eJournals Internationales Verkehrswesen 72/2

Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2020-0034
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2020
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Die globale Verkehrswende und Covid-19

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Linus Platzer
Seit Beginn der Coronavirus-Pandemie im Januar haben Staatsregierungen und Stadtverwaltungen weltweit Wege gesucht, den auftretenden Herausforderungen im Bereich Transport und Mobilität zu begegnen. Neben massiven Einschränkungen durch behördliche Anordnungen von Ausgangssperren und Quarantäne, die das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben nahezu zum Stillstand brachten, haben Verkehrsplaner und Betreiber in dieser Krise auch innovative Möglichkeiten gefunden. Dieser Beitrag präsentiert verschiedene dieser Strategien und stellt sie in den Zusammenhang mit Aspekten nachhaltiger städtischer Mobilität.
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POLITIK International Internationales Verkehrswesen (72) 2 | 2020 16 Die globale Verkehrswende und Covid-19 Wie der Mobilitätssektor weltweit auf die aktuelle Pandemie reagiert Verkehrswende, Coronavirus, Resilienz, ÖPNV, Aktive Mobilität Seit Beginn der Coronavirus-Pandemie im Januar haben Staatsregierungen und Stadtverwaltungen weltweit Wege gesucht, den auftretenden Herausforderungen im Bereich Transport und Mobilität zu begegnen. Neben massiven Einschränkungen durch behördliche Anordnungen von Ausgangssperren und Quarantäne, die das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben nahezu zum Stillstand brachten, haben Verkehrsplaner und Betreiber in dieser Krise auch innovative Möglichkeiten gefunden. Dieser Beitrag präsentiert verschiedene dieser Strategien und stellt sie in den Zusammenhang mit Aspekten nachhaltiger städtischer Mobilität. Linus Platzer D ie Coronavirus-Pandemie hat den ganzen Globus unerwartet getroffen. Weltweit hat sie die Verkehrssysteme stark beeinträchtigt und damit die Mobilität tausender Menschen rund um den Globus plötzlich verändert. Nationale Regierungen und Städte haben unterschiedliche Wege gefunden, um auf die Herausforderungen der Pandemie zu reagieren. Neben Einschränkungen der Zugänglichkeit und Verfügbarkeit von öffentlichen Verkehrsmitteln, haben viele Verkehrsplanerinnen und städtische Entscheider auch innovative Maßnahmen getroffen, um auf das Virus zu reagieren und Menschen zu schützen. Der Artikel beschreibt mehrere Handlungsfelder und stellt erste Erfahrungen zusammen, um die Auswirkungen der Pandemie im Kontext nachhaltiger Mobilität weltweit zu berücksichtigen. Rad- und Fußverkehr: Tiefgreifende Verlagerungen hin zu aktiver Mobilität und ein verstärkter Fokus auf öffentlichen Raum Die Reaktionen auf die Pandemie haben eine abrupte Verschiebung der Verkehrsmodi verursacht. So hat beispielsweise das Radfahren einen Aufschwung als zuverlässiger und sicherer Modus erlebt, unterstützt durch rasche Maßnahmen zur Erweiterung des öffentlichen Raums für aktive Mobilität. Ausweitungen von Radwegen und Sperrungen einiger Straßen für Autos, wenngleich auch zunächst nur vorübergehend, haben Fußgängern den Raum zur Verfügung gestellt, um gleichzeitig die gebotene physische Distanz halten zu können (Schwedhelm et al. 2020). Die kolumbianische Hauptstadt Bogotá hat beispielsweise ihr bereits umfangreiches Fahrradwegenetz um 35 km temporärer Strecken erweitert (Wray 2020). Die deutsche Hauptstadt Berlin und die österreichische Hauptstadt Wien haben Gestaltungsstandards für temporäre Radwege veröffentlicht und ebenfalls temporäre Radwege installiert, ähnlich wie