eJournals Internationales Verkehrswesen 72/2

Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2020-0041
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Luftverkehr in und nach der Coronakrise

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Christoph Brützel
Das Coronavirus hat die gesamte Airline-Industrie in eine Krise gestürzt, die alles übertrifft, was sie in den vergangenen 30 Jahren wegen Golfkrieg, 9/11, Vulkanausbrüchen, Finanzkrise und auch regionaler Epidemien durchzustehen hatte. Die Krise trifft die Industrie in einer Phase, in der die Kapazitäten im Markt ohnehin übersetzt und eine weitere Konsolidierung überfällig war. Die aktuelle Krise könnte die Konsolidierung beschleunigen, birgt aber auch die Gefahr, dass durch Rückbesinnung auf nationale Luftverkehrsinteressen die Früchte der Liberalisierung und Integration des europäischen Luftverkehrsmarktes in Gefahr geraten.
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Internationales Verkehrswesen (72) 2 | 2020 36 MOBILITÄT Luftverkehr Luftverkehr in und nach der Coronakrise Zu den Auswirkungen der weltweiten Reisebeschränkungen auf die europäische Airline-Industrie Coronakrise, Luftverkehr, Europäische Airline-Industrie, Konsolidierung, Luftverkehrspolitik, Verstaatlichung, Rettungsaktionen, Resilienz Das Coronavirus hat die gesamte Airline-Industrie in eine Krise gestürzt, die alles übertrifft, was sie in den vergangenen 30 Jahren wegen Golfkrieg, 9/ 11, Vulkanausbrüchen, Finanzkrise und auch regionaler Epidemien durchzustehen hatte. Die Krise trifft die Industrie in einer Phase, in der die Kapazitäten im Markt ohnehin übersetzt und eine weitere Konsolidierung überfällig war. Die aktuelle Krise könnte die Konsolidierung beschleunigen, birgt aber auch die Gefahr, dass durch Rückbesinnung auf nationale Luftverkehrsinteressen die Früchte der Liberalisierung und Integration des europäischen Luftverkehrsmarktes in Gefahr geraten. Christoph Brützel L etzte IATA-Meldungen vom 14.04.2020 rechnen gegenüber 2019 Umsatzeinbußen von 314 Mrd. USD hoch, davon allein 89 Mrd. USD in Europa (Tabelle 1). 1 Diese Berechnungen gehen davon aus, dass die internationalen Reisebeschränkungen für drei Monate aufrechterhalten werden und dass sich im Nachgang nur allmählich erholen, so dass auch im 4. Quartal 2020 nur die Hälfte der abgebauten Kapazitäten wieder im Markt sein werden. Von den Umsatzeinbußen dürften, grob gerechnet, nach Abzug der Passagier- und flugabhängigen (variablen) Kosten und Maßnahmen zur Personalkostensenkung je nach Geschäftsmodell nahezu 50 % auf das Ergebnis durchschlagen. Der Rest verteilt sich als Umsatzeinbußen auf die Lieferanten, wie Treibstoffverkäufer, Flughäfen, Flugsicherung, Bodendienstleister etc. und auf Lohneinbußen der Mitarbeiter. Setzt man somit den erwarteten Verlust für 2020 bei 45-Mrd.-USD an, so wären damit alle in den letzten zehn Jahren erwirtschafteten Gewinne aufgezehrt (Bild 1). Die Krise überleben - wie und wer? Bereits in den vergangenen Jahren ist die Industrie durch einen Konsolidierungstrend gekennzeichnet. Allein im Jahr 2019 mussten 20 europäische Airlines den Betrieb einstellen, unter ihnen so bekannte Marken wie Germania, Flybmi, Wow Air, Thomas Cook, Aigle Azur und Adria Airways, aber auch Nischen-Player, wie Small Planet und Private Air und kleine Regionalflieger, wie Skywork. Die Krise wird die Spreu noch deutlicher vom Weizen trennen. Bereits der Hauch der