eJournals Internationales Verkehrswesen 71/4

Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2019-0087
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Nicht vor meiner Haustür

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Sebastian Beck
Olivia Franz
Die Verkehrssituation in deutschen Großstädten fordert neue Lösungsansätze. Die Erschließung einer neuen Ebene durch die urbane Seilschwebebahn ist eine Möglichkeit, doch ein Großteil der Bevölkerung fürchtet um die Privatsphäre. Das zeigte eine wissenschaftliche Umfrage an der Hochschule für Technik in Stuttgart im Rahmen des Studiengangs Infrastrukturmanagement.
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Internationales Verkehrswesen (71) 4 | 2019 70 Nicht vor meiner Haustür Akzeptanzprobleme im Hinblick auf den Einsatz urbaner Seilbahnen im öffentlichen Personennahverkehr Bürgerbeteiligung, Gesellschaftliche Akzeptanz, Verkehrssystem Die Verkehrssituation in deutschen Großstädten fordert neue Lösungsansätze. Die Erschließung einer neuen Ebene durch die urbane Seilschwebebahn ist eine Möglichkeit, doch ein Großteil der Bevölkerung fürchtet um die Privatsphäre. Das zeigte eine wissenschaftliche Umfrage an der Hochschule für Technik in Stuttgart im Rahmen des Studiengangs Infrastrukturmanagement. Sebastian Beck, Olivia Franz S eit mindestens zehn Jahren wachsen deutsche Großstädte und deren umliegende Regionen stetig. Das Städtewachstum geschieht zulasten des verbleibenden urbanen Raums. Gleichzeitig steigen der Bedarf und der Wunsch nach einem umwelt- und klimafreundlichen Mobilitätsangebot. Ein Ausbzw. Neubau verkehrlicher Infrastrukturen ist in den verbauten Innenstädten jedoch kaum mehr zu realisieren oder scheitert an den hohen Investitionskosten. Eine Lösung, um das bestehende Verkehrsnetz zu optimieren und anzupassen, ist daher die Erschließung einer neuen Verkehrsebene durch die urbane Seilschwebebahn. Viele Menschen assoziieren mit Seilbahnen ausschließlich die Erschließung von Wintersportgebieten und Touristenattraktionen. Dabei bietet die Technologie gerade im städtischen Kontext weitaus mehr Potenziale als allein die Nutzung zu Freizeitzwecken. Ein großer Vorteil urbaner Seilschwebebahnen ist durch ihre Bauweise und die technische Funktionsweise begründet, da sie in erhöhter Ebene auf einer eigenständigen und separaten Fahrtrasse verkehren und somit eine direkte und zeitnahe Verbindung zwischen zwei Stationen ermöglichen. Entsprechend sind Seilschwebebahnen nicht an die Gegebenheiten der Topographie und des Stadtgrundrisses gebunden und können sowohl natürliche als auch bauliche Hindernisse mühelos überwinden. Der Einsatz einer urbanen Seilschwebebahn ist auch dann sinnvoll, wenn das konventionelle ÖPNV-Angebot nicht ausreicht, die Bedürfnisse der Bürger zu decken oder wenn kein Raum und keine finanziellen Línea Plateada in La Paz. Foto: Doppelmayr/ Garaventa MOBILITÄT Urbane Seilbahnen Internationales Verkehrswesen (71) 4 | 2019 71 Urbane Seilbahnen MOBILITÄT Mittel für den Ausbau bestehender Verkehrsträger zur Verfügung stehen. Hierbei gelten urbane Seilbahnen nicht als Verkehrsmittel des übergeordneten Verkehrs, sondern dienen als ergänzendes Verkehrsmittel im Verkehrssystem. In Kombination mit verschiedenen Verkehrsmitteln können durch den Einsatz urbaner Seilschwebebahnen bestehende Lücken im Verkehrsnetz geschlossen werden. Außerdem dient das Verkehrsmittel als Verbindungsglied zwischen dicht besiedelten Gebieten und kann zu einer Entlastung der Strecken mit hohem Verkehrsaufkommen führen. Ökologische Bedeutung Auch unter Anbetracht ökologischer Gesichtspunkte stellt der Einsatz urbaner Seilbahnsysteme eine nachhaltige Lösungsmöglichkeit dar. Aufgrund der technischen Konstruktion und einer energieeffizienten Antriebstechnik besitzen Seilschwebebahnen auch bei hoher Förderleistung einen geringeren Energiebedarf als beispielsweise Omnibusse im öffentlichen Personennahverkehr. Außerdem werden durch den Systembetrieb mit elektrischem Strom aus regenerativen Energien weitaus weniger Schadstoffemissionen erzeugt. 