Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2020-0009
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Next Generation Station
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Mathias Böhm
Andrei Popa
Gregor Malzacher
Joachim Winter
Zunehmende Mobilitätsbedürfnisse sowie die zukünftigen Ziele zur Verkehrsverlagerung bedeuten ein weiter steigendes Fahrgastaufkommen im öffentlichen Verkehr. Ein effizienter Fahrgastwechsel innerhalb des Systems Eisenbahn und zu anderen Verkehrsträgern ist dabei ein Schlüsselelement. Dieser Beitrag beschreibt die Entwicklung eines leistungsfähigen Gesamtkonzepts, bestehend aus einem Fernverkehrszug sowie der zugehörigen Bahnhofsinfrastruktur. Fahrgastfluss-Simulationen bilden die Grundlage für die Erstellung eines optimierten Fahrzeugkonzepts unter Berücksichtigung kurzer Fahrgastwechselzeiten. Hieraus resultieren neue Anforderungen, die die Grundlagen für die Konzeptentwicklung des Bahnhofs bilden.
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Internationales Verkehrswesen (72) 1 | 2020 32 INFRASTRUKTUR Wissenschaft Next Generation Station Konzept für einen leistungsfähigen Bahnhof der-Zukunft Fahrgastwechsel, Fahrgastfluss-Simulation, Schienenfahrzeug-Konzept, Bahnhofs- Konzept Zunehmende Mobilitätsbedürfnisse sowie die zukünftigen Ziele zur Verkehrsverlagerung bedeuten ein weiter steigendes Fahrgastaufkommen im öffentlichen Verkehr. Ein effizienter Fahrgastwechsel innerhalb des Systems Eisenbahn und zu anderen Verkehrsträgern ist dabei ein Schlüsselelement. Dieser Beitrag beschreibt die Entwicklung eines leistungsfähigen Gesamtkonzepts, bestehend aus einem Fernverkehrszug sowie der zugehörigen Bahnhofsinfrastruktur. Fahrgastfluss-Simulationen bilden die Grundlage für die Erstellung eines optimierten Fahrzeugkonzepts unter Berücksichtigung kurzer Fahrgastwechselzeiten. Hieraus resultieren neue Anforderungen, die die Grundlagen für die Konzeptentwicklung des Bahnhofs bilden. Mathias Böhm, Andrei Popa, Gregor Malzacher, Joachim Winter B is 2030 plant die Bundesregierung gemäß Koalitionsvertrag eine Verdopplung der Fahrgastzahlen im Schienenverkehr in Deutschland [1]. Um dieses Ziel zu erreichen, sollen bis zum Jahr 2030 insgesamt etwa 170 Mrd. EUR in den Ausbau der Eisenbahninfrastruktur fließen [2]. Neben Fahrzeugen, Schienenwegen und der Sicherungstechnik müssen auch die Bahnhöfe in der Lage sein, den zusätzlichen Verkehr bzw. die steigenden Fahrgastzahlen zu bewältigen. Die Deutsche Bahn hat im laufenden Jahr gemeinsam mit Bund und Ländern etwa 1,3 Mrd. EUR in ihre Bahnhöfe investiert [2]. Werden bestehende Bahnhöfe betrachtet, kann beobachtet werden, dass diese zu Spitzenzeiten bereits heute an die Kapazitätsgrenzen stoßen oder zukünftig die Belastungsgrenzen erreichen werden [3, 4, 5]. Sollen die Fahrgastzahlen, wie beabsichtigt, verdoppelt werden, ist es notwendig, Konzepte zu entwickeln, wie die Bahnhöfe und somit die Umsteigevorgänge trotzdem komfortabel und effizient gestaltet werden können. Neues Zugkonzept als Treiber für einen neuen Bahnhof Im Projekt Next Generation Train (NGT) des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt e. V. (DLR) wird der Verkehrsträger Eisenbahn holistisch und systemübergreifend betrachtet [6]. Unter Berücksichtigung der Wechselwirkungen zwischen Fahrzeug, Infrastruktur und Betrieb sowie dem Übergang zu anderen Transportmodi werden Konzepte und Technologien für den Schienenverkehr der Zukunft entwickelt. Dazu zählt das Zugkonzept NGT HST (High Speed Train), welches u. a. auf ausgewählten Strecken als Alternative zum Flugzeug eingesetzt werden soll. Bei der Entwicklung des Zuges liegt der Fokus auf der Erhöhung des Fahrgastkomforts, bei