Corona-Krise blies Air Italy und Flybe das Leben aus und Condor, die geglaubt hatte, sich unter die Fittiche der staatlichen polnischen Lot-Obergesellschaft gerettet zu haben, muss nun erneut um Staatshilfen verhandeln, um die Krise zu überleben. Besonders hart betroffen sind die Fluggesellschaften, die mangels Eigenkapital und Kreditwürdigkeit ihre Flotten geleast haben und daher jeden Monat die fälligen Raten zahlen müssen, auch wenn die Flugzeuge am Boden stehen. Für eine mehr oder weniger neue Boeing 737 oder A320 fallen je nach Ausstattung täglich 10.000 EUR an, für eine A320 Neo deutlich mehr. Wenn in der gegenwärtigen Krise diese Raten für Neugeschäfte auch schlagartig in den Boden sinken, so hilft dies denjenigen nicht, die ihre Verträge noch zu Zeiten geschlossen haben, als der Markt noch ausgewogen war. Da erweist es sich inzwischen als Glücksfall für die Airline-Industrie, wenn die bestellten Boeing 737 Max nicht auf dem eigenen Hof, sondern auf dem von Boeing stehen. Unter diesem Aspekt gehört TUI zu den Profiteuren, sie muss aber auch so schon für den Großteil ihrer Flotte Leasingraten zahlen, wobei die Airlines in der Gruppe nur einen Bruchteil der Gesamterlöse und Ausgaben verursachen. Unter den europäischen Netz-Carriern ist der Lufthansa-Konzern, der seine Flugzeuge fast durchgängig im Eigentum hat, am besten aufgestellt (Bild 2). Während auch Turkish Airlines den weitaus größten Teil ihrer Flugzeuge auf der eigenen Bilanz als Vermögensbestandteil ausweist, ist bei der IAG und der Air France-KLM-Gruppe der Anteil der Leasing-Flotte bereits deutlich höher. Region (Verkehrsursprung) Passagierkilometer Veränderung 2020 vs. 2019 (Mrd.) Erlöse Passagierverkehr Veränderung 2020 vs. 2019 (Mrd. USD) Asien-Pazifik - 50 % - 113 Nordamerika - 36 % - 64 Europa - 55 % - 89 Mittlerer Osten - 51 % - 24 Afrika - 51 % - 6 Lateinamerika - 49 % - 18 Gesamt - 48 % -314 Tabelle 1: Hochgerechte Umsatzeinbußen gegenüber dem Vorjahr (Quelle: IATA) Internationales Verkehrswesen (72) 2 | 2020 37 Luftverkehr MOBILITÄT Die beiden großen Low-Cost-Airlines, Ryanair und Easyjet, haben nur einen geringen Teil ihrer Flotte geleast, Wizz Air hingegen fast alle. Man sollte also meinen, dass Wizz Air, der zudem bereits im Vorfeld von Corona ihr wichtigster Investor, die Indigo- Gruppe, von der Fahne zu springen drohte, besonders exponiert sei. Natürlich verursachen auch Flugzeuge im Eigentum laufende Finanzierungslasten, allerdings nur in dem Umfang, wie sie fremdfinanziert sind. Außerdem sind Finanzierungen über langfristige Kredite oder Schuldverschreibungen im Hinblick auf den Tilgungsanteil der Bedienung liquiditätsschonender gestaltbar und nötigenfalls verhandelbar. Dennoch gibt der Verschuldungsgrad bzw. die Eigenkapitalquote zusätzlichen Aufschluss über die Substanz, von der die Airlines zehren können, bevor sie in die Überschuldung rutschen. Seit 2019 sind nicht nur die vertraglich vereinbarten Lasten aus Finanzierungsleasing, sondern auch die aus operativen Leasingverträgen nach internationalen Buchführungsgrundsätzen (IFRS 16) in der Bilanz zu passivieren. In Bild 3 sind diese Vertragslasten auch für die Gesellschaften berücksichtigt, für die noch keine Jahresabschlüsse für 2019 verfügbar sind. Sowohl beim Fremdkapital als auch beim Gesamt sind lediglich die zinspflichtigen Verbindlichkeiten berücksichtigt. Alitalia, Condor, Corendon und LOT veröffentlichen keine Jahresabschlüsse, so dass Sie im