Internationales Verkehrswesen
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Internationales Verkehrswesen (72) 2 | 2020 63 Veranstaltungen FORUM „Stockholm Deklaration“ zur Straßenverkehrssicherheit Rückblick: „Third Global Ministerial Conference on Road Safety” in Stockholm, 19.-20.02.2020 A m 19. und 20. Februar dieses Jahres fand in der schwedischen Hauptstadt Stockholm die „Third Global Ministerial Conference on Road Safety” (Dritte Globale Regierungs-Konferenz zur Straßenverkehrssicherheit) statt. Das Motto lautete „Achieving Global Goals 2030” (Erreichung globaler Ziele bis zum Jahr 2030). Gastgeber war das Land Schweden, in Person repräsentiert durch König Carl XVI. Gustav. Teilnehmer waren 1.700 Vertreter nationaler, regionaler und subregionaler Regierungs- und Nichtregierungs-Organisationen (NGOs) sowie des Privaten Sektors aus rd. 140 Nationen [1]. Die beiden Vorgänger-Konferenzen fanden auf Einladung der Regierung der Russischen Föderation im Jahr 2009 in Moskau sowie der brasilianischen Regierung im Jahr 2015 in Brasilia statt. Beide Konferenzen kulminierten in „Deklarationen“, die nach den jeweiligen Gastgeber-Städten benannt wurden; so auch in diesem Jahr. In der „Stockholm Declaration“ wurden die Vorgeschichte, der Hintergrund, der Ansatz und die Ergebnisse der Veranstaltung zusammengefasst. Die Deklaration besteht aus einem Vorspann in Form von 23 Paragrafen sowie 18 Beschlusspunkten; sie schließt mit der Einladung an die Generalversammlung der Vereinten Nationen, Gegenstand und Inhalt der Deklaration zu unterstützen. Besonders bemerkenswert an der „Stockholm Deklaration“ sind der komplexe Zusammenhang, in den das Thema Straßenverkehrssicherheit gestellt wird, sowie die entsprechend komplexen Lösungsansätze. Hervorzuheben ist diesbezüglich insbesondere die enge Verflechtung mit • den „Sustainable Development Goals“ SDGs (Ziele für nachhaltige Entwicklung), die am 25. 09. 2015 auf dem „Weltgipfel für nachhaltige Entwicklung“ [2] von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet worden sind, sowie • den Ergebnissen der Pariser Gipfelkonferenz zum globalen Klimaschutz [3]. Das wird schon anhand weniger ausgewählter Passagen aus der Deklaration deutlich. Zunächst eine Auswahl aus der Einleitung: • Es wird die Bedeutsamkeit der Intensivierung der internationalen und multilateralen Kooperation hinsichtlich der Erreichung der Ziele einer gesundheitsrelevanten nachhaltigen Entwicklung bestätigt und bekräftigt, und zwar mit Fokus auf die Ziele zur globalen Straßenverkehrssicherheit. • Begrüßt werden die UN-Resolutionen zur Integration von Straßenverkehrssicherheit mit anderen Politik-Bereichen, insbesondere solchen, die in Verbindung stehen mit den Zielen bezüglich der Klima-Aktivitäten, der Geschlechter- Gleichheit, der Gesundheit, qualitätvoller Erziehung, reduzierter Ungleichheit, nachhaltiger Städte und Gemeinden, Infrastruktur und verantwortungsvollem Konsum zum wechselseitigen Nutzen für-alle. • Bestätigt werden die Erkenntnisse aus der Dekade 2011 bis 2020 hinsichtlich der Aktionen im Sinne der Straßenverkehrssicherheit wie etwa „Safe System Approach“ und „Vision Zero“ (Null Tote im Straßenverkehr), langfristige und nachhaltige Lösungen, die auf nationaler Ebene die sektorübergreifende Kooperation verstärken, wozu die Beteiligung von NGOs und Zivilgesellschaft ebenso gehört wie die relevanter Unternehmen und Industrien, die Beiträge zur sozialen und ökonomischen Entwicklung der Länder leisten und diese beeinflussen. • Es wird