gleichzeitig höheren Fahrgastzahlen und kürzeren Reisezeiten, kombiniert mit einer Reduzierung der Lebenszykluskosten. Basierend auf Fahrgastfluss-Simulationen wurde ein neues Fahrzeugkonzept vorgeschlagen. Dieses sieht einen doppelstöckigen Ein- und Ausstieg vor, wodurch ein schneller Umstieg bzw. kurze Standzeiten der Züge bei einer großen Anzahl von Fahrgästen, mit einem möglichst hohen individuellen Komfort, erreicht werden kann. Da hierfür keine Bahnhofsinfrastruktur existiert, wurde die Next Generation Station (NGS) entwickelt. Im Folgenden wird der Entwicklungs- und Designprozess der Bahnhofsinfrastruktur, beeinflusst durch die Fahrgastfluss-Simulationen und den daraus resultierenden Anforderungen an das Fahrzeugkonzept, beschrieben. Fahrgastfluss-Simulationen Zur Effizienzsteigerung soll der NGT HST deutlich höhere Fahrgastkapazitäten als heutige Züge aufweisen. Dadurch ergeben sich neue Herausforderungen an die Schnittstelle zwischen Fahrzeug und Bahnsteig im Hinblick auf Fahrgastwechsel und Fahrgastfluss. Für schnelle Ein- und Ausstiegsvorgänge der Fahrgäste am Bahnhof spielt die Fahrzeugkonstruktion, insbesondere die Verteilung, Anzahl und Breite der Türen, eine wesentliche Rolle. Bereits in der Planungsphase sollten Fahrzeugkonfigurationen hinsichtlich der gestellten Anforderungen bezüglich des Fahrgastflusses und Fahrgastwechsels analysiert werden. Eine solche Untersuchung erfordert für ein Schienenfahrzeug die Berücksichtigung einer Vielzahl von Faktoren, wie beispielsweise das spezifische Fahrgastverhalten, die individuellen Personeneigenschaften und die sich daraus ergebenden Interaktionen. Eine rein analytische Vorgehensweise hierfür setzt oft starke Vereinfachungen voraus und birgt somit die Gefahr, inadäquate Ergebnisse zu erzielen. Auch makroskopische Simulationen, bei denen die Personen nicht einzeln dargestellt, sondern als kontinuierlicher Fluss Internationales Verkehrswesen (72) 1 | 2020 33 Wissenschaft INFRASTRUKTUR betrachtet werden, besitzen nicht den nötigen Detaillierungsgrad. Mit Hilfe von mikroskopischen Simulationen hingegen kann ein abstraktes Modell erstellt werden, bei dem das individuelle Verhalten und die Eigenschaften jeder einzelnen Person sowie die sich hieraus ergebenen Interaktionen berücksichtigt werden können. Damit können bereits in der Planungsphase Bestuhlungskonzepte, Treppen- und Türanordnungen sowie Türdimensionierungen hinsichtlich der Wirkung auf den Personenfluss und die Fahrgastwechselzeit analysiert werden. Simulationsmodelle Die unterschiedlichen Fahrzeugkonzepte wurden mit Hilfe der Simulationssoftware Traffic Oriented Microscopic Simulator (TOMICS) hinsichtlich der notwendigen Fahrgastwechsel-, Aus- und Einstiegszeiten untersucht. TOMICS ist eine Simulationssoftware des DLR zur mikroskopischen Modellierung einzelner Personenbewegungen in beliebigen Verkehrsräumen [7]. Dabei werden möglichst alle Verkehrs- und Abfertigungsprozesse simuliert. Die Simulationsmodelle wurden auf Basis der technischen Zeichnungen der zu untersuchenden Schienenfahrzeugkonfigurationen innerhalb der Simulationssoftware TOMICS erstellt. In Annäherung an ein reales Umfeld wurde angenommen, dass immer zuerst aus- und dann eingestiegen wird. Um den Aus- und Einstiegsvorgang abbilden zu können, wurde ein Teil des dazugehörigen Bahnsteiges mitbetrachtet. Hinzukommend wurden für die Simulationen Echtdaten des Realsystems berücksichtigt, wie die Laufgeschwindigkeit und die Körperproportionen der Fahrgäste. Simulationsszenarien Die untersuchten Fahrzeugkonzeptvarianten sind symmetrisch aufgebaut, daher wurden repräsentativ die Mittelwagen 1 bis 4 mit den dazwischen liegenden Übergängen simuliert und analysiert. Die