eJournals Internationales Verkehrswesen 71/4

Internationales Verkehrswesen
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expert verlag Tübingen
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Erfolg durch stetige Weiterentwicklung

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Knut Ringat
Mit seinem Konzept „RMV-Mobilität 2030“ hat der Rhein-Main-Verkehrsverbund bereits vor einem Jahr Strategien für die Zukunft des Öffentlichen Personennahverkehrs in der Region Frankfurt-RheinMain vorgelegt. Ausgewiesenes Ziel der ausgeführten kurz-, mittel- und langfristigen Maßnahmen und Projekte war ein Fahrgastzuwachs von 30 Prozent bis zum Jahr 2030. Wenn sich das enorme Wachstum des vergangenen Jahres weiter fortsetzt, wird das mittelfristige Wachstumsziel nach oben korrigiert werden müssen. Dementsprechend werden Gesamtkonzept und Strategien angepasst.
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Internationales Verkehrswesen (71) 4 | 2019 73 Mobilitätskonzepte MOBILITÄT Erfolg durch stetige Weiterentwicklung Innovative und dynamisch angelegte Konzepte als Grundlage für erfolgreiche Mobilitätsangebote der Zukunft Bundesverkehrswegeplan, Mobilitätsverhalten, Nahverkehr, ÖPNV, Verkehrsinfrastruktur Mit seinem Konzept „RMV-Mobilität 2030“ hat der Rhein-Main-Verkehrsverbund bereits vor einem Jahr Strategien für die Zukunft des Öffentlichen Personennahverkehrs in der Region Frankfurt- RheinMain vorgelegt. Ausgewiesenes Ziel der ausgeführten kurz-, mittel- und langfristigen Maßnahmen und Projekte war ein Fahrgastzuwachs von 30 Prozent bis zum Jahr 2030. Wenn sich das enorme Wachstum des vergangenen Jahres weiter fortsetzt, wird das mittelfristige Wachstumsziel nach oben korrigiert werden müssen. Dementsprechend werden Gesamtkonzept und Strategien angepasst. Knut Ringat D as Mobilitätsverhalten der Menschen in der Region Frankfurt- RheinMain hat sich tiefgreifend verändert. Auch die Bereitschaft, längere Pendlerstrecken in Kauf zu nehmen, steigt. Verbund- und Landesgrenzen spielen dabei eine immer geringere Rolle. Vor allem die Anforderungen an den Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) nehmen kontinuierlich zu. Nicht zuletzt die von der Bundesregierung angestoßene Diskussion über einen Nulltarif brachte den ÖPNV in den Fokus des öffentlichen Interesses. Darüber hinaus erhöhen die vereinbarten Klimaziele, das rasante Bevölkerungswachstum und die steigenden Beschäftigungszahlen den Druck auf den öffentlichen Nahverkehr (Bild 1). Auf all diese Fragestellungen und Anforderungen muss der ÖPNV kurz-/ mittelfristig Antworten finden. Doch Kapazitätsengpässe im Schienennetz, Qualitätseinschränkungen und steigende Kosten stehen einer schnellen Lösung entgegen. Fest steht jedoch: Eine massive Ausweitung eines qualitativ hochwertigen Nahverkehrsangebotes ist notwendig! Und dazu benötigen wir innovative und vor allem auch flexible Mobilitätskonzepte. Diese müssen kontinuierlich weiterentwickelt und an die sich immer schneller verändernden Rahmenbedingungen, wie beispielsweise die aktuellen Klimabeschlüsse der Bundesregierung sowie die dynamischen Fahrgastentwicklungen der letzten Jahre, angepasst werden. Der Rhein-Main-Verkehrsverbund (RMV) nimmt diese Herausforderungen an und hat ein umfangreiches Konzept für die Mobilitätsentwicklung in der Region Frankfurt- RheinMain entwickelt. Es ist so flexibel gestaltet, dass kurzfristig Anpassungen vorgenommen bzw. Schwerpunkte verschoben werden können. Sollte sich zum Beispiel das enorme Fahrgastwachstum des vergangenen Jahres von plus 34 Millionen weiter fortsetzen, so wird das mittelfristige Wachstumsziel des RMV-Mobilitätskonzeptes