Internationales Verkehrswesen
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expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2020-0033
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Krisenmanagement aus dem Home Office - gar nicht so einfach
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Frank Hütten
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Internationales Verkehrswesen (72) 2 | 2020 15 N ach Wochen des sozialen Abstandhaltens und Zuhausebleibens ist es fast schon normal geworden: Die Atmosphäre im Brüsseler EU-Viertel ist die eines ewigen Sonntagmorgens. Die Straßen verlassen, Cafés und Geschäfte geschlossen, und wer vom Rond-Point Schuman zwischen Hauptsitz der EU-Kommission und Ministerrat die Rue de la Loi hinunterblickt, sieht statt der üblichen endlosen Reihe von Rücklichtern höchstens das ein oder andere vereinzelte Auto. Für die Akteure des Politikbetriebs fühlt sich das alles weit weniger normal an. Zu den Wenigen, die sich noch vor Ort treffen, gehören die EU-Botschafter der Mitgliedstaaten. Sie nutzen die großen, jetzt leeren Sitzungssäle des Ministerrats, da lässt sich der nötige Abstand am besten wahren. Dort bereiten sie etwa Beschlüsse der Minister vor. Die Regeln wurden zu Beginn der Krise geändert, damit mehr davon im schriftlichen Verfahren gefasst werden können. So verabschiedeten die Mitgliedstaaten etwa in erster Lesung das Mobilitätspaket für den Straßengüterverkehr. Aber EU-Politik aus dem Home Office ist nicht so einfach, das zeigen die Erfahrungen. Das Europäische Parlament brauchte bei seiner ersten weitgehend virtuellen Plenarsitzung für drei Abstimmungen fast einen ganzen Tag, obwohl die Themen - darunter die Anpassung der Slot-Verordnung, damit Airlines wegen der Coronavirus-Krise nicht ihre Start- und Landerechte verlieren - weitgehend unstrittig waren. Schwer vorstellbar, wie unter diesen Bedingungen kontroverse Themen diskutiert und Abstimmungen mit hunderten von Änderungsanträgen über die Bühne gebracht werden können. Ähnlich sieht es im Ministerrat aus. In Videokonferenzen wird die Möglichkeit vermisst, in spontanen bilateralen Gesprächen mögliche Kompromisse auszuloten. Auch weiß man nie so genau, wer hinter den Bildschirmen so alles mithört. Die Finanzminister brauchten für ihre Vorschläge zur Mobilisierung großer Finanzhilfen mehrere Tage. Und viele weitere, schwierige Entscheidungen werden noch zu treffen sein, um diese Krise ungekannten Ausmaßes zu überwinden und das Wirtschaftsleben wieder in Gang zu bringen. So hat unter EU-Politikern eine Diskussion über globale Lieferketten begonnen. Die große Abhängigkeit der Europäer von der Versorgung mit manchen wichtigen Produkten aus Drittstaaten sollte hinterfragt werden, sagte etwa EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. „Es ist wichtig, die Lieferketten zu verkürzen und zu diversifizieren. Es muss mehr Lieferketten geben und man darf nicht nur von einem Anbieter abhängig sein.“ Zunächst im Blickpunkt stehen dabei medizinische Produkte und Schutzausrüstung. Hier sprechen sich etwa auch Charles Michel, der Präsident des Europäischen Rates, der europäische Verband der Handelskammern (Eurochambres) und Ismail Ertug, Vize-Fraktionsvorsitzender der Sozialdemokraten im Europäischen Parlament, für mehr Produktionskapazitäten in Europa aus. „Wir bauen eine europäische Batteriezellenproduktion auf, weil wir erkannt haben, wir können nicht auf Dauer abhängig bleiben von den Asiaten. Dasselbe wollen wir glücklicherweise bei der Wasserstofftechnologie machen, aber bei medizinischen Produkten muss man es auch machen, weil uns die Krise ganz klar gezeigt hat, dass es entscheidend sein wird“, sagte Ertug. Von der Leyen blickt aber über medizinische Produkte hinaus. Eine gut funktionierende Kreislaufwirtschaft könne etwa dazu führen, dass mehr Rohstoffe durch Recycling in Europa gewonnen werden und nicht aus Drittstaaten importiert werden müssen, sagte sie. Die Diskussion über Korrekturen in den Lieferketten und die Zukunft der globalisierten Weltwirtschaft nach Corona hat sicher erst begonnen. Aktuell muss die EU aufpassen, dass sie in der Krise nicht politisch auseinanderfällt und dass der Binnenmarkt, ihr stärkster wirtschaftlicher Trumpf, nicht durch nationale Ausnahmeregeln zerfleddert wird. Grenzkontrollen und Reisebeschränkungen sind ein schwerer Schlag, der Güterverkehr musste durch das Drängen der Kommission auf „grüne Vorrangspuren“ an den Grenzübergängen mühsam wieder einigermaßen flott gemacht werden. Die Mitgliedstaaten haben die Kommission auch (inoffiziell) aufgefordert, Vertragsverletzungsverfahren nicht oder nur langsam voranzutreiben. Die Kommission muss aber weiterhin „Hüterin der Verträge“ bleiben. Langmut bei Vertragsverletzungsverfahren beweist sie ohnehin meist. Der gemeinsame Markt braucht gemeinsame Regeln. „Rosinenpicken“ verträgt er nicht, das hat die EU erst kürzlich noch den Briten erklärt. In einem funktionierenden Binnenmarkt sind manche Sonderregeln wie „Vorrangspuren“ für Güterverkehr zudem überflüssig. Die sind da nämlich schon inklusive.-- ■ Frank Hütten EU-Korrespondent der DVZ Deutsche Verkehrs-Zeitung B E R I C H T A U S B R Ü S S E L VON FRANK HÜTTEN Krisenmanagement aus dem Home Office - gar nicht so einfach