einzelnen NGT-Varianten verfügen über eine Türbreite von 100 cm und unterscheiden sich durch folgende Merkmale (Tabelle 1): • Zugang zu oberer Ebene im bzw. außerhalb des Zuges • Anordnung der 1. und 2. Klasse horizontal oder vertikal geteilt im Wagen • Anzahl an Fahrgästen in Abhängigkeit des Wagenkonzeptes • Unterscheidung zwischen Reisegepäck-Abgabe vor dem Einsteigen (Unterbringung im Gepäckwagen) und Einsteigen mit Reisegepäck (Unterbringung am Sitzplatz) Grundlage für den Vergleich der Zugvarianten und der Bewertungen bildet ein Referenzszenario, das auf Simulationsergebnissen eines Hochgeschwindigkeitszuges heutiger Konfiguration beruht. Dabei wurden für das Referenzfahrzeug (REF) ebenfalls vier Wagen, zwei 1.-Klasse und zwei 2. Klasse, mit insgesamt 228 Sitzplätzen und einer Türbreite von 90 cm betrachtet. Die Varianten 1 bis 4 und REF basieren auf heute üblichen Ein- und Ausstiegsvorgängen beim Fahrgastwechsel im Fernverkehr (erst Ausstieg, dann Einstieg). Außerdem wurden diese Szenarien jeweils mit und ohne Reisegepäck simuliert. Das Mitführen von Gepäck erhöht den Mindestplatzbedarf und reduziert die Laufgeschwindigkeit der einzelnen Personen. Bei Variante 5 hingegen wurde als Ein- und Ausstiegskonzept die sogenannte „spanische Lösung“ mit getrennten Aus- und Einsteigebahnsteigen ausgewählt. Dabei steigen die Fahrgäste auf beiden Ebenen simultan ein und an den diagonal gegenüber liegenden Waggontüren aus (Bild 1). Die ein- und aussteigenden Fahrgäste begegnen sich somit auf dem Bahnsteig und im Fahrzeug nicht. Für die Simulationen der Variante 5 wurde zudem angenommen, dass das Reisegepäck ähnlich dem Check-in am Flughafen vor dem Einsteigen abgegeben wird. Außerdem wird angenommen, dass alle Fahrgäste sich genau entsprechend des Zugbildplans am Bahnsteig aufstellen. Dies kann beispielsweise durch eine fahrzeugbezogene Projektion des Türbereichs auf dem Bahnsteig oder Leuchtanzeigen im Bahnsteig ermöglicht werden. Bei dieser Variante erfolgt der Ein- und Ausstieg für die 2.-Ebene über Rampen. In allen Szenarien entspricht die Anzahl der Fahrgäste der Anzahl an Sitzplätzen. Als stochastische Komponente dient bei den TOMICS-Simulationen ein softwareeigener Zufallszahlengenerator, der auf der Systemzeit basiert. Dadurch wird sichergestellt, dass alle vom Zufall abhängigen Prozesse (z. B. Gehgeschwindigkeit der Fahrgäste, Wahl des Sitzplatzes) in jeder Simulation neu gewählt werden. Um zu statistisch aussagekräftigen Ergebnissen zu gelangen, wurden für jede Variante 75-Simulationen je Szenario durchgeführt. Diese Anzahl an Simulationen stellt einen Kompromiss aus statistischer Sicherheit und Simulationsdauer dar. Variante Treppenanordnung Teilung 1./ 2. Klasse Sitzplatzanzahl 1 innen horizontal 246 2 innen vertikal 256 3 Bahnsteig für die 2. Ebene horizontal 306 4 Bahnsteig für die 2. Ebene vertikal 306 5 Rampen für die 2. Ebene* horizontal 396 *Simultaner Ein- und Ausstieg auf beiden Fahrzeugseiten (Bild 1) Tabelle 1: Definition der untersuchten NGT-Varianten bezogen auf vier Mittelwagen Bild 1: Simultanes Ein- und Ausstiegskonzept bei Variante 5 Internationales Verkehrswesen (72) 1 | 2020 34 INFRASTRUKTUR Wissenschaft Auswertungsmethode Ziel der Simulationen war es, die unterschiedlichen Varianten des NGT bezüglich des Fahrgastflusses und der notwendigen Fahrgastwechselzeiten untereinander sowie mit dem Referenzszenario zu vergleichen und zu beurteilen. Alle Simulationen wurden als Mehrfachsimulationen ausgelegt, um statistisch signifikante Aussagen treffen zu können, daraus resultiert für die Bestimmung der mittleren Zeit x¯ Gleichung (1) [8]: x m i m ∑ =1 = (1) mit: x i gemessene Zeit (für den Fahrgastwechsel, Aussteigen, Einsteigen) des