in anderen Städten, darunter Budapest, Mexiko-Stadt oder New York City. Weitere Maßnahmen zur Förderung des Rad- und Fußverkehrs sind reduzierte oder gar erlassene Tarife bei Bikesharing-Systemen, verbesserte Straßenkreuzungsbedingungen an Ampeln oder Geschwindigkeitsbegrenzungen zugunsten einer gemeinsamen Straßennutzung (Combs 2020). Öffentlicher Verkehr: Erste Reaktionen zur Eindämmung des Virus und langfristige Auswirkungen auf Auslastung und Beschäftigung In Bezug auf die Ausbreitung des Virus scheinen Busse und Bahnen leider zur Ausbreitung von Infektionen beigetragen zu haben. Dies wurde durch eine Studie über die Ansteckung von neun Passagieren in einem Bus in Hunan, China im Januar bekannt (die Studie wurde allerdings inzwischen ohne Angabe von Gründen zurückgezogen.) In vielen chinesischen Städten wie Wuhan oder Huanggang oder auch in der indischen Stadt Delhi wurde der öffentliche Verkehr daher zunächst weitestgehend komplett eingestellt, um das Virus einzudämmen. Obwohl die nahezu vollständige Stilllegung öffentlicher Verkehrssysteme zu Beginn der Pandemie nur von wenigen Städten als drastische Maßnahme eingesetzt wurde, haben schnelle Reaktionen geholfen, Risiken für Personal und Fahrgäste im öffentlichen Verkehr zu minimieren. Gleichzeitig ist die große Mehrheit der Städte auch für essentielle Tätigkeiten weiterhin auf funktionierenden Nahverkehr angewiesen. Die Betreiber, die sich gegen eine vollständige Schließung entschieden haben, haben vorbeugende Maßnahmen zur Ausbreitung des Virus ergriffen. In China hat die Shenzhen Bus Group (SZBG) frühzeitig eine Reihe von Desinfektions- und Hygienemaßnahmen umgesetzt, Hygienematerialien beschafft und die betriebliche Organisation der Mitarbeiterinnen verändert, um die Bemühungen zur Bekämpfung des Virus zu erleichtern. Die SZBG hat ebenso eine strategische Arbeitsgruppe zur Prävention und Bekämpfung von Epidemien eingerichtet und Leitliniendokumente herausgegeben, um die Reaktion des Unternehmens zu koordinieren (Shenzhen Bus Group 2020). In Kochi, Indien, führte die Metro Rail an allen U-Bahn- Stationen und Standorten spezielle Hygiene- und Desinfektionsmaßnahmen durch, um das Risiko einer Ausbreitung zu verringern. Transportunternehmen in Indien versuchen auch, die Nachfrage an Transitstationen und Eingängen zu steuern, um die Passagierzahl zu verringern. In Südkorea hat der U-Bahn- Internationales Verkehrswesen (72) 2 | 2020 17 International POLITIK Betreiber in Seoul Züge und Stationen mehrfach täglich desinfiziert und den Fahrgästen versichert, dass ihre Züge Covid-19-frei seien, nachdem diese von bestätigten Coronavirus-Patienten verwendet wurden. Eine weitere Reaktion der Verkehrsunternehmen besteht darin, die Servicefrequenz von Bussen zu erhöhen, um die Anzahl der Fahrgäste pro Fahrzeug zu verringern. Diese Fahrplanänderungen sollten jedoch nach Rücksprache mit den beteiligten Interessengruppen und mit ausreichender Vorlaufzeit der Öffentlichkeit klar mitgeteilt werden. Andernfalls kann, wie das Beispiel von Jakarta, Indonesien, zeigt, eine einseitige Reduzierung des Angebots bei gleichbleibender Nachfrage zu einer noch stärkeren Konzentration der Passagiere führen und somit kontraproduktive Ergebnisse erzielen. Beobachter berichteten, dass diese eilige Entscheidung im Gegensatz zu den finanziellen Anreizen privater Unternehmen stand, so dass viele Personen nun mit noch weniger Platz zur Arbeit fahren mussten (Wagner et al. 2020). Die Pandemie birgt aber auch andere Probleme für den öffentlichen Verkehrssektor. So haben Experten berechnet, wie das deutsche öffentliche Verkehrssystem nach den Pandemie-Reaktionen aufgrund