Vergleich unberücksichtigt bleiben. Die Auswertung zeigt, dass Easyjet, Ryanair und der LH-Konzern auch unter dem Aspekt der Finanzverschuldung in einer relativ komfortablen Situation sind. Die IAG rückt hingegen in die Nähe des hinteren Drittels, Norwegian fast an das Ende der Skala vor die tschechische CSA. Wizzair hingegen rückt deutlich auf. Neben der Finanzierungsstruktur spielen allerdings auch die Liquiditätsreserven eine bedeutende Rolle, wenn es ums Durchhalten geht. Airlines stehen die regelmäßig im Voraus kassierten Ticketerlöse gemeinhin revolvierend als langfristige Finanzierungsquelle zur Verfügung. Die aber gilt es jetzt zurückzuerstatten und auch Lieferantenverbindlichkeiten müssen beglichen werden, ohne dass hierfür Cash flow aus dem stillstehenden Geschäft zur Verfügung stünde. In der Graphik ist daher ergänzend das sog. Net Working Capital (NWC), der Überschuss der liquiden Mittel und des sonstigen Umlaufvermögens über die kurzfristigen Verbindlichkeiten. Diesbezüglich sind die Netzcarrier besonders exponiert, da gerade auf der Langstrecke die Vorausbuchungsfristen eher lang sind, und TUI, weil im Konzern neben die Vorauszahlungen für Tickets zusätzlich die vereinnahmten Vorauszahlungen für Pauschalreisen gemeinhin zur Deckung der laufenden Zahlungsverpflichtungen zur Verfügung stehen. Eine kürzlich vom CAPA Centre for Aviation durchgeführte Analyse 2 gibt weiteren Aufschluss zur Zahlungsfähigkeit großer europäischer Fluggesellschaften. Bild 4 zeigt die Liquiditätsreserven, bestehend aus Bar-Mitteln und, soweit veröffentlicht, nicht in Anspruch genommenen Kreditlinien. Hier kann WIZZ Air mit sehr beruhigenden Polstern aufwarten. Diese Polster hatte man zwar eigentlich aufgebaut, um bis 2026 mehr als 320 Airbus A320 Neo kaufen und finanzieren zu können und damit zugleich die bisher geleaste Flotte abzulösen, im Moment aber befreit es die Gesellschaft Bild 1: Gewinn und Verlust der europäischen Airline-Industrie Bild 2: Eigentumsverhältnisse bei den Flotten europäischer Airline- Konzerne Bild 3: Finanzierungsstruktur europäischer Airline-Konzerne, Stand 31.12.2019 Bild 4: Liquiditätsreserven großer europäischer Fluggesellschaften Internationales Verkehrswesen (72) 2 | 2020 38 MOBILITÄT Luftverkehr von akuten Ängsten, in der Corona-Krise zahlungsunfähig zu werden. Auch unter dem Aspekt der Liquiditätsreserven müssen die Gläubiger von Ryanair und Easyjet nicht um die Zahlungsfähigkeit ihrer Schuldner bangen. Die TUI-Gruppe hielt zuletzt bei einem Gesamtumsatz von fast 19 Mrd. EUR liquide Mittel in Höhe von rund 1,75 Mrd. EUR vor. In der Grafik würde sie mit 35 Tagen am unteren Ende zwischen SAS und Norwegian ausgewiesen. Im Kerngeschäft werden die laufenden Zahlungen an die Hotels und sonstigen Touristik-Dienstleister regelmäßig aus dem Cash flow der aktuellen Vorauszahlungen bedient. Derzeit gehen aber nur noch wenige Neubuchungen ein und die Vorauszahlungen für Frühjahrsbuchungen werden zurückgefordert. Der Reiseveranstalter steht somit von allen Seiten unter massivem Liquiditätsdruck. Da ist es wenig- überraschend, dass die Bundesregierung- kurzfristig beispringen muss und bereits einen Rettungskredit in Höhe von 1,8-Mrd.