nach oben korrigiert werden müssen. Darüber hinaus ist aktuell auch eine Weiterentwicklung des Konzeptes hinsichtlich der Klimaschutzanforderungen und -ziele erforderlich. RMV-Konzept „Mobilität 2030“ Der RMV beschreibt in seinem strategischen Konzept die Voraussetzungen für eine nachhaltige und zukunftsfähige Mobilität in der Region bis zum Jahr 2030. Hier eine Kurzdarstellung: 1. Tarif - Vision vom einfachen Tarif Der RMV entwickelt seinen Verbundtarif einerseits zu einem differenzierten und leistungsgerechteren Tarif für Selten- und Gelegenheitsnutzer, andererseits zu einem Bild 1: Eine strategische Antwort auf die Herausforderungen ist notwendig. Quelle: RMV Internationales Verkehrswesen (71) 4 | 2019 74 MOBILITÄT Mobilitätskonzepte preislich attraktiven, einfachen und großräumigen Flatrate-Tarif für Stammkunden. Die Vision eines einfachen Tarifs (Flatrate und gerechter E-Tarif ) erfordert die schnelle und unverzügliche Umsetzung der geplanten und darüber hinaus notwendigen Infrastrukturmaßnahmen, den Einsatz neuer Ideen und innovativer Lösungen, eine generelle, die gesamte Mobilität umfassende Informations- und Buchungsplattform sowie eine Struktur, die die veränderten Mobilitätsbedürfnisse widerspiegelt. Grundvoraussetzungen sind die Verbesserung der angebotenen Leistungen sowie eine entsprechende Finanzierung. Nur die Verwirklichung dieses Bündels an Maßnahmen ermöglicht die Realisierung einer 365-Euro-Flatrate für ganz Deutschland. 2. Infrastruktur - Höhere Schlagzahl in der-Umsetzung und mehr neue Infrastruktur 2030+ Die begrenzten Kapazitäten auf den Schienenstrecken im Ballungsraum Frankfurt- RheinMain stellen die größte Hürde eines weiteren ÖPNV-Wachstums in der Region dar. Die schnelle Umsetzung der lange geplanten FrankfurtRheinMain plus (FRM plus )- Projekte ist daher dringend erforderlich. Die zurzeit schon in Umsetzung befindlichen Maßnahmen sind von hoher Bedeutung, tragen aber als Einzelmaßnahmen nicht zu einer signifikant höheren Kapazität bei. Erst ab 2030, wenn fast das gesamte Projekt FRM plus beendet ist, entfalten sie gemeinsam ihre volle Wirkung. Sie allein werden aber nicht ausreichen, um den gestiegenen Mobilitätsbedürfnissen gerecht zu werden. Deshalb muss schon heute mit der Planung weiterer Maßnahmen begonnen werden, beispielsweise mit der Schaffung neuer Infrastruktur für den Fernverkehr im Knoten Frankfurt Hauptbahnhof, einem Fernbahntunnel. Das heißt aber auch, dass bis in die Jahre 2025/ 2030 hinein eine Bedarfs-Leistungs- Lücke klafft (Bild 2). Die „RMV-Offensive 2030“ zeigt dazu kurzfristig umsetzbare Maßnahmen auf, wie zum Beispiel die zeitliche Erweiterung der Hauptverkehrszeit (HVZ), die Schließung der Infrastrukturlücken durch ein ergänzendes, qualitativ hochwertiges neues Bussystem oder den Aufbau von On-demand-Verkehrsangeboten als Bestandteil des ÖPNV-Gesamtsystems u. v. m. 3. Qualität - Herstellung adäquater Qualität und vor allem Gewinn an Qualität Pünktlich, sicher, sauber und mit hoher Informationsqualität - das sind die Grundvoraussetzungen für jede Weiterentwicklung des ÖPNV. Qualität und Verlässlichkeit spielen eine entscheidende Rolle bei der Entscheidung des Kunden für ein Verkehrsmittel. Sie beeinflussen enorm das individuelle Empfinden für das Preis-Leistungs-Verhältnis und sind daher ausschlaggebend für die Verkehrsmittelwahl. Deshalb ist es wichtig, aktuelle Defizite aufgrund von Personalengpässen, technischen Defekten an Fahrzeugen und Infrastrukturmängeln sowie unzureichender Information umgehend zu beseitigen. Die Deutsche Bahn AG (DB AG) hat auf Initiative des und in enger Abstimmung mit dem RMV einen Maßnahmenkatalog zur Qualitätsverbesserung aufgelegt. 