i-ten Simulationslaufes x¯ Mittelwert der Zeit bei m Simulationsläufen m Anzahl durchgeführter Simulationsläufe Anschließend wurde das zugehörige Konfidenzintervall bestimmt (2), welches dazu dient, die wirkliche Lage eines Parameters, hier der mittleren Zeit µ, mit einer bestimmten Sicherheit einzugrenzen [9]: (2) mit: t m-1,1-α/ 2 (1-α/ 2)- Quantil der t-Verteilung mit m Freiheitsgraden s Standardabweichung µ Erwartungswert der Zeit In der durchgeführten Untersuchung wurde für die Konfidenzintervalle eine Sicherheit von 95 % angenommen. Damit liegt die zu erwartende mittlere Zeit unter den vorab genannten Bedingungen mit einer Wahrscheinlichkeit von 5 % nicht in dem berechneten Intervall. Simulationsergebnisse Mit Hilfe der durchgeführten Simulationen wurde das „beste Konzept“ aus den unterschiedlichen NGT-Fahrzeugkonfigurationen identifiziert, welches in diesem Kontext die Gewährleistung eines störungsfreien Fahrgastflusses und eines zügigen Fahrgastwechsels ermöglicht. Die in diesen Simulationen berechnete Fahrgastwechselzeit beschreibt die Dauer zwischen dem Ausstieg der ersten Person bis zum Einstieg der letzten Person. In Bild 2 sind die Ergebnisse des Fahrgastwechsels dargestellt. Hierbei wurde angenommen, dass 50 % der Fahrgäste ausbzw. einsteigen. Obwohl die Variante 5 die meisten Fahrgäste befördern kann, sind mit ihr die kürzesten Fahrgastwechselzeiten möglich. Die Varianten 2 und 3 sowie REF zeigen annährend gleiche Fahrgastwechselzeiten auf. Auffällig ist, dass die Wechselzeit mit Reisegepäck bei den NGT-Varianten erheblich länger dauert als beim REF mit Ausnahme der Variante 1. Das lässt sich dadurch erklären, dass die Variante REF acht Türen pro vier Waggons beinhaltet und die NGT-Varianten lediglich sechs. Aufgrund der unterschiedlichen Anzahl von Sitzplätzen der Varianten wurde außerdem für den direkten Vergleich der Fahrgastwechseldurchsatz (Fahrgäste pro Minute) berechnet (Bild 3). Hier ist zu erkennen, dass die Fahrzeugkonfiguration 5 mit Abstand den höchsten Durchsatz, Variante 4 den geringsten Durchsatz aufzeigt. Um auch mögliche Behinderungen im Zuginneren zu berücksichtigen, wurde in der Simulation zudem die Boardingzeit aufgezeichnet, die die Phase zwischen dem Ausstieg der ersten Person bis zu dem Zeitpunkt, an dem die letzte Person Platz genommen hat, beschreibt. Hierbei erzielt die Variante 5 die kürzeste Boardingzeit, gefolgt von Varianten 1 und 3 (Bild 4). Da bei Variante 3 jedoch 24 % mehr Fahrgäste befördert werden können, ist dieser Zugentwurf effizienter als die Variante 1. Dies wird in Bild 5 deutlich, in dem der Durchsatz beim Boarding der einzelnen Varianten dargestellt ist. Auffällig ist wieder die zeitliche Diskrepanz zwischen den Simulationen „ohne Reisegepäck“ und „mit Reisegepäck“. Das lässt sich zum einen dadurch erklären, dass die Fahrgäste mit Reisegepäck eine geringere Gehgeschwindigkeit besitzen, zum anderen halten sich die Fahrgäste, die ein Gepäckstück mit sich führen, im Gang auf und behindern dadurch den Fahrgastfluss. Bei Variante 4 hat das Reisegepäck den geringsten Einfluss auf den Durchsatz, während es bei den Varianten 1 und 2 die Durchsatzraten 100 150 200 250 300 350 400 450 500 550 600 650 700 750 Variante 1 Variante 2 Variante 3 Variante 4 REF Variante 5 Durchsatz [Fahrgäste/ min] Durchsatz beim Fahrgastwechsel - Wechselquote von 50% ohne Reisegepäck mit Reisegepäck 20 40 60 80 100 120 140 160 180 220 240 260 280 300 320 340 360 380 400 Fahrgastwechselzeit [s] Anzahl Fahrgäste Fahrgastwechselzeit - Wechselquote von 50% [1. Fahrgast steigt aus, letzter Fahrgast ist eingestiegen] ohne Reisegepäck mit Reisegepäck REF Var. 1 Var. 2 Var. 3 Var. 4 Var. 5 Var. 1 Var. 2 Var. 3 