die große Sorge darüber zum Ausdruck gebracht, dass bei Straßenverkehrsunfällen jährlich mehr als 1,35 Millionen Menschen getötet werden, von denen über 90 % auf Länder mit geringem bis mittleren durchschnittlichen Einkommensverhältnissen entfallen, dass solche Unfälle der Hauptgrund für Foto: Mikael Ullén Internationales Verkehrswesen (72) 2 | 2020 64 FORUM Veranstaltungen den Tod von Kindern und jungen Erwachsenen in den Altersklassen von fünf bis 29 Jahren sind und dass die mehr als 500 Millionen im Zeitraum von 2021 bis 2030 erwarteten Verkehrstoten eine Krise darstellen, deren Vermeidung in der nächsten Dekade ein stärkeres politisches Engagement, mehr Führung und intensivere Aktionen auf allen Ebenen erfordert. • Betont wird der signifikante Einfluss von Straßenverkehrsunfällen auf Kinder und Jugendliche und die Wichtigkeit, deren Bedürfnisse und die anderer besonders verletzlicher Bevölkerungsgruppen wie etwa älterer Menschen und Personen mit Behinderungen stärker in den Fokus zu nehmen. • Es wird anerkannt, dass die überwiegende Mehrzahl der Todesfälle im Straßenverkehr verhindert werden kann und dass moderne Fahrzeug-Sicherheitstechnologien zu den effizientesten aller Sicherheitssysteme im Straßenverkehr gehören. • Anerkannt wird auch die gemeinsame Verantwortung von Systementwicklern und Verkehrsteilnehmern auf dem Weg zu einer Welt, die frei ist von tödlichen Verkehrsunfällen und schweren Verletzungen im Straßenverkehr, dass aber die Beschäftigung mit Sicherheit im Straßenverkehr eine vielfältige Kooperation von öffentlichem und privatem Sektor, von Akademikern, Berufsorganisationen, NGOs und Medien erfordert. Auch aus den Beschlüssen seien beispielhaft einige Kernforderungen genannt: Straßenverkehrsunfälle reduzieren Die Mitgliedsstaaten werden aufgerufen, zur Reduzierung der tödlichen Straßenverkehrsunfälle um mindestens 50% in der Zeitspanne 2020 bis 2030 beizutragen - für alle Gruppen von Verkehrsteilnehmern, aber speziell für die besonders verletzlichen wie etwa Fußgänger, Fahrradfahrer, Motorradfahrer und Nutzer des ÖPNV. Straßenverkehrssicherheit integrieren Straßenverkehrssicherheit ist als ein integriertes Element der Flächennutzung, der Straßen- und Verkehrssystem-Planung und der Reglementierung einzubinden. Dies sollte geschehen durch die Verstärkung institutioneller Kapazitäten betreffend Verkehrssicherheits-Gesetzgebung und deren Durchsetzung, die Verbesserung der Fahrzeugsicherheit, der Infrastruktur und des öffentlichen Nahverkehrs, der Nachsorge bei Verkehrsunfallfolgen und der Datenverfügbarkeit. Geschwindigkeitsregelung Es soll eine Fokussierung der Aufmerksamkeit auf das Geschwindigkeitsmanagement erfolgen, einschließlich einer Verstärkung der rechtlichen Durchsetzung, um Geschwindigkeitsüberschreitungen vorzubeugen sowie eine maximale Fahrgeschwindigkeit von 30 km/ h in solchen Gebieten vorzuschreiben, in denen es eine häufige und geplante Mischung von verletzlichen Straßennutzern und Automobilen gibt - ausgenommen solche Gebiete, in denen es überzeugende Beweise dafür gibt, dass höhere Geschwindigkeiten sicher sind. Einfluss von Geschwindigkeitsreduzierungen Es wird anerkannt, dass Bemühungen um Geschwindigkeitsreduzierungen einen vorteilhaften Einfluss auf die Luftqualität und den Klimawandel haben und von zentraler Bedeutung für die Reduzierung von Todesfällen und schweren Verletzungen im Straßenverkehr sind. Sicherheitsstandards Es soll sicher gestellt werden, dass alle Fahrzeuge, die ab 2030 fertiggestellt und am Markt verkauft