1 Seilbahnprojekte auf internationaler Ebene Seilbahnsysteme wurden bereits mehrfach erfolgreich in den städtischen Kontext integriert. Zu den bekanntesten Beispielen zählen hierbei die Seilschwebebahnen in Caracas - Venezuela und La Paz - Bolivien. Das Seilbahnsystem in La Paz (siehe großes Bild) umfasst derzeit zehn Seilbahnlinien und gehört mit einer Gesamtlänge von etwa 30 Kilometern zum größten städtischen Seilbahnnetz der Welt. Das Seilbahnsystem wurde vollständig in den öffentlichen Nahverkehr integriert und bedient wichtige Knotenpunkte im Ballungsraum von La Paz und der Satellitenstadt El Alto. Hierbei handelt es sich um das erste städtische Verkehrsnetz der Welt, in dem Seilbahnen als primäres Verkehrsmittel eingesetzt und genutzt werden. In Deutschland noch Skepsis Obwohl das Thema und der Einsatz der Seilschwebebahn in den letzten Jahrzehnten auch in Deutschland vermehrt diskutiert und untersucht wurde, hat eine direkte Übernahme des Verkehrsmittels in das bestehende Verkehrssystem deutscher Großstädte bisher nicht stattgefunden. In jüngster Vergangenheit wurde der Einsatz einer urbanen Seilschwebebahn für die Stadt Wuppertal im Bundesland Nordrhein-Westfalen untersucht. Durch das zusätzliche Verkehrsmittel im System sollte die Anbindung an die Universität sowie zum zugehörigen Wohngebiet verbessert werden. Bereits seit dem Jahr 2012 wurde das Projekt im Gemeinderat thematisiert. Erst im Mai dieses Jahres wurde eine endgültige Entscheidung in Form einer Bürgerbefragung erwirkt. Hierbei haben sich etwa 62 % der Befragten gegen die Realisierung einer Seilschwebebahn ausgesprochen. An diesem Punkt stellt sich die Frage, warum Seilschwebebahnen trotz technischer Wirksamkeit und erprobter Funktionsweise im deutschen Raum keine Anwendung als Personenbeförderungsmittel finden. Gesellschaftliche Akzeptanz als wichtiger Erfolgsfaktor Wie das Beispiel in Wuppertal zeigt, können Bürgerinitiativen, die sich gegen das Projekt aussprechen, die Planung und letztlich auch die Realisierung einer Seilbahn negativ beeinflussen. Die Skepsis gegenüber neuen und ungewohnten Situationen ist unter anderem durch die gesellschaftliche Organisation in Deutschland begründet. Bei der Entscheidungsfindung in einer pluralistischen Ordnung nach demokratischen Prinzipien sind in der Regel mehrere Akteure involviert, die jeweils unterschiedliche Ansichten vertreten. Hierbei besteht hohe Bereitschaft sich sowohl für, aber auch gegen ein Projekt auszusprechen. Entsprechend sind Ablehnung und Skepsis bei der Einführung neuer Sachverhalte nicht auszuschließen. Auch aktuelle Negativ-Beispiele von Infrastrukturvorhaben tragen dazu bei, die Bedenken und Zweifel der Bevölkerung gegenüber Bauprojekten weiter zu verfestigen. Die Akzeptanz gegenüber einer Neuerung ist demzufolge von der Auffassung der Nutzer abhängig. 