Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2020-0052
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Die Zeit der Illusion ist Vergangenheit
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Gerd Aberle
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Gerd Aberle KURZ UND KRITISCH Internationales Verkehrswesen (72) 3 | 2020 9 Die Zeit der Illusionen ist Vergangenheit D as war 2019: ein Wohlstandsjahr der Wirtschafts- und Finanzpolitik. Staatliche Überschüsse aus steigenden Steuereinnahmen führten auch für den Mobilitätssektor zu Milliarden Euro Zusagen. LuVF III, Regionalisierungsmittel- und GVFG-Steigerungen, Eigenkapitalerhöhung für die DB AG, Förderprogramme für Klima- und Digitalisierungsmaßnahmen, Absenkung der Trassenentgelte Schienengüterverkehr und vieles mehr. Nun 2020: Corona-bedingt ist die Welt eine andere. Aus der jahrelangen Schwarzen Null des Bundeshaushalts wird eine Verschuldung von 138 Mrd. EUR, Rückzahlung wie und wann? Die Beiträge der EU-Mitgliedsstaaten steigen zur Kompensation fehlender Netto-Zahlungen von UK; Brexit-Kosten; Anstieg des EU-Haushalts 2021 bis 2027 auf 1,05 Billionen EUR; zusätzlich ein umstrittenes Recovery-Programm von 750 Mrd. EUR, sofern das Europäische Parlament den EU-Gipfelbeschlüssen zustimmt. Gleichzeitig sinken die Steuereinnahmen von Bund, Ländern und Kommunen drastisch. Täglich werden neue umfängliche Finanzierungswünsche an die Politik gerichtet. Die zukünftigen finanzwirtschaftlichen Spielräume sind auch für den Mobilitätsbereich völlig unsicher. Im Transportbereich bleibt die DB weiterhin das vor allem strukturell bedingt herausragende Sorgenkind. Eine 11 Mrd. EUR Corona-Hilfe des Bundes mit einer erneuten Eigenkapitalerhöhung von 5 Mrd. EUR stößt auf berechtigte wettbewerbspolitische Bedenken hinsichtlich der Benachteiligung der sonstigen Schienenbahnen. 2020 ist auch der Schienenpersonenfernverkehr tief in die Verlustzone geraten. Gründe sind der durch Corona bedingte starke Fahrgastrückgang, aber auch die mehrfachen Preissenkungen. Der verlustreiche Schienengüterverkehr lebt aufgrund des erneuten Vorstandswechsels mit der Hoffnung auf Produktivitätssteigerungen, einen nachhaltigen Nachfrageboom und die Durchsetzungskraft der neuen Chefin. Aber Skepsis bleibt. Medial gepflegt wird der geplante Deutschland-Takt (DT) 2030, so etwa durch eine als „Einstieg“ benannte Verdichtung der ICE- Verbindung Berlin - Hamburg auf stündlich zwei Fahrten je Richtung. Dies ist wenig überzeugend, zumal zentrale Engpässe in den überlasteten Knoten liegen, also den großen Umsteigebahnhöfen. Auch ist immer noch nicht abgesichert, wie für den Güterverkehr im DT die erforderlichen Strecken- und Zeitfenster abgesichert werden. Dies immer vor dem Hintergrund des politischen Drucks, bis 2030 den Marktanteil (letztlich zu Lasten des LKW) von 18,5 auf 25 % (! ) zu steigern. Für den EU-Straßengüterverkehr hat der Verkehrsausschuss des- EU Parlaments das Mobilitätspaket 1 mit Verbesserungen der katastrophalen Situation vieler LKW-Fahrer, vor allem aus Osteuropa, verabschiedet. Es sieht eine Rückkehrpflicht zum „Registrierungsort“ alle acht Wochen sowie Rückreiseberechtigung der Fahrer an deren Wohnort spätestens nach drei Wochen vor. Die Wochenarbeitszeit von max. 45 Stunden darf in den Ruhezeiten nicht mehr im Fahrzeug verbracht werden. Klein-LKW von 2,5 bis 3,5 t GG müssen im grenzüberschreitenden Verkehr digitale Fahrtenschreiber einbauen. Offen bleibt allerdings die Umsetzung dieser Neuregelungen. Die osteuropäischen Staaten kündigten bereits Widerstand und Klagen vor dem EUGH an mit Hinweis auf die Dienstleistungsfreiheit. Und wenn es wirklich zu einer Einführung dieser notwendigen Maßnahmen käme: Wer sollte und könnte eine wirksame Kontrolle ihrer Einhaltung sicherstellen? Die Erfahrungen mit den bestehenden Kabotage-Überprüfungen sind auch für Deutschland weitestgehend enttäuschend. Der durch die Corona-Pandemie im Frühjahr 2020 fast völlig deaktivierte Luftverkehr hat den Netz-Carrier Lufthansa schwerer getroffen als europäische Wettbewerber. Die 9 Mrd. EUR des Bundes zur Insolvenzabwendung mit hoch verzinslichen Krediten sowie einer Staatsbeteiligung von 20,5 % zu einem Preis je Anteil von 2,56-EUR (statt des Börsenkurses von 8 bis 9 EUR) sind eine einzigartige Vorgehensweise. Für nur 300 Mio. EUR konnte der Bund über 20 % des Unternehmens bei gleichzeitig extremer Verwässerung der Anteile der Alteigentümer erzwingen. Immerhin waren bis zur Staatsbeteiligung 87,4 % im Streubesitz, davon viele Kleinanleger. Nach dem Anteilserwerb reduzierte sich der Anteil auf 42,2 %. Hinzu kommt die EU-Kommissionsauflage, Flugrechte in Frankfurt/ M. und München zugunsten von Wettbewerbern aufzugeben. Und „zu schlechter Letzt“: In der jahrzehntelangen Diskussion um eine leistungsfähige Schienenanbindung des im Bau befindlichen Brenner-Tunnels haben im Juli 2020 Landkreis und Stadt Rosenheim sämtliche Trassenalternativen voll umfänglich abgelehnt und sogar generell die Notwendigkeit einer veränderten Zulauftrasse infrage gestellt. Die deutsche Anbindungsmisere im Gotthard- Zulauf Offenburg - Basel lässt traurig grüßen. Desillusion pur. ■ Prof. Gerd Aberle zu Themen der Verkehrsbranche