des starken Rückgangs der Fahrgastzahlen schwerwiegenden finanziellen Schwierigkeiten ausgesetzt sein könnte. Selbst im besten Szenario könnten die erwarteten Einnahmeverluste für öffentliche Verkehrsunternehmen bis Ende 2023 zwischen 5 und 10 Mrd. EUR liegen (Civity Management Consultants 2020). Angesichts der für den Betrieb des Nahverkehrs erforderlichen Subventionierung könnte dies die öffentlichen Finanzen auch lange nach der Pandemie belasten. Das finanzielle Risiko für Verkehrsunternehmen und Stadtverwaltungen besteht insbesondere in den Städten und Regionen in der Welt, in denen der als Paratransit bekannte informelle, privat geführte Verkehr das Rückgrat der täglichen Mobilität darstellt. In Städten wie Lagos, Nigeria, in denen die meisten Fahrten mit Minibussen und Taxis durchgeführt werden, verschärft die aktuelle gesundheitliche Notlage bereits bestehende Unterschiede zwischen formellen und informellen Verkehrssystemen (John 2020). Die Beschäftigungsaussichten für Millionen von Kleinunternehmern, die von täglichen Einnahmen abhängig sind, werden sich daher vermutlich verschlechtern. Eine koordinierte Reaktion und Regulierung des Stadtverkehrs vonseiten des Staates scheint zudem aufgrund fehlender Haushaltsmittel erschwert, mit negativen Folgen für die Lebensgrundlage von Beschäftigten und Nutzerinnen. Während Kleinunternehmer vor besonderen Herausforderungen stehen, liefern innovative Organisationen im Bereich geteilter Mobilitätsdienstleistungen hingegen möglicherweise auch kreative Antworten mit Augenmaß (ITDP 2020). In Bogotá hat beispielsweise eine Bikesharing-Firma dem medizinischen Personal 400 Elektrofahrräder zur Verfügung gestellt, mit dem es seine Arbeit erreichen und speziell eingerichtete Radwege nutzen kann. Ein weiteres ermutigendes Beispiel aus Singra, Bangladesch, zeigt die versatile und flexible Verwendung von Kleinstfahrzeugen. Mit Unterstützung der Transformative Urban Mobility Initiative (TUMI) wurden 2019 E-Rikschas sowie zwei Rettungsfahrzeuge eingeführt, um das Fehlen des regulären öffentlichen Verkehrssystems auszugleichen. Diese Fahrzeuge werden nun im Auftrag des Bürgermeisters eingesetzt, um dringend benötigte Lebensmittel auszuliefern (Sensöz 2020). Ausblick Wagner et al. (2020) haben aufgezeigt, dass Reaktionen im Mobilitätsbereich auf verschiedene Phasen des Virusausbruchs entlang des etablierten Avoid-Shift-Improve- Paradigmas unterschiedlich aussehen können und sollten. Verkehrsunternehmen zählen sicherlich zu den Ersthelfern der Krise und sind daher systemrelevante Bestandteile einer Krisenstrategie. Dies zeigt sich insbesondere in der Bedeutung, die angepasstem Nachfragemanagement, sowie Notfalltransport und logistischen Dienstleistungen zukommt. Doch die Auswirkungen auf das Verkehrssystem müssen auch bei schrittweisen Verschärfungen oder Lockerungen des sozialen und wirtschaftlichen Lebens mitbedacht werden. Gleichzeitig haben nicht nur Regierungen und Verkehrsplaner*innen auf die Pandemie reagiert. Viele internationale Verkehrsnetzwerke und Forscher sammeln Daten und Fallstudien, erarbeiten Leitlinien und politische Ratschläge und koordinieren Bemühungen, um die Städte und Verkehrsunternehmen vor Ort zu unterstützen. Ein Beispiel bietet die Beobachtungsplattform unter www.transformative-mobility.org/ corona. Auch wenn zum gegebenen Zeitpunkt Beobachtungen und Schlussfolgerungen jeglicher Art vorläufig sind, geben Dalkmann et al. (2020) einen guten ersten Überblick über diese internationalen Aktivitäten. Die enorme Herausforderung, Städte in Richtung einer nachhaltigeren Mobilität zu bewegen und gleichzeitig auf die Klimakrise zu