4. Innovationen - Effizienzgewinne und Vereinfachung des Systems Innovationen müssen noch stärker genutzt werden! Eine Fahrt muss heute genauso einfach und spontan mit dem Nahverkehr möglich sein wie mit dem Auto: Einsteigen und losfahren, nur das Ziel vor Augen und darüber hinaus mit der Gewissheit, auch bei Störungen oder Änderungen zuverlässig und sorglos anzukommen - immer mit den aktuell wichtigen Informationen individuell versorgt. Auch neue Ride-Sharing- und Ondemand-Systeme eröffnen für die Anbindung des ländlichen Raums sowie im Stadt- Umland-Gefüge völlig neue Möglichkeiten. Der öffentliche Verkehr wird hier individueller und passt sich dank neuer Technologien an die Bedürfnisse der Menschen an. 5. Generelle Mobilitätsplattform - alles aus einer Hand Die Nachfrage nach multimodalen Angeboten aus einer Hand steigt. Über eine einheitliche Plattform mit intuitiver, einfacher Bedienung soll dem Fahrgast das gesamte Portfolio der Mobilität angeboten werden. Dabei ist die Digitalisierung der Schlüssel, um den veränderten Anforderungen an das Verkehrssystem gerecht zu werden. So entwickelt der RMV gemeinsam mit dem Verband Deutscher Verkehrsunternehmen und weiteren Partnern die digitale Plattform „Mobility Inside“, über die der gesamte öffentliche Verkehr in Deutschland - vom Bus- und Bahnticket über das Leihfahrrad bis zum Carsharing-Angebot - gebucht und abgerechnet werden kann. Die Plattform muss von der Nahverkehrsbranche für ihre Fahrgäste und nicht von der Plattformökonomie oder Automobilindustrie gestaltet werden. 6. Verbundgrenzen - Mobilitätsbedürfnissen gerecht werden Die Kunden erwarten über Landes- und Verbundgrenzen hinweg neben den Verbundvorteilen „Ein Fahrplan - Ein Fahrschein - Ein Fahrpreis“ auch Informations-, Buchungssowie Zahlungsmöglichkeiten aus einer Hand. Längst fühlt sich die Bevölkerung weiter Teile Unterfrankens, der Bergstraße und Rheinhessens der Metropolregion FrankfurtRheinMain verbunden, unabhängig vom jeweiligen Bundesland. Annähernd 60.000 Menschen pendeln mittlerweile täglich aus Bayern nach Hessen, viele aus der Stadt Aschaffenburg und den beiden Landkreisen Aschaffenburg und Miltenberg. Dies bringt eine Steigerung des Verkehrsaufkommens mit sich, bietet aber zugleich bei einer attraktiven Verkehrsanbindung, insbesondere durch den ÖPNV, eine große Chance für den ballungsraumnahen ländlichen Raum. Der RMV entwickelt sich daher immer weiter zum regionalen Mobilitätsanbieter und ermöglicht den Kunden einen einfachen Zugang zum ÖPNV. Kooperationsverträge, wie der mit der Stadt Mainz, sind eine gute Lösung und stoßen auf großes Interesse auf bayerischer und hessischer Seite. Inzwischen ist bei allen Akteuren fest im Bewusstsein verankert, dass die aktuellen und künftigen Herausforderungen im Mobi- Bild 2: Zeitplanung der Infrastrukturmaßnahmen für die Region FrankfurtRheinMain Quelle: RMV Internationales Verkehrswesen (71) 4 | 2019 75 Mobilitätskonzepte MOBILITÄT litätsbereich nur gemeinsam und über die- Landesgrenzen hinweg gelöst werden können. 7. Finanzierung - neue Wege der Finanzierung angepasst an die Mobilitätsentwicklung Der politisch und gesellschaftlich geforderte umfangreiche Ausbau des ÖPNV erfordert eine auskömmliche und langfristig gesicherte Finanzierung. Da mit einer reinen Nutzerfinanzierung allein durch den Fahrgast die Nahverkehrsangebote keinesfalls finanziert werden können, müssen neben der Erschließung neuer Finanzierungsquellen auch die herkömmlichen ausgebaut werden. Hierzu gibt es erfolgreiche Anwendungsbeispiele im Ausland (z. B. Wien, Amsterdam und Kopenhagen). Dort ist die finanzielle