2 Vor diesem Hintergrund gilt die gesellschaftliche Akzeptanz als ein wichtiger Erfolgsfaktor für die Integration eines neuen Verkehrsmittels im Personennahverkehr. Befragung im Raum Stuttgart Um mögliche Faktoren zu identifizieren, welche die Akzeptanz der Bevölkerung beeinflussen, und um grundsätzlich ein Meinungsbild über das Thema zu erhalten, wurde eine Befragung im Hinblick auf den Einsatz urbaner Seilschwebebanen in Deutschland durchgeführt. Hierfür wurden im Mai 2019 mehr als 180 Personen in Form einer repräsentativen Stichprobe im Alter von 18 bis 80 Jahren im Raum Stuttgart befragt. Im Durchschnitt nutzen die Befragten den öffentlichen Personennahverkehr an 3,5 Tagen in der Woche. Mit 58,1 % nutzt mehr als die Hälfte der Teilnehmer den ÖPNV häufig bis sehr häufig. 28,7 % nutzen diesen selten bis nie. Diese relativ ausgeglichene Verteilung spricht dafür, dass sehr unterschiedliche Bevölkerungsgruppen über die Befragung erfasst wurden. Bild 1: Die Mehrzahl der Umfrageteilnehmer würden eine urbane Seilbahn tendenziell nutzen. Bild 2: Es bestehen einige Vorbehalte gegenüber Seilbahnen im direkten Umfeld. Internationales Verkehrswesen (71) 4 | 2019 72 MOBILITÄT Urbane Seilbahnen Privatsphäre- und Sicherheitsbedenken Etwa 80 % der Umfrageteilnehmer würden eine urbane Seilbahn tendenziell nutzen (Bild 1). Trotz dieser generellen Nutzungsbereitschaft von Seiten der Bevölkerung, weisen die Ergebnisse der Auswertung eindeutig darauf hin, dass die Mehrheit eine Einschränkung ihrer Privatsphäre befürchtet, sofern eine Seilbahnanlage in direkter Nähe zum persönlichen Umfeld realisiert würde. Etwa 74 % der Personen vermuten eine teilweise bis vollständige Einschränkung ihrer Person (siehe Bild 2) Ein entsprechend ähnlicher Prozentsatz ergibt sich bei der Frage hinsichtlich des Trassenverlaufs der Seilbahn. Etwa 77 % der Personen geben an, dass eine Seilbahntrasse nicht in direkter Nähe zu ihrem persönlichen Wohnumfeld verlaufen soll. Not in my Backyard Grundsätzlich kann festgestellt werden, dass die Bevölkerung der Umsetzung und Nutzung einer urbanen Seilbahnanlage durchaus positiv gegenübersteht. Jedoch möchte niemand direkt von den Auswirkungen betroffen sein, die mit einer Implementierung der Anlage einhergehen. Man spricht in diesem Fall von einem sogenannten Not-In-My-Backyard-Syndrom, im deutschen Raum auch als Sankt-Florian- Prinzip bekannt. Mögliche Einsatzszenarien Etwa 83 % der befragten Personen können sich den Einsatz urbaner Seilbahnen in deutschen Großstädten vorstellen. Auch die Erschließung von peripher gelegenen Stadtteilen über eine urbane Seilbahn erscheint mit etwa 70 % durchaus als realistisch. Zudem erachten etwa 63 % der befragten Personen den Einsatz urbaner Seilbahnen im Rahmen verschiedener Großveranstaltungen und Events als sinnvoll (Tabelle 1). Dieses Einsatzszenario bietet zudem die Möglichkeit, den Betrieb und die Nutzung einer urbanen Seilbahnanlage für eine festgelegte Zeitdauer zu testen und mögliche Nutzer im Hinblick auf dieses Thema zu sensibilisieren. Fazit Generell lässt sich festhalten, dass die Hemmnisse zur Umsetzung urbaner Seilbahnanlagen in Deutschland weniger technisch begründet sind, sondern dass eine fristgerechte und problemlose Realisierung in erster Linie durch die Akzeptanz von Seiten der Bevölkerung bestimmt wird. Ob eine urbane Seilschwebebahn als vollwertiges Verkehrsmittel im Personennahverkehr akzeptiert und schließlich auch genutzt wird, ist abhängig von der persönlichen Empfindung in Bezug auf Benutzerfreundlichkeit, Sicherheit und mögliche Einschränkungen der eigenen Privatsphäre. Inwiefern die Akzeptanz durch die genannten Faktoren beeinflusst wird und wie hoch dieser Grad der Beeinflussung letztendlich ist, hängt schließlich vom Individuum selbst ab. Grundsätzlich besteht die Bereitschaft zur