Var. 4 Var. 5 Var. 1 Var. 2 Var. 3 Var. 4 Var. 5 Var. 1 Var. 2 Var. 3 Var. 4 Var. 5 Bild 3: Fahrgastwechseldurchsatz bei einer Wechselquote von 50 % Bild 2: Fahrgastwechselzeit bei einer Wechselquote von 50-% Internationales Verkehrswesen (72) 1 | 2020 35 Wissenschaft INFRASTRUKTUR fast halbiert. Dies bedeutet, dass sich die Fahrgäste bei den Einstiegsvarianten 1 und 2 im Waggoninneren verstärkt gegenseitig behindern. Grund dafür ist die innere Treppe, die einen Engpass darstellt. Die ersten Simulationen der NGT-Varianten 1 bis 4 und REF ergaben, dass das Reisegepäck den Fahrgastwechsel erheblich verlangsamt und den Fahrgastkomfort beeinträchtigt. Darüber hinaus zeigte sich, dass die horizontale Klasseneinteilung der vertikalen Klasseneinteilung vorzuziehen ist. Die Fahrgastwechsel- und Boardingzeit kann außerdem durch ein geeignetes Leitsystem, mit dessen Hilfe die Fahrgäste die Möglichkeit haben, die Tür mit der geringsten Distanz zu dem reservierten Sitzplatz auszuwählen, spürbar verringern. Aus diesen Erkenntnissen resultierte eine neue Fahrzeugkonfiguration (Variante 5), die auf den Stärken der ersten simulierten Varianten aufbaut. Die Variante 5 ist ein doppelstöckiger Triebzug mit horizontaler Klasseneinteilung, die 800 Fahrgästen in zwei Klassen Platz bietet sowie ein Bordrestaurant und ein Bereich für mobilitätseingeschränkte Personen beinhaltet. Da die innere Treppe sich als Engpass beim Boarding erwies, wurde auf diese verzichtet. Dies erfordert eine Bahnhofsgestaltung, welche es ermöglicht, die obere Fahrzeugebene über Rampen bzw. einen zweiten Bahnsteig zu erreichen. Die Fahrgäste können auf beiden Ebenen simultan einsteigen und an den diagonal gegenüberliegenden Waggontüren aussteigen. Ein Leitsystem sorgt dafür, dass die Fahrgäste den optimalen Einstieg nutzen. Die Waggons sind innen auf beiden Ebenen durchgängig. Die Variante 5 liefert bei sämtlichen Simulationen bessere Ergebnisse als die anderen NGT-Varianten und des REF. Der Fahrgastwechsel- und Boardingdurchsatz an Fahrgästen pro Minute liegt bei Variante 5 mindestens zweifach über dem Durchsatz der anderen Varianten und dem des REF. Damit ergeben sich für die Umsetzung der Vorzugslösung Variante 5 bzgl. der Bahnhofsinfrastruktur neue Fragestellungen für weitere Untersuchungen, die im Folgenden adressiert werden. Konzeptentwicklung Bahnhof Basierend auf den Ergebnissen der Fahrgastfluss-Simulationen und des davon beeinflussten Fahrzeugkonzeptes NGT HST stellt der Zugang auf zwei Ebenen sowie die Möglichkeit zur Trennung der zusteigenden und aussteigenden Fahrgäste eine der zentralen Anforderungen an die NGS dar. Auf Grundlage des Basisszenarios, bestehend aus dem gleichzeitigen Halt zweier NGT HST-Züge in Doppeltraktion und einer Fahrgastwechselquote von 50 % wurde ein Grobkonzept für die NGS entwickelt, welche zwei nebenliegende Gleise für insgesamt vier HST-Züge beinhaltet. Neben den funktionellen Anforderungen wurden bei der Konzeption u. a. auch die aktuellen gültigen Regelwerke zur Gestaltung von Personenbahnhöfen mit berücksichtigt [10]. Auf dieser Basis wurden anschließend erste Designstudien für die benötigte Bahnhofsarchitektur in Zusammenarbeit mit der FH Pforzheim erarbeitet. Der Fokus lag dabei zunächst auf der Umsetzung des Zu- und Ausstieges auf mehreren Ebenen. Eine Auswahl der dabei entstandenen Konzepte ist in Bild 6 dargestellt. Eine zentrale Problemstellung war die Ausgestaltung der oberen Zugangsebene für die 1. Klasse im NGT HST. Die ursprünglich geplanten Rampen wurden durch ein Satellitenkonzept substituiert. Der Einstieg der Fahrgäste in die 1. Klasse erfolgt dabei jeweils über einen Lounge-Satellit, einem abgetrennten Aufenthalts- und Wartebereich, von