Unterstützung für öffentliche Mobilität ungleich höher als in Deutschland. Hier sind die öffentliche Hand und insbesondere der Bund gefordert. Kontinuierliche Überprüfung und Anpassung des Konzeptes Die beschriebenen Strategien sind Überbau und Leitlinien zugleich für die Weiterentwicklung des ÖPNV in der Region Frankfurt- RheinMain. Diese sowie die daraus entwickelten Maßnahmen müssen einem kontinuierlichen Monitoring unterzogen, entsprechend bewertet und priorisiert sowie an aktuelle Mobilitätstendenzen angepasst werden. Nur, wenn Konzepte und Strategien als fortlaufender Prozess begriffen werden, können Verkehrsunternehmen und -verbünde mit den steigenden und sich rasant ändernden Anforderungen an das System Schritt halten. Allein der bereits eingangs erwähnte enorme Anstieg der Fahrgastzahlen im RMV ist ein Beispiel für diese Tendenzen und muss in weiteren Planungen entsprechend berücksichtigt werden. Die Auswirkungen daraus schlagen bis auf die Infrastruktur durch. Darüber hinaus hat sich gezeigt, dass alle Partner, beispielsweise die lokalen Nahverkehrsorganisationen, zum einen intensiv in die Ausarbeitung der Mobilitätskonzepte und -planungen einbezogen und zum anderen mit Knowhow unterstützt werden müssen. Verkehrsverbünde müssen hier verstärkt den Dienstleistungsgedanken in den Vordergrund stellen. Denn nur, wenn sich auch die Partner weiter entwickeln, kann das System als Ganzes vorankommen und zukunftsfähig ausgestaltet werden. Aktuell erhöhen sich die Erwartungen an den ÖPNV ständig. Entsprechend flexibel müssen unsere Konzepte darauf angepasst werden können. So sind vor allem Klimaschutz und Luftreinhaltung, auch durch das kürzlich verabschiedete Klimapaket, ein wesentlicher Baustein des RMV-Strategiekonzeptes. Leuchtturmprojekt Fernbahntunnel Frankfurt am Main Ein aktuelles Ergebnis aus der Neubewertung und -priorisierung der RMV-Mobilitätsstrategien ist die Forcierung eines Tunnelbaus unter dem Frankfurter Hauptbahnhof. Damit könnten der Fernverkehr unter dem Bahnhof hindurchgeführt und oberirdisch frei werdende Kapazitäten für den Regionalbahnverkehr genutzt werden. Eine Idee, die schon seit etlichen Jahren immer wieder im RMV diskutiert wird, die aber mit der Aufnahme in den vordringlichen Bedarf des Bundesverkehrswegeplans einen neuen Aufschwung erlebt hat. Durch das damit verbundene Commitment des Bundes hat dieses Thema eine breite Debatte in der Öffentlichkeit ausgelöst, die Deutsche Bahn AG inzwischen eine Machbarkeitsstudie in Auftrag gegeben (Bild 3). Das Projekt Fernbahntunnel ist ein gutes Beispiel dafür, wie aufgrund der Veränderung von Rahmenbedingungen ein Projekt innerhalb kürzester Zeit eine enorme Aufmerksamkeit und damit höheres Gewicht in der Gesamtplanung erhalten kann. Das sind Chancen, die ergriffen und entsprechend konzeptionell unterfüttert werden sollten. Der RMV hat hier sein Mobilitätskonzept angepasst und in Hinblick auf die Infrastrukturmaßnahmen modifiziert. Ausblick Der ÖPNV steht vor großen Herausforderungen, aber auch Chancen. Und diese gilt es, aktiv im Sinne einer nachhaltigen und modernen Mobilität zu nutzen. Dazu ist es zwingend notwendig, innovative und modifizierbare Mobilitätskonzepte zu erstellen sowie mit allen beteiligten Partnern aus Verkehrswirtschaft und Politik eng zusammen zu arbeiten. Nur so kann der ÖPNV zukünftig seiner Rolle als Herzstück eines vernetzten und klimaschonenden Verkehrssystems gerecht werden. ■ Knut Ringat, Prof. Geschäftsführer und Sprecher der Geschäftsführung, Rhein-Main-Verkehrsverbund GmbH, Hofheim a.Ts. k_ringat@rmv.de Bild 3: Untersuchungsraum für den Fernbahntunnel Frankfurt am Main Grafik: DB