werden, angemessene Sicherheitsstandards aufweisen. Kommunikation Die Wichtigkeit von Datenerhebungen und der Berichterstattung über die Fortschritte im Hinblick auf die Erreichung der gemeinsamen Ziele wird hervorgehoben. Die Deklaration wurde von allen teilnehmenden Delegationen unterzeichnet - mit Ausnahme der Vertretung der Regierung der Vereinigten Staaten. Die Begründung der Ablehnung stand vor allem in Zusammenhang mit der Zurücknahme der Zustimmung zum Pariser Klimaschutzabkommen durch die aktuelle Administration und der Verknüpfung mit Komplexen, die ihrer Ansicht nach keine Relevanz für die Straßenverkehrssicherheit hätten [4]. In der Berichterstattung über die Konferenz wird unter anderem darauf verwiesen, dass diese nicht zuletzt deshalb so zeit- und ortsgerecht gewesen sei, weil die skandinavischen Hauptstädte Oslo und Helsinki im Jahr 2019 erstmals keine bei Verkehrsunfällen getöteten Fußgänger und Radfahrer zu verzeichnen hatten - bei durchschnittlich 40 jährlichen Todesfällen noch in den 1970er Jahren. Das sei im wesentlichen dem Verzicht auf Straßenparkplätze, der Verbreiterung der Fuß- und Radwege und einer dramatischen Reduzierung der zulässigen Geschwindigkeiten zu verdanken - zumal Menschen, die keine Autos benutzen, generell die Hälfte der Todesfälle ausmachen [5]. Die Empfehlungen in der „Stockholm Deklaration“ würden in vieler Hinsicht die Aktionen in Oslo und Helsinki widerspiegeln, einschließlich der qualitätvollen medizinischen Unterstützung der Schwerverletzten und der Familien der Opfer. Verwiesen wird schließlich auch darauf, dass die Deklaration eine enge Verbindung zwischen dem Schutz verletzlicher Straßennutzer und der Reduzierung der CO 2 -Emissionen herstellt: „Wandlung zu sichereren, saubereren, energieeffizienteren und bezahlbareren Verkehrsformen sowie die Förderung physischer Aktivitäten, wie Gehen und Radfahren, sowie die Integration dieser Formen mit der Nutzung von ÖPNV, um Nachhaltigkeit zu erreichen.“ [5] Vor dem Hintergrund aktueller Diskussionen in Deutschland sind nicht zuletzt zwei Punkte aus der „Stockholm Deklaration“ bemerkenswert: • Die Betonung der Wichtigkeit umfassender drastischer Geschwindigkeitsbeschränkungen - sowohl aus Gründen der Verkehrssicherheit als auch des Klimaschutzes. Das steht unter anderem im Widerspruch zu der von Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer regelmäßig vertretenen Position. • Die Bedeutung höherer Automatisierungsstufen von Fahrerassistenz-Systemen wird zwar angesprochen, es wird jedoch darauf verzichtet, eine Zukunft des „autonomen Fahrens“ im Straßenverkehrs als Perspektive im Sinne der Straßenverkehrssicherheit zu benennen bzw. einzufordern. Es wäre wünschenswert, wenn sich die Politik in Deutschland auf allen Ebenen an der „Stockholm Deklaration“ orientieren würde. Zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Beitrags war nicht einmal im Internet-Auftritt des Bundesverkehrsministeriums ein Hinweis darauf zu finden. ■ QUELLEN [1] Stockholm Declaration; www.roadsafetysweden.com/ Stockholm Declaration [2] Wikipedia: Ziele für Nachhaltige Entwicklung; Stand 21. April 2020 [3] Europäische Kommission: Pariser Übereinkommen; www.europa. eu/ clima [4] Reid, C.: U.S. Only Nation To Dissociate From Global Declaration On Preventing Road Deaths; Beta, 23. Februar 2020 [5] Walker, A.: 140 countries pledged to eliminate traffic deaths. The U.S. did not; curbed, 25. Februar 2020 Dr.-Ing. Andreas Kossak Kossak Forschung und Beratung, Hamburg drkossak@aol.com
