %) spricht sich dafür aus, die Gesamtzahl an Schildern auf dem aktuellen Niveau beizubehalten, 40,1 % plädieren für eine Erhöhung der Gesamtzahl. Nur aus Sicht von knapp jedem Elften (8,8 %) sollte die Gesamtzahl reduziert werden. Die am Ende der Erhebung abgefragten acht Ideen zur Weiterentwicklung der Unterrichtungstafeln, können in drei Gruppen unterteilt werden. Die erste Gruppe umfasst zwei Vorschläge, die in direktem Zusammenhang mit den Schildern an sich stehen (Bild 2). Hierbei geht es um die Ergänzung der Entfernung bis zum PoI (in km) und um die Nennung der korrespondierenden Ausfahrt. Der zweiten Gruppe können drei Ideen zugeordnet werden: Zwei technologische Entwicklungen (Internetplattform und App mit Informationen zu PoI) als Zusatzangebote sowie die Zweisprachigkeit der Schilder. Diese werden als mittelinteressant und -wichtig bewertet. Drei weitere Vorschläge werden als weniger interessant und weniger wichtig eingeschätzt: ein individuelleres Design, eine Überarbeitung der Farbgestaltung und eine Beschränkung auf öffentliche Einrichtungen. Fazit Zunächst ist festzuhalten, dass die Unterrichtungstafeln von so gut wie allen Probanden wahrgenommen werden und den meisten zumindest teilweise in Erinnerung bleiben. Daneben sind bei der Mehrheit Verhaltensauswirkungen zu konstatieren. Wie vermutet, wird ein PoI aufgrund einer Unterrichtungstafel eher im Nachhinein bei der Rückfahrt bzw. weiteren Reisen aufgesucht oder als Inspiration genutzt, d. h. die Wirkungen sind eher zeitversetzt. Dies steht im Einklang mit den Untersuchungen von Pringle [29] und Saha [30], die folgendes herausgefunden haben: Besucher verwenden während einer Reise selten Beschilderungen, um Entscheidungen über Attraktionen, Aktivitäten und zu besuchende Orte spontan zu treffen. Ein Vergleich mit den weiteren beim Forschungsstand aufgezeigten Studien kann nicht getätigt werden, da diese andere inhaltliche Schwerpunkte haben. Die Schilder sind zwar - bei einem zeitversetzten Besuch eines auf einer touristischen Unterrichtungstafel abgebildeten PoI - nicht immer alleiniger Auslöser für Besuche, aber einer von mehreren Faktoren. Ein Austausch über Unterrichtungstafeln während der Fahrt findet vergleichsweise häufig statt. Aufgrund dessen ist zu vermuten, dass Entscheidungen zum (spontanen oder späteren) Aufsuchen eines PoI häufig nicht allein getroffen werden. Diese Frage wurde nicht explizit untersucht, es gibt jedoch mehrere Studien, die auf die wichtige Rolle von (Ehe-Partnern) und Familienmitgliedern eingehen [31]. Aufbauend auf den Ergebnissen können praktische Empfehlungen abgeleitet werden. Die Probanden nehmen die Unterrichtungstafeln wahr und können sich an sie erinnern, zudem tragen diese zu Verhaltenswirkungen bei. Wenn also dort, wo Touristen ihre Entscheidungen treffen (z. B. zu Hause via Internet, Broschüren usw.), zuvor wahrgenommene Motive - sei es durch Skizzen, Zeichnungen oder Bilder - wieder anzutreffen sind, darf davon ausgegangen werden, dass sie sich mehrheitlich an diese Motive erinnern werden. Bei den beobachteten Gedächtniseffekten ist nicht davon auszugehen, dass die befragten Personen die Schilder besonders beachtet oder gar im Vorbeifahren die Absicht gehabt hätten, sich diese zu merken. Sie dürften daher eher beiläufig und unterhalb der Aufmerksamkeitsschwelle „encodiert“ worden sein. Dies steht im Einklang mit einer Reihe von Ergebnissen aus der Werbewirkungsforschung, wonach Werbung auch dann einen Effekt hat, wenn sie beiläufig und unbewusst wahrgenommen wird [18]. Touristischen Entscheidern kann daher empfohlen werden, die Visuals auf den Unterrichtungstafeln in Marketingmaßnahmen zu integrieren. Eine zukünftige Weiterentwicklung der Unterrichtungstafeln könnte in ihrer Verknüpfung mit technologischen Komponenten und damit in der Digitalisierung liegen. So wäre es möglich, eine Internetplattform und/ oder App mit Informationen, Fotos, Links usw. zu den einzelnen PoI zu entwickeln. Eine App könnte beim Vorbeifahren - bei entsprechender Einstellung auf dem Smartphone - automatisch Informationen zum PoI aus- Skala: 1 = sehr uninteressant, 2 = uninteressant, 3 = teils/ teils, 4 = interessant, 5 = sehr interessant; 1 = sehr unwichtig, 2 = unwichtig, 3 = teils/ teils, 4 = wichtig, 5 = sehr wichtig Vorschlag Interesse Wichtigkeit A Ergänzung der Entfernung bis zum PoI (km- Angabe) 4,16 3,96 B Nennung der Ausfahrt, um PoI aufsuchen zu können 4,10 3,91 C Schilder mit deutscher und englischer Sprache 3,36 3,27 D Ermöglichung eines individuelleren Designs (z.B. Farbwahl, Gestaltung) 3,14 2,85 E Überarbeitung der Farbgestaltung 3,08 2,83 F Internetplattform mit Infos, Fotos, Links usw. zu den einzelnen PoI 3,66 3,29 G App mit Infos, Fotos, Links usw. zu den einzelnen PoI 3,48 3,18 H Abbildung von nur noch öffentlichen PoI auf Schildern 3,07 2,79 Gesamtdurchschnitt 3,50 3,26 Bild 2: Vorschläge für die Weiterentwicklung der Unterrichtungstafeln Internationales Verkehrswesen (71) 4 | 2019 45 Wissenschaft INFRASTRUKTUR geben. Aber auch GPS-basierte Sammelaktionen von Schildern und damit verbundene Auszeichnungen wären denkbar - in Wandergebieten gibt es bereits ähnliche Angebote [32]. Diesen Ansatz greift eine App der Firma Maqnify auf, mit der u.a. Audio-Beiträge zu allen Unterrichtungstafeln in Baden-Württemberg angehört und weiterführende Links und Informationen aufgerufen werden können (www.erlebnis-guide.info). ■ 1 Beim Chi-Quadrat-Test auf stochastische Unabhängigkeit werden zwei Merkmale (wie etwa die Zugehörigkeit zu einer Alterskohorte und der PKW-Besitz) auf ihre stochastische Unabhängigkeit geprüft. Hierzu werden die real beobachteten Häufigkeiten mit den zu erwartenden Häufigkeiten bei völliger Unabhängigkeit der Merkmale verglichen. 2 sd = Standardabweichung (Standard Deviation), ein statistisches Maß für die Streuung eines Merkmals um das Zentrum einer Verteilung. LITERATUR [1] Steinecke, A. (2013): Management und Marketing im Kulturtourismus: Basiswissen - Praxisbeispiele - Checklisten, Wiesbaden [2] Forschungsgesellschaft Straßen- und Verkehrswesen (Hrsg.) (2008): Richtlinien für die touristische Beschilderung (RtB), Köln [3] Färber, B.; Färber, B.; Siegener, W.; Süther, B. 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