reagieren, wird während und nach der Pandemie nun vorraussichtlich noch größer sein - Budgets könnten spärlicher ausfallen, Ausbau und Austausch begrenzt werden, und Aufmerksamkeit auf anderen dringenderen Themen liegen. Die Resilienz und Effektivität von Verkehrssystemen bei der Bewältigung dieser vielfältigen Krisen bei gleichzeitiger Wahrung der persönlichen Mobilität und Beschäftigung von Menschen wird ab diesem Pandemie-Jahr für die Beurteilung und Entscheidung von Verkehrsprojekten von größerer Bedeutung sein. Die offene Frage bleibt daher nicht nur, wie das Coronavirus unsere heutige Mobilität verändern wird, sondern auch, wie Mobilität nun transformiert werden kann und muss, um auf die künftigen Herausforderungen zu reagieren und sie zu meistern. ■ QUELLEN Civity Management Consultants (2020): Verkehrswende: aufgehoben oder aufgeschoben? - Corona Szenarien für den ÖPNV. 03.04.2020. https: / / civity.de/ de/ news/ 2020/ 04/ corona-szenarien-f%C3%BCr-denoepnv/ (zuletzt abgerufen 17.04.2020) Combs, Tabitha (2020): Local Actions to Support Walking and Cycling During Social Distancing Dataset. http: / / pedbikeinfo.org/ resources/ resources_details.cfm? id=5209 (zuletzt abgerufen 21.04.2020) Dalkmann, Holger, et al. (2020): A Call for Collective Action for International Transport Stakeholders to Respond to the Covid-19 Pandemic. UK Department for International Development under the High Volume Transport (HVT) Applied Research Programme, managed by IMC Worldwide. April 2020. https: / / transport-links.com/ wp-content/ uploads/ 2020/ 04/ COVID-19-transport-overview-report.pdf (zuletzt abgerufen 21.04.2020) ITDP (2020): As the Impacts of Coronavirus Grow, Micromobility Fills in the Gaps. Institute for Transport & Development Policy. 24.03.2020. www.itdp.org/ 2020/ 03/ 24/ as-the-impacts-of-coronavirus-growmicromobility-fills-in-the-gaps/ (zuletzt abgerufen 24.04.2020) John, Emmanuel (2020): Covid-19 Implications for Public Transport and Shared Taxi in Nigeria. Transformative Urban Mobility Initiative. www. transformative-mobility.org/ news/ covid-19-implications-for-publictransport-and-shared-taxi-in-nigeria (zuletzt abgerufen 21.04.2020) Schwedhelm, Alejandro, et al. (2020): Biking Provides a Critical Lifeline During the Coronavirus Crisis. World Resources Institute. 17. 04 2020. www.wri.org/ blog/ 2020/ 04/ coronavirus-biking-critical-in-cities (zuletzt abgerufen 21.04.2020) Sensöz, Beste (2020): E-Rickshaws as an efficient Adaptation Method against Coronavirus. Transformative Urban Mobility Initiative. 02.04.2020. www.transformative-mobility.org/ news/ e-rickshaws-asan-efficient-adaptation-method-agains-coronavirus (zuletzt abgerufen 21.04.2020) Shenzhen Bus Group (2020): Combating COVID-19. Shenzhen Bus Group’s Experience. Polis. www.polisnetwork.eu/ wp-content/ uploads/ 2020/ 03/ 81b562ba-c438-453d-bea5-bbc61d16a14c.pdf (zuletzt abgerufen 21.04.2020) Wagner, Armin, et al. (2020): The COVID-19 outbreak and implications to sustainable urban mobility - some observations. Transformative Urban Mobility Initiative. Zuerst veröffentlicht 13.03.2020, letztes Update 02.04.2020. www.transformative-mobility.org/ news/ the-covid-19outbreak-and-implications-to-public-transport-some-observations (zuletzt abgerufen 21.04.2020) Wray, Sarah (2020): Bogotá expands bike lanes to curb coronavirus spread. SmartCitiesWorld.. 18.03.2020. www.smartcitiesworld.net/ news/ news/ bogota-expands-bike-lanes-overnight-to-curb-coronavirus-spread-5127 (zuletzt abgerufen 21.04.2020) Linus Platzer Berater Nachhaltige Mobilität, Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) GmbH, Eschborn linus.platzer@giz.de