-EUR zugesagt hat 3 . Condor diskutiert mit der Bundesregierung über eine vorübergehende Verstaatlichung um Zeit zu gewinnen, nachdem die polnische Holding-Gesellschaft der LOT selbst in der Krise und vom Kauf zurückgetreten ist 4 . Die Lufthansa-Gruppe hält zwar im Verhältnis zum Umsatz deutlich weniger Liquidität in der Kasse vor, kann aber bei einer komfortablen Eigenkapitalquote durchaus noch Liquidität mobilisieren. SAS und insbesondere Norwegian hingegen könnte der Atem sehr bald ausgehen und so ist es nicht erstaunlich, dass bei den jüngsten Meldungen zu Bereitschaftserklärungen von Regierungen neben Italien, wo Alitalia am Rande der Insolvenz operiert, die skandinavischen Gesellschaften in den Schlagzeilen prominent auftauchen: • Alitalia, ohnehin dauerhaft in der Verlustzone, soll im Zuge einer staatlichen Finanzspritze von 600 Mio. EUR aus der italienischen Staatskasse wieder verstaatlicht werden. • SAS wurde von ihren Gesellschaftern (dänischer und schwedischer Staat: zusammen annähernd 30 %) schon im März Garantien in Höhe von 3 Mrd. SEK (rund 270 Mio. EUR) Soforthilfe zugesagt 5 . • Auch Braathens Regional, Wideroe, DAT und der erst 2019 gegründete ACMI- Operator Great Dane Airlines setzen auf Finanzspritzen des schwedischen und dänischen Staates 6 . • Norwegian ruft in der Folge ebenfalls um staatliche Hilfen, um tausende von Arbeitsplätzen, ihre Infrastruktur- und Serviceleister und ihren volkswirtschaftlichen Wertschöpfungsbeitrag zu retten. Der norwegische Staat, bei SAS aus dem Gesellschafterkreis geschieden, hat 6- Mrd. NOK Kreditgarantien zugesagt 7 . (Quelle CH-Aviation, 19.03.) Aber auch anderenorts wurde bereits Unterstützung signalisiert: Air France-KLM verhandelt mit ihren staatlichen Gesellschaftern (Frankreich, Niederlande; je 14 %) über Garantien in Höhe von 6 Mrd. EUR. Die Regierungen denken in diesem Zusammenhang auch darüber nach, den Konzern, wenn notwendig im Interesse der Aufrechterhaltung der jeweils nationalen Luftverkehrsindustrie wieder zu verstaatlichen 8 . Easyjet Switzerland ruft nach Nothilfen des Schweizer Staats und kann auf Zusagen hoffen 9 . Der Lufthansa-Konzern fordert nicht nur in Deutschland, sondern auch in Österreich und der Schweiz das nachhaltige öffentliche Interesse ein, die Airlines der Gruppe als Rückgrat der nationalen Luftverkehrswirtschaft und der Anbindung an das globale Luftverkehrsnetz zu erhalten. Carsten Spohr gab anlässlich der Bilanzveröffentlichung und in einem Spiegel-Interview zu Protokoll, dass er sich keine Sorgen mache, ob und dass der Konzern überleben würde 10 . Er rechne aber damit, dass im Nachgang der Corona-Krise der wertige Teil der Nachfrage nachhaltig auf niedrigerem Niveau verbliebe und auch der Lufthansa-Konzern seine Kapazitäten werde reduzieren müssen. Schrumpfen aber ist für börsennotierte Unternehmen mit dem Anspruch, ständig profitabel zu wachsen, um „Shareholder Value“ zu schaffen, keine Strategie im Sinne ihrer meist institutionellen Anleger. Vor diesem Hintergrund ist die aktuelle Diskussion um eine Rückverstaatlichung der europäischen Airline-Industrie geradezu folgerichtig. Nachhaltige Kapazitätsreduktion erfordert Opfer Die Krise trifft die europäische Airline-Industrie zu einer Zeit, in der die Kapazitäten im Markt ohnehin so intensiv der Nachfrage vorauseilen, dass Tickets teils zu Preisen verramscht werden, die gar unter den Grenzkosten liegen, die ihr Verkauf verursacht. Zu den Begründungszusammenhängen verweist der Verfasser auf seine kürzliche Veröffentlichung zur politischen Begrenzung des Klimaschadens durch den Luftverkehr 11 . Auch im Gemeinwohlinteresse scheint es also geboten, das Angebot nachhaltig auf ein niedrigeres