Internationales Verkehrswesen
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expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2020-0025
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Busse und Trams aus der Cloud gesteuert
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Eric Nöh
Niederländische Fahrgäste des Öffentlichen Personennahverkehrs stehen mehr als anderswo im Fokus der Betreiber. Auch in Amsterdam, wo die GVB die Verantwortung trägt, ist das so. Pünktlichkeit und Informiertheit lauten hier die zwei wichtigsten Schlagworte. Ein zentrales Element zur Erfüllung dieser Ziele ist das Betriebsleitsystem (ITCS). Das erfuhr erst kürzlich ein umfassendes Upgrade und wurde anschließend erfolgreich in die neue Cloud-Struktur des Verkehrsunternehmens migriert.
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Internationales Verkehrswesen (72) 1 | 2020 84 TECHNOLOGIE Praxis Busse und Trams aus der Cloud gesteuert GVB Amsterdam setzt auf hochleistungsfähiges Betriebsleitsystem und migriert vollständig in die Cloud ÖPNV, Betriebsleitsystem, ITCS, Cloud, Fahrgastinformation Niederländische Fahrgäste des Öffentlichen Personennahverkehrs stehen mehr als anderswo im Fokus der Betreiber. Auch in Amsterdam, wo die GVB die Verantwortung trägt, ist das so. Pünktlichkeit und Informiertheit lauten hier die zwei wichtigsten Schlagworte. Ein zentrales Element zur Erfüllung dieser Ziele ist das Betriebsleitsystem (ITCS). Das erfuhr erst kürzlich ein umfassendes Upgrade und wurde anschließend erfolgreich in die neue Cloud-Struktur des Verkehrsunternehmens migriert. Eric Nöh A msterdam ohne Busse, Straßenbahnen und Metro? Wer schon einmal in Amsterdam war, weiß: Das ist undenkbar. In kaum einer anderen Stadt erfreut sich das städtische Netz einer solch großen Beliebtheit. Kein Wunder, denn mit 43 Buslinien, 15 Straßenbahnlinien, vier Metrolinien und sechs Fährverbindungen kann man an ziemlich jeden Ort in Amsterdam gelangen. Über 900.000 Passagiere nutzen täglich allein die Bus- und Tramlinien, die genau wie die Metro- und Fährverbindungen von GVB betrieben werden. Selbstverständlich bedürfen ein solch komplexes Liniennetz und ein so großer Fuhrpark unterstützende IT-Systeme. Für den Bus- und Tram-Betrieb mit jeweils 200 Bussen und Straßenbahnen etwa setzt das Betreiberunternehmen GVB - offiziell im Jahr 1900 gegründet - bereits seit 2006 auf das Betriebsleitsystem (ITCS) der PSI Transcom, das auf der Systemplattform PSItraffic basiert. Das System ist Dreh- und Angelpunkt für die Pünktlichkeit der Fahrzeuge und die hohe Leistungsfähigkeit der Fahrgastinformation. Denn hier laufen sämtliche Informationen in der Leitstelle zusammen. Dabei ist klar: Die Liebe für den ÖPNV hat vor allem auch etwas mit der Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit der Verkehrsmittel zu tun. „In den Niederlanden steht der Passagier in einem besonderen Maße im Fokus aller Anstrengungen der Verkehrsunternehmen“, beschreibt Johannes Kremp, Projektleiter der PSI Transcom. „Pünktliche Busse und Bahnen einerseits und eine schnelle und präzise Informierung der Fahrgäste über Abweichungen andererseits haben daher oberste Priorität“. Genau das war auch der Ausgangspunkt für die Einführung des Betriebsleitsystems PSItraffic/ ITCS im Jahr 2006. Damals beklagten die Amsterdamer den unpünktlichen ÖPNV ihrer Stadt und fühlten sich bei Fahrplanabweichungen unzureichend