Nutzung einer urbanen Seilschwebebahn. Dennoch wird die Akzeptanz des Verkehrsmittels unter anderem dadurch beeinträchtigt, dass keine umfassende Informationsgrundlage über die Vorteile und den Nutzen einer urbanen Seilbahn existiert. Verkehrstechnische Potenziale und Einsatzmöglichkeiten werden häufig nicht berücksichtigt oder sind gänzlich unbekannt. Zudem wurde bis heute kein Referenzprojekt in Deutschland realisiert, welches eine Seilschwebebahn als vollwertiges und integriertes Verkehrsmittel im bestehenden System des öffentlichen Nahverkehrs veranschaulicht. Ohne ein entsprechendes Positiv-Beispiel besteht auch weiterhin vorrangig das Bild der Seilbahn als touristisch-geprägtes Verkehrsmittel. Ausblick In den vergangenen Jahren wurden zunehmend Untersuchungen hinsichtlich möglicher Streckenführungen in deutschen Großstädten durchgeführt. Auch die steigende Medienpräsenz lässt darauf schließen, dass das Thema der urbanen Seilbahn auch zukünftig vermehrt in den Fokus der Betrachtung gerückt wird und somit eine zentrale Rolle im Bereich neuer und nachhaltiger Mobilitätsformen einnimmt. Im Vergleich zu den Projekten, die bereits auf internationaler Ebene umgesetzt wurden, kann festgestellt werden, dass sich das Thema der urbanen Seilschwebebahn, in Abhängigkeit der geographischen Lage, in unterschiedlichen Prozessphasen befindet. Während die Technologie in Südamerika und Nordafrika bereits einen Teil des Personennahverkehrs bildet und in entsprechenden Regionen weiterverbreitet wird, befindet sich die Technologie in Deutschland momentan in der Einführungsphase. 3 Aufgrund der Tatsache, dass die Akzeptanz der urbanen Seilbahn vom individuellen Verhalten der Nutzer abhängig ist, bedarf es einem langfristigen Lernprozess im Rahmen dieser Phase, der die Einstellung sowie den Grad der Gewohnheit des Individuums beeinflusst. Nur über die Erzeugung von Akzeptanz und die fortwährende Steigerung eben dieser, kann es gelingen, dass eine urbane Seilbahn auch in deutschen Großstädten anerkannt und genutzt wird. Für die Projektinitiierung selbst gilt hierbei in erster Linie die Bürgerinformation und -beteiligung als grundlegende Maßnahme für eine zielgerichtete und ungehinderte Umsetzung einer urbanen Seilbahn. Sofern dieser Umstand berücksichtigt wird, können urbane Seilbahnen auch in Deutschland in den kommenden Jahren als vollwertiges Verkehrsmittel in das bestehende System des Personennahverkehrs integriert werden. ■ 1 Monheim, Heiner et al. (2010): „Urbane Seilbahnen - Moderne Seilbahnsysteme eröffnen neue Wege für die Mobilität in unseren Städten“. Köln: ksv Kölner Stadt- und Verkehrsverlag. 2 Kremer, Frieder (2015): Innovation Seilbahn - Potenziale für den urbanen Personenverkehr und Positionen der beteiligten Akteuere. Forschungsbericht in: „ISR Impulse Online“, Technische Universität Berlin. 3 Kremer, Frieder (2015): Innovation Seilbahn - Potenziale für den urbanen Personenverkehr und Positionen der beteiligten Akteure. Forschungsbericht in: „ISR Impulse Online“, Technische Universität Berlin Sebastian Beck Senior Projektpartner, Drees & Sommer SE, Stuttgart sebastian.beck@dreso.com Oliva Franz Projektmanagerin, Drees & Sommer SE , Stuttgart olivia.franz@dreso.com Einsatzszenarien Anzahl in Prozent Erschließung von Stadtteilen im Umland 112 70 % Erschließung von Gewerbe- und Industriegebieten 94 59 % Einsatz im ländlichen Raum 32 20 % Einsatz in Großstädten 133 83 % Einsatz in der Innenstadt 103 64 % Einsatz bei Großveranstaltungen 101 63 % Tabelle 1: Mögliche Einsatzszenarien von Seilbahnen in deutschen Großstädten