Niveau zurückzuentwickeln. Das Dilemma besteht allerdings darin, dass in der nach wettbewerblichen Grundsätzen organisierten Airline-Industrie zwar aktuell jeder Wettbewerber diesem Erfordernis zustimmen wird, ihm aber selbst keinesfalls freiwillig folgen will, sondern daraufsetzt, dass hierzu Wettbewerber ausscheiden, wie es die Gesetze der Marktwirtschaft eben vorsehen. Auch der Lufthansa-Vorsitzende wird, wenn er weiterhin private Kapitalgeber befriedigen soll, nach der Krise und Schließung der ohnehin unter dem Aspekt der Tarifkonditionen für das fliegende Personal unwirtschaftlichen Germanwings-Betriebes das Feld nur teilweise räumen, nachdem er die Heimatmärkte in Deutschland, der Schweiz und Österreich bisher recht erfolgreich vor dem Eindringen lästiger Wettbewerber bewahren konnte. Kapazitätsreduktion setzt demnach Konkurse voraus oder aber doch zumindest, dass selbständig nicht überlebensfähige Airlines in Airline-Konzerne integriert werden, um an deren Marktposition und Substanz partizipieren zu können. Die aktuellen Meldungen weisen statt auf Krisenbewältigung im Sinne einer erforderlichen Konsolidierung der Industrie allerdings in eine andere Richtung. Die allenthalben erwogene Wieder-Verstaatlichung der Airlines könnte dazu führen, dass die Konsolidierung möglicherweise durch nationale Eigeninteressen konterkariert wird. Nationale Interessen versus Open-Skies Hier offenbart sich ein grundsätzlicher Widerspruch zwischen europäischen und nationalen Interessen in der Luftverkehrspolitik: Mit der als „Open Skies“ bezeichneten Liberalisierung der Verkehrsrechte wurde innerhalb der sogenannten European Common Aviation Area (ECAA) ein integrierter internationaler Markt geschaffen, in dem Fluggesellschaften ungeachtet ihrer nationalen Registrierung paneuropäisch agieren können. Damit wurde das in weiten Teilen der Welt noch heute bestehende Junktim zwischen nationalen Luftverkehrsinteressen und nationalen Fluggesellschaften aufgelöst. Noch heute gilt außerhalb der Open Skies das Gebot, dass Verkehrsrechte zwischen Ländern nur an Fluggesellschaften designiert werden dürfen, die in den beiden Ländern registriert sind und sich in oberster Gesellschaftsebene im qualifizierten Mehrheitseigentum nationaler natürlicher Personen befinden müssen. Folgerichtig entstanden nicht nur europaweit agierende private Fluggesellschaften, wie etwa Ryanair, Easyjet und Wizz Air, sondern die vorher fast durchgängig im öffentlichen nationalen Eigentum befindlichen Netzfluggesellschaften wurden aus dem nationalen öffentlichen Eigentum und Internationales Verkehrswesen (72) 2 | 2020 39 Luftverkehr MOBILITÄT damit auch der nationalen Pflicht privatisiert. Anlässlich der 9/ 11-Krise und der globalen Finanzkrise zeigte sich allerdings, dass die ehemals nationalen Netzfluggesellschaften nicht alle den Herausforderungen des europäischen Marktes und Wettbewerbs gewachsen waren. Teilweise führte dies zur Integration dieser Airlines in europäische Airline-Konzerne, teilweise aber waren die nationalen Fluggesellschaften auch so marode, dass sie tatsächlich in Konkurs gingen (Olympic, Malev) oder aber entgegen den europäischen Richtlinien nachhaltig mit dem Tropf nationaler öffentlicher Kassen erhalten blieben (Alitalia). Um in den entstehenden internationalen Airline-Konzernen jenseits des in der European Common Aviation Area (ECAA) vereinten Luftraums unverändert nationale Verkehrsrechte ausüben zu