der aus der Zug direkt betreten werden kann. Jeder Wagentür des NGT HST ist eine separate Lounge zugeordnet. Dadurch wird es den Fahrgästen ermöglicht, komfortabel auf den folgenden Zug und den Einstieg zu warten. Der Zugang zum Hauptzugang erfolgt über mehrere Aufzüge, die entlang der gesamten Bahnsteiglänge verteilt angeordnet sind. Bild 7 zeigt die Ausgestaltung der oberen Einstiegsebene und die entsprechenden Zu- und Abgänge sowie die Lounge-Satelliten, die an die Dachstruktur des Bahnhofs angebunden werden. Die weitere NGS-Konzeptentwicklung erfolgte auf Basis der vorangegangenen Arbeiten in Zusammenarbeit mit dem Studio Christian Höhn. In diesem Arbeitsschritt wurde die Verknüpfung des NGT HST mit dem Regionaltriebzug NGT LINK [11] sowie weiteren Verkehrsträgern betrachtet. Dabei entstand das Detailmodell der Next Generation Station - ein intermodaler Knotenpunkt für den regionalen und überregionalen 60 110 160 210 260 310 360 410 Variante 1 Variante 2 Variante 3 Variante 4 REF Variante 5 Durchsatz [Fahrgäste/ min] Durchsatz beim Boarding - Wechselquote von 50% ohne Reisegepäck mit Reisegepäck 50 70 90 110 130 150 170 190 210 220 240 260 280 300 320 340 360 380 400 Boardingzeit [s] Anzahl Fahrgäste Boardingzeit - Wechselquote von 50% [1. Fahrgast steigt aus, letzter Fahrgast hat Platz genommen] ohne Reisegepäck mit Reisegepäck REF Var. 2 Var. 1 Var. 3 Var. 4 Var. 5 Bild 5: Boardingdurchsatz bei einer Wechselquote von 50 % Bild 4: Boardingzeit bei einer Wechselquote von 50 % Internationales Verkehrswesen (72) 1 | 2020 36 INFRASTRUKTUR Wissenschaft Verkehr (Bild 8). Dieses Bahnhofskonzept besteht aus insgesamt sechs Ebenen, wodurch verschiedene Verkehrsträger vernetzt werden. Nicht abgebildet sind die Ebenen für Tram und Individualverkehr. Mit dem dargestellten Turmbahnhofskonzept werden kurze Wege ermöglicht. Die ankommenden werden von den abreisenden Fahrgästen getrennt. Zwischen den Ebenen befindet sich eine Warte-, Erschließungs- und Einkaufszone. Der Zugang zu den jeweiligen Zügen erfolgt durch ausreichend Fahrstühle und Treppen. Der Bahnhof besteht aus zwölf identischen Segmenten mit einer Segmentlänge von jeweils 36 m, was einer Gesamtlänge von 432 m entspricht. Die Stirnseiten des oben liegenden Fernbahnhofs wurden verschlossen und dieser vollständig klimatisiert. Aufbauend auf den vorangegangenen Arbeiten wurde die NGS anschließend ebenfalls in Zusammenarbeit mit dem Studio Christian Höhn visuell in die Metropole Melbourne eingebunden. Gepäckhandhabung Basierend auf den Ergebnissen der Fahrgastfluss-Simulationen erwies sich das Mitführen von Reisegepäck als ein wichtiger Einflussfaktor auf die Fahrgastwechselzeiten. Reisegepäck stellt jedoch nicht nur für die Fahrgastwechselzeiten, sondern auch für das Komfortempfinden der Fahrgäste und damit verbunden der Verkehrsmittelwahl ein wichtiges Kriterium dar, was durch die Untersuchungen und Befragungen von Rüger in [12, 13, 14] unterstrichen wird. Er stellt u. a. dar, dass Fahrgäste je nach Reisezweck im Durchschnitt 0,8 Reisegepäckstücke (große oder mittlere Koffer, Reisetaschen oder Rucksäcke) mit sich führen. 75 % der Reisenden geben in den Umfragen an, Schwierigkeiten beim Verstauen schwerer Gepäckstücke in Überkopfablagen zu haben, was ein wesentlicher Grund dafür ist, dass 40 % der schweren Gepäckstücke am Boden, auf und vor den Sitzen untergebracht werden. Dies führt dazu, dass bei einem Besetzungsgrad von 80 % im Regelfall kein Sitzplatz mehr direkt verfügbar ist, da die freien 20 % bereits durch kleine Gepäckstücke belegt oder durch größere Gepäckstücke verstellt (Defacto-Auslastungsgrad) sind. Von den befragten Nicht-Bahnfahrern geben 72 % an, dass die Mitnahme und