informiert. GVB führte daher ein neues Leitstellensystem ein und rüstete in diesem Zuge das gesamte Streckennetz mit einer großen Zahl Anzeiger auf. Auch ein Relaunch der Webseite und der Launch einer Fahrgast-App gehörten zur Initiative. Zum Einsatz kommen seither sämtliche Funktionen eines Leitsystems, die zum großen Teil bereits im Standard geboten werden. Dazu zählen z. B. die permanente Verfolgung der Fahrzeuge und deren Betriebslage oder die Anzeige dynamischer Fahrgastinformationen. Das Ergebnis: deutliche weniger Fahrplanabweichungen, eine bessere Fahrgastinformation und - vor allem - zufriedenere Fahrgäste. Informationen im Sekundentakt Im Jahr 2016 fragte GVB im Rahmen des Wartungsvertrags schließlich nach einem umfangreichen Upgrade des Betriebsleitsystems - bei gleichbleibenden Funktionen. GVB kann mit diesem Schritt auf eine moderne Oberfläche und zugleich auf ein modularisiertes, zukunftsorientiertes System aufbauen. Denn neben vorhandenen Standardschnittstellen wie etwa der VDV- Schnittstelle kann es um weitere Schnittstellen zu Systemen anderer Hersteller erweitert werden - ein zentrales Qualitätskriterium moderner Softwarelösungen. Und im Rahmen des Upgrades stand ein weiteres Ziel im Fokus: Die Bestimmung der Fahrzeugposition sollte noch genauer werden - und mit ihr die Qualität der Verkehrslenkung und Fahrgastinformation weiter steigen. Bis zu diesem Zeitpunkt erfasste das System lediglich die Position eines Fahrzeugs beim Verlassen einer Haltestelle und informierte darüber hinaus erst bei einer zeitlichen Planabweichung ab 60- Sekunden. Dieser Automatismus sollte auf 15 Sekunden reduziert werden - einerseits um den Disponenten eine noch bessere Übersicht etwa für Reaktionen bei Abweichungen zu bieten und andererseits um die Fahrgäste noch schneller und präziser zu informieren. „Wir sind hier auf Wunsch der GVB sogar noch einen Schritt weitergegangen und testen im Moment parallel zur 15-Sekunden-Lösung auch eine zyklische Positionsmeldung. In beiden Fällen wird die Leitstelle künftig über eine Übersicht fast in Echtzeit verfügen“, beschreibt Kremp. „So oder so bedeuten die Lösungen aber auch eine höhere Last auf das System, das nun deutlich mehr Daten aufnehmen und verarbeiten muss.“ Inzwischen werden Neu- und Altsystem bis zur vollständigen Migration über ein intelligentes Bridge-Konzept parallel geführt und getestet. Das heißt, die Systeme werden jeweils mit allen Daten der angeschlossenen IT-Lösungen versorgt und Eingaben, die über das Altsystem erfolgen, automatisch auch in das Neusystem übertragen und andersrum. „Wir können auf diese Weise ge- Internationales Verkehrswesen (72) 1 | 2020 85 Praxis TECHNOLOGIE nau vergleichen, wie sich welches System verhält und bei ungewollten Abweichungen im Neusystem justieren“ erklärt Kremp die Vorzüge der Lösung und ergänzt: „Vor allem haben die Disponenten auch die Chance, metaphorisch gesprochen schrittweise über die neue Brücke zu gehen. So können sie bestimmte Eingaben im Neusystem machen, während sie in anderen Bereichen noch im Altsystem arbeiten. Sie entscheiden also selbst, wann sie den Wechsel vollständig vollziehen wollen.