können, wurden, beispielsweise durch Zwischenschalten nationalen Gemeinwohlinteressen verpflichteter Stiftungen, juristische Konstruktionen geschaffen, die bei politischem Wohlwollen aller Beteiligten in den bilateralen Abkommen mit Drittländern Akzeptanz finden. In vielen horizontalen Abkommen der EU mit Drittländern konnte auch der Vorbehalt „nationales Eigentum“ durch „EU-Eigentum“ ersetzt werden, auch dies ein Signal, dass der internationale Luftverkehr vom nationalen zum europäischen Gesamtinteresse umdefiniert wurde. Die oben beschriebene Rückbesinnung auf nationale Interessen bei der Überwindung der Folgen der Corona-Krise reiht sich nun denkwürdiger Weise in die auch an anderer Stelle erkennbare Umkehr vom europäischen zum nationalen Denken und Handeln ein. Im gegebenen Zusammenhang ist aber sowohl ein Beharren als auch eine Rückbesinnung auf autonome nationale Luftverkehrsinteressen offensichtlich nicht nur systemwidrig, sondern auch wenig hilfreich. Am Beispiel Alitalia sollten alle gelernt haben, dass es nicht nachhaltig wirkt, nicht wettbewerbsfähige Marktteilnehmer durch Finanzspritzen zu intubieren. Konsolidierung ist Voraussetzung nachhaltiger Wettbewerbsfähigkeit Wenn aus anderen nationalen Interessen, zum Beispiel der Beschäftigungs- und Sozialpolitik, nicht wettbewerbsfähige Airlines gerettet werden sollen, so sollte es doch gleichzeitig mit dem klaren Ziel einhergehen, diese Airlines in einen wettbewerbsfähigen Konzernverbund einzubringen. Für die verbliebenen nationalen Netzcarrier (zum Beispiel TAP, Lot, SAS, Finnair) ist dieser Verbund sinnvollerweise der jeweils tragende europäische Airline-Konzern der drei globalen Allianzen, in denen sie sich ohnehin bereits angenähert haben. Die entstehenden drei Allianz-Konzerne sollten bei dem so entstehenden Oligopol allerdings erkennbar ihre an nationale Marken erinnernde Namensgebung aufgeben, wie es bei der International Airline Group (IAG) bereits der Fall ist. Statt eines Lufthansa-Konzerns sollte es also zu einem „European Stars“ Airline-Konzern kommen, an dessen Kapital sich auch die derzeitigen Gesellschafter von SAS, LOT und TAP beteiligen können, wenn sie meinen, ihre politischen Interessen auf Gesellschafterebene vertreten können zu müssen. Die entstehenden drei Netzcarrier-Konzerne werden neben ihren Drehkreuzen auch eine kritische Masse dezentraler Direktflugverbindungen zusammenführen, um gegenüber den paneuropäisch agierenden Low-Cost Carriern nachhaltig wettbewerbsfähig aufgestellt zu sein. Der Kern dieser europaweit agierenden Fluggesellschaften ist mit Eurowings, Vueling und weiteren, den drei bestehenden europäischen Airline- Konzernen schon angegliederten Punkt-zu- Punkt-Fluggesellschaften bereits angelegt. Neben diesen Konzernen bleibt Platz für einige Low-Cost-Carrier mit Schwerpunkt im Privatreisemarkt, namentlich Ryanair, Easyjet und Wizz Air, die in diesem Bereich auch auf Dauer genügen, um das Preisniveau auf einem Level zu halten, dass breiten Schichten der Bevölkerung die Flexibilität zu touristischen und sonstigen Reisen über Distanzen erlaubt, die man sinnvollerweise nicht mit Bodenverkehrsmitteln überwinden kann. Darüber hinaus gibt es im Luftverkehr nur Platz für Betriebe, die Teil eines touristischen Konzerns wie beispielsweise TUI sind, der durch Bündelung von Pauschalreisen ihre Beschäftigung sichert. Da die großen Player im Markt kleineren Airlines im Übrigen keine Nischen belassen, in denen