das damit verbundene Handling von schwerem Reisegepäck ein wesentlicher Grund sei, die Bahn nicht zu nutzen. Verbesserungen im Handling des Reisegepäcks stellen somit einen relevanten Stellhebel dar, um sowohl die Effizienz als auch die Attraktivität des Verkehrsträgers Eisenbahn zu erhöhen. Daher wird ein Konzept vorgeschlagen, bei dem das Reisegepäck im NGT HST für Langstreckenverbindungen ähnlich dem Check-in am Flughafen vor dem Einsteigen aufgegeben werden kann. Geplant ist es, schwere und sperrige Gepäckstücke separat von den Fahrgästen getrennt im Triebkopf zu transportieren und durch eine Gepäckanlage zu handhaben. Bereits ab Mitte der 1830er Jahre entwickelten Eisenbahngesellschaften Lösungen für die Aufbewahrung und den Transport des Fahrgastgepäcks, daher ist die vorgeschlagene Idee grundsätzlich nichts Neues. Mit dem Verschwinden von Reichs- und Bundesbahn war durch verkehrliche, technische und wirtschaftliche Entwicklung sowie politische Entscheidungen der 150 Jahre existierende Gepäckverkehr in Deutschland allerdings nicht mehr fester Bestandteil im Personenverkehr [15]. Durch- die Wiedereinführung eines Gepäcksystems mit- den Vorteilen der Digitalisierung und Automatisierung könnte die Attraktivität des Bahnsystems gesteigert werden. Zusammenfassung Im Rahmen der Forschungsarbeiten am Next Generation Train HST wurden Fahrgastfluss-Simulationen für unterschiedliche Zugkonfigurationen durchgeführt. Diese Simulationen führten zu einem optimierten Fahrzeugkonzept, welches die kürzesten Fahrgastwechsel- Abbildung_6_Variante1 Quelle: J. Osorio, 2015 - FH Pforzheim Bild 6: Designstudien Bahnhofsgesamtkonzept J. Osorio Bild 7: Designstudie für 1. Klasse Einstiegsebene J. Osori Internationales Verkehrswesen (72) 1 | 2020 37 Wissenschaft INFRASTRUKTUR und Boardingzeiten ermöglicht. Dadurch wurde die Forderung nach möglichst kurzen Standzeiten der Züge im Bahnhof erfüllt. Durch das Doppelstockkonzept, welches eine horizontale Trennung der Komfortklassen vorsieht, bei dem keine Treppen im Fahrzeug vorgesehen werden, ergeben sich neue Anforderungen an die Gestaltung und Auslegung der zugehörigen Bahnhofsinfrastruktur. Hierfür wurde ein neues Bahnhofskonzept erarbeitet. Einerseits erforderte die höhere Fahrgastkapazität der Züge die Anpassung der Bahnsteig- und Zugangsbreiten. Andererseits musste, aufgrund des neuartigen Ein- und Ausstiegskonzepts, eine Lösung von Zwillingsbahnsteigen in Verbindung mit einem oberen Fahrzeugzugang gefunden werden. Das erarbeitete Konzept sieht daher bei einem doppelgleisigen Halt zweier NGT HST-Züge einen Mittelbahnsteig sowie zwei Außenbahnsteige vor. Der obere Fahrzeugzugang erfolgt über eine zweite Ebene für die eine Satellitenstruktur abgeleitet wurde, welche gleichzeitig als Wartebereich bzw. Lounge dient. Nachdem im bisherigen Projektverlauf, das Gesamtkonzept der NGS entwickelt wurde, rückt im DLR-Projekt TRANSITION zukünftig die praktische Gestaltung der NGS in den Fokus. Auf Basis des NGS-Konzeptes wird ein Simulationsmodell aufgebaut, mit dessen Hilfe der Fahrgastfluss innerhalb des Bahnhofes abgebildet werden kann. Ziel ist die Identifikation von Engpässen und die Entwicklung von Verbesserungen in Richtung einer fahrgastflussoptimierten Bahnhofsgestaltung. Auch ermöglicht eine solche Simulationsumgebung, den Einfluss unterschiedlicher Sicherheitskonzepte auf die Reisezeit zu quantifizieren. Neben der Optimierung des Fahrgastflusses stellt die Implementierung des vorgeschlagenen Gepäcksystems in die NGS-Struktur einen weiteren zukünftigen Fokus dar. ■ LITERATUR [1] Bundesregierung: Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD - 19. Legislaturperiode (https: / / www.bundesregierung.de/ resource/ blob/ 975226/ 847984/ 5b8bc23590d4cb2892 b31c987ad672b7/ 2018-03-14-koalitionsvertrag-data.pdf? download=1) abgerufen am 06.01.2020 [2] DPA, ZDF: Investitionen in 2019. 