“ Reibungslose Migration in die Cloud Neu ist aber inzwischen nicht nur das ITCS, sondern auch der fast vollständige Betrieb in der Cloud. Denn noch während des Upgrades beschlossen die GVB-Verantwortlichen, mit der gesamten IT in die Azure- Cloud von Microsoft zu migrieren - einschließlich Betriebsleitsystem. „Die Vorteile für ein Unternehmen des ÖPNV decken sich mit den generischen Vorteilen einer Cloud-Lösung. Neben der Kostenersparnis durch den Wegfall der Anschaffungs- und Wartungskosten für Hardware kommt vor allem auch die Skalierbarkeit zum Tragen“, so der PSI-Projektleiter. Zwar kommt es zu keinen großen Änderungen hinsichtlich der Größe der Fahrzeugflotte, aber funktional, z. B. für einen erhöhten Nachrichtenaustausch bzw. die Leistungsfähigkeit der eingesetzten Server, hat das durchaus Relevanz. „Uns war klar, dass es im Grunde egal ist, wo PSItraffic läuft. Da es aber ein klassisches Client-Server-System ist, gab es natürlich dennoch einige Dinge bei der Migration zu beachten“, beschreibt Kremp. So laufen die Client-Systeme und damit vor allem auch die von den Disponenten genutzten Oberflächen unabhängig vom Backend und auf beliebigen Umgebungen, angefangen vom Desktop-PC, über Virtualisierungen (Citrix, Cloud) bis hin zu einer Smartphone App. Das Backend-System aus Datenbanken- und Applikationsservern läuft hingegen in aller Regel vor Ort auf so genannten On-Premise-Systemen - bei GVB nun autark in der Cloud, bzw. über die Remote- Dienste des Cloud-Anbieters. „Der kritische Punkt war also das Netzwerk-Routing bzw. die initiale Verbindungsherstellung. Wenn der Remote-Zugriff funktioniert, funktioniert das ganze System“, so Kremp. Denn er stellt sicher, dass alle Systeme, die mit dem Betriebsleitsystem im Austausch stehen, erreicht werden. Dazu zählen z. B. die Kommunikation mit der Fahrzeugflotte, die Ansteuerung des Weichensystems, alle Datenbanken, die noch nicht in die Cloud migriert sind, oder die Datendrehscheibe, über die sämtliche Anzeiger angesteuert werden. Inzwischen läuft das gesamte Backend-System also vollständig in der Cloud, der ITCS-Client ist Citrix-basiert. Für die rechenintensiven Arbeitsplätze der Disponenten mit vielen Bildschirmen und Sichten folgte GVB zudem der Empfehlung der PSI-Berater, auch zukünftig auf physische Rechner zu setzen, um keine Latenzprobleme zu erzeugen. „Rückblickend können wir wirklich sagen, dass die Migration völlig ,geräuschlos‘ verlief“, fasst Kremp zusammen. So verwundert es auch nicht, dass GVB bereits die nächsten Ausbauschritte in Angriff nimmt. In Planung sind z. B. die Einführung eines neuen Betriebshofmanagement-Systems, die Erneuerung der Bordrechner und mit ihr der Ausbau der Fahrzeugkommunikation - und zwar vollständig in der Cloud. Ein leistungsfähiges Leitsystem mit-Zukunft Amsterdam verfügt schon jetzt über einen zuverlässigen ÖPNV. Die Hauptverantwortung dafür trägt das Mobilitätsunternehmen GVB, das stetig an der Verbesserung der Services und damit auch an den IT-Systemen im Hintergrund arbeitet. Das umfangreiche Upgrade des etablierten Betriebsleitsystems führte zum Beispiel zu einer noch besseren Übersicht der Leitstelle über die aktuelle Betriebslage und trägt zu einer weiteren Qualitätssteigerung der Dienstleistungen des Unternehmens bei. In Kombination mit der Cloud-Struktur verfügt GVB über ein hochleistungsfähiges und skalierbares Leitsystem, das das Unternehmen optimal für die nächsten Herausforderungen wappnet. ■ Eric Nöh Leiter Vertrieb ÖPNV, PSI Transcom, Berlin enoeh@psi.de Die PSItraffic-Benutzeroberfläche mit verschiedenen Sichten Quelle: PSI Transcom GmbH Die PSItraffic-Heatmap zeigt die Pünktlichkeit der Fahrzeuge an Quelle: PSI Transcom GmbH