Einzelkämpfer selbstständig überleben können, werden sich alle sonstigen Mitspieler als sogenannte „Capacity Provider“ für Aircraft, Crew, Maintenance & Insurance (ACMI-Betriebe) aufstellen müssen. Die Fremdvergabe des Flugbetriebs, die im ehemals von selbständigen Gesellschaften betriebenen Regionalflugverkehr bereits heute als Standard gilt 12 , ist zugleich der Hoffnungsträger für zahlreiche Regionalflughäfen, wenn es um mehr als Turnarounds geht 13 . Hier können die Capacity Provider Dienste für die am Markt agierenden Airlines bereitstellen, da die Nachfrage selbst großen Anbietern, zumal in Konkurrenz, nicht genügt, um dort dauerhaft eigene Kapazitäten zu stationieren. Mit einer solchen Struktur würde der europäische Markt eine Entwicklung nachvollziehen, die der US-amerikanische Markt bereits hinter sich gebracht hat. Es wäre nicht das erste Mal. ■ 1 IATA: COVID-19 - Updates Impact Assessment, 14.04.2020, www.iata.org/ en/ iata-repository/ publications/ economicreports/ covid-fourth-impact-assessment/ 2 CAPA Centre for Aviation: Wizz Air & Ryanair lead Europe on liquidity for COVID-19, 18.03.2020, https: / / centreforaviation.com/ analysis/ reports/ wizz-air--ryanair-lead-europeon-liquidity-for-covid-19-517608 3 O.V. TUI bekommt Milliardenkredit; Tagesschau.de, 08.04.2020, https: / / www.tagesschau.de/ wirtschaft/ tuikredit-103.html 4 RAVELBOOK: Übernahme geplatzt - wird Condor jetzt verstaatlicht? , 14.04.2020, www.travelbook.de/ airlines/ condor-uebernahme-geplatzt 5 Nikel, D.: Denmark, Sweden Governments Offer SAS $302 Million Backing Over Coronavirus Crisis; FORBES, 18.03.2020; https: / / www.forbes.com/ sites/ davidnikel/ 2020/ 03/ 18/ denmark-sweden-governments-offer-financial-supportto-sas-over-coronavirus-crisis/ #369173919b47 6 vgl. ebenda 7 Klesty, V.: Norwegian Air gets lifeline but it may not be enough, Reuters, 20.03.2020, www.reuters.com/ article/ ushealth-coronavirus-norwegianair-stock/ norwegian-airgets-lifeline-but-it-may-not-be-enough-idUSKBN2171VT 8 Fros, L., Deutsch, A.: Air France-KLM in talks on multibillion euro state-backed loan package; Reuters, 03.04.2020, www.reuters.com/ article/ us-health-coronavirus-airfrance-bailout/ exclusive-air-france-klm-in-talks-onmultibillion-euro-state-backed-loan-package-idUSKBN- 21L16F 9 O.V.: EasyJet Switzerland seeks state aid as virus empties skies; SWIswissinf.ch, 31.03.2020, www.swissinfo.ch/ eng/ covid-19_easyjet-switzerland-seeks-state-aid-as-virusempties-skies/ 45657490 10 Deckstein, D., Müller, U.: „Deswegen werden wir länger durchhalten“, Interview über die Corona-Folgen, DER SPIE- GEL, 27.03.2020, www.spiegel.de/ wirtschaft/ unternehmen/ lufthansa-chef-carsten-spohr-deswegen-werdenwir-laenger-durchhalten-a-00000000-0002-0001- 0000-000170213688 11 Brützel, C.: Zur politischen Begrenzung des Klimaschadens durch den Luftverkehr, airliners.de 14.09.2019, www.airliners.de/ einfluesse-besteuerungs-szenarien-aviationmanagement/ 51841? utm_campaign=readmore&utm_ medium=articlebox&utm_source=air 12 Brützel, C.: Fremdvergabe des Flugbetriebs: Problem oder Lösung? , airliners.de; 30.03.2016, www.airliners.de/ diefremdvergabe-flugbetriebs-problem-loesung-aviationmanagement/ 38219 13 egl. ebenda und Brützel, C.: Regionalflughäfen ohne Netz. In: Internationales Verkehrswesen (70), Heft 2, Juni 2018, S. 74-76 Christoph Brützel, Prof. Dr. Aviation Management Department, IUBH International University Bad Honnef c.bruetzel@iubh.de