1,3 Milliarden für Sanierung von Bahnhöfen (https: / / www.zdf.de/ nachrichten/ heute/ sanierung-von-bahnhoefen-1-3-milliarden-in-2019-investiert-100.html) abgerufen am 06.01.2020 [3] Der Tagesspiegel: Der Hauptbahnhof kommt mittelfristig ans Limit. (https: / / www.tagesspiegel.de/ berlin/ kann-berlin-mehr-zug-vertragen-der-hauptbahnhof-kommt-mittelfristig-ans-limit/ 24439052.html) abgerufen am 06.01.2020 [4] Hamburger Abendblatt: Hamburger Hauptbahnhof: Neue Zugänge, Abriss der Kioske. (https: / / www.abendblatt.de/ hamburg/ article215594639/ Hamburger-Hauptbahnhof- Neue-Zugaenge-Abriss-der-Kioske.html) abgerufen am 06.01.2020 [5] Neue Presse: Hannovers Hauptbahnhof wird für 14 Jahre zur Großbaustelle (https: / / www.neuepresse.de/ Hannover/ Meine-Stadt/ Hannover-Hauptbahnhof-wird-Grossbaustelle-fuer-14-Jahre) abgerufen am 06.01.2020 [6] Winter, J., (2019): Next Generation Train - 20 Jahre Forschung für die Eisenbahn. ETR - Eisenbahntechnische Rundschau, Nr. 3, Seiten 17-21 [7] Christ, T., Institut für Flughafenwesen und Luftverkehr: Traffic Oriented Microscopic Simulator (TOMICS) (https: / / www.dlr.de/ fw/ desktopdefault.aspx/ tabid-5980/ 9752_read- 19750/ ) abgerufen am 06.01.2020 [8] Hartung, J.; et al.: (2005): Statistik: Lehr- und Handbuch der angewandten Statistik, 14. Auflage, Oldenbourg Wissenschaftsverlag, München [9] Steland, A.: (2004): Mathematische Grundlagen der empirischen Forschung (Statistik und ihre Anwendungen), 1. Auflage, Springer Verlag, Heidelberg [10] Winter, J.; Kalatz, C.: (2014): Ultra-High-Speed Passenger Train (NGT HST): Conceptual Design of an Innovative Station. Proceedings of the Second International Conference on Railway Technology: Research, Development and Maintenance. Ajaccio, Korsika [11] Krüger, D.; Winter, J.: (2014): NGT LINK: Ein Zugkonzept für schnelle doppelstöckige Regionalfahrzeuge. ZEVRail, Nr. 10, Seiten 442-449 [12] Rüger, B.: (2005): Attraktivität und Effektivität: Widerspruch oder Ergänzung, Railways on the Edge of the 3rd Millennium, 12th International Symposium, Universität Zilina [13] Rüger, B.: (2007): Beförderung- und Betriebsqualität im Personenfernverkehr-Optimierungspotentiale beim Reisezugwagenbau. 21. Verkehrswissenschaftliche Tage Dresden, Innovation und Investition: Wie gestalten wir die Zukunft des öffentlichen Verkehrs? Seiten 1-27 [14] Rüger, B.; et al.: (2015): KundInnengerechte Reisegepäckbeförderung. Eisenbahntechnische Rundschau (ETR), Juli+August, Seiten 75-79 [15] Ebenfeld, S.: (2010): Gepäckverkehr - Die Koffer bei der Eisenbahn 1835-2010. Reisebegleiter - mehr als nur Gepäck: Begleitband zur Ausstellung im Germanischen Nationalmuseum, Nürnberg, 9. Dezember 2010 bis 1. Mai 2011, Seiten 163-179 Bild 8: Next Generation Station Fotografie und Visualisierung/ CGI: Christian Höhn und Benjamin Wiesse Gregor Malzacher, Dipl.-Ing. Wissenschaftlicher Mitarbeiter, DLR-Institut für Fahrzeugkonzepte, Forschungsfeld Fahrzeug-Architekturen und Leichtbaukonzepte, Stuttgart gregor.malzacher@dlr.de Joachim Winter, Dr.-Ing. Seniorwissenschaftler - Projektleiter Next Generation Train (NGT), DLR-Institut für Fahrzeugkonzepte, Stuttgart joachim.winter@dlr.de Mathias Böhm, Dipl.-Ing. Wissenschaftlicher Mitarbeiter, DLR Institut für Fahrzeugkonzepte, Forschungsfeld Technologiebewertung und Systemanalyse, Berlin mathias.boehm@dlr.de Andrei Popa, Dipl.-Wirtsch.-Ing (FH), M.A. Wissenschaftlicher Mitarbeiter, DLR-Institut für Flughafenwesen und Luftverkehr, Abteilung Flughafenforschung, Braunschweig andrei.popa@dlr.de
