eJournals Internationales Verkehrswesen 72/3

Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2020-0055
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Zu große wirtschaftliche Unterschiede in der EU gefährden den Zusammenhalt

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Frank Hütten
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Internationales Verkehrswesen (72) 3 | 2020 19 I m Haushalt liegt die Wahrheit, sagen Kenner des EU-Politikbetriebs, und wenn es ums Geld geht, wird in Brüssel häufig sehr lange diskutiert. Der jüngste EU-Gipfel hat hier aber nochmal neue Maßstäbe gesetzt: Vom 17. bis zum Morgen des 21. Juli dauerte es, bevor sich die Staats- und Regierungschefs auf den neuen mehrjährigen Finanzrahmen (MFR) für die Jahre 2021 bis 2027 und das Corona-Wiederaufbauprogramm „Next Generation EU“ verständigt hatten. Es war eines der längsten Gipfeltreffen der EU-Geschichte. Und damit sind die Debatten noch nicht beendet. Nach der Sommerpause werden die Abgeordneten des Europäischen Parlaments versuchen, von den Staats- und Regierungschefs vorgesehene Kürzungen beim MFR abzuwenden. Der kann ohne ihre Zustimmung nicht beschlossen werden. Gestritten werden dürfte im Herbst auch über das Verkehrsbudget. Denn „Next Generation EU“ enthält zwar vielversprechende Möglichkeiten, etwa zur Finanzierung klimafreundlicher Antriebstechnologien. Aber niemand weiß derzeit, wie gut die Mittelvergabe aus den neuen Töpfen funktionieren wird und wofür tatsächlich Geld fließt. Sicher ist dagegen, dass zulasten des Wiederaufbauplans bei bewährten Haushaltsinstrumenten wie der Connecting Europe Facility (Cef ) gekürzt werden soll - dem zentralen Fördertopf für Verkehrsprojekte. Welche Wahrheit zeigt der neue mehrjährige Haushaltsrahmen also? Vielleicht die, dass es in der EU immer schwieriger wird, sich zu verständigen, was die wichtigsten, richtungweisenden Investitionen sind, was finanzielle Solidarität bedeutet und wie eine Wirtschaftspolitik aussieht, die allen Mitgliedstaaten faire Entwicklungschancen eröffnet. Von Solidarität und Fairness war viel die Rede in der Diskussion über das Wiederaufbauprogramm. Ebenso beim verkehrspolitischen Top-Thema der vergangenen drei Jahre, dem EU-Gesetzespaket für den Straßengüterverkehr. Das „Mobilitätspaket I“ ist jetzt zwar beschlossen, es gibt einen Kompromiss, einig ist man sich aber nicht. Das Unverständnis zwischen den Befürwortern der neuen Regeln - überwiegend im Westen der EU beheimatet - und den Gegnern - vorwiegend aus dem Osten - scheint sogar immer größer zu werden. Die einen sprechen von Sozialdumping, die anderen von Protektionismus. Klagen vor dem Europäischen Gerichtshof sind möglich und zum Teil schon angedroht. Doch auch eine höchstrichterliche Entscheidung würde die Gräben zwischen den Streitenden nicht zuschütten. Denn es geht weniger um einen juristischen Streit als um einen wirtschaftspolitischen Grundkonflikt zwischen einem liberalisierten Handel im Binnenmarkt einerseits und Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik andererseits, für die weiter weitgehend die Mitgliedstaaten selbst zuständig sind. Die Wirtschaft in den östlichen EU-Ländern muss sich im offenen Binnenmarkt der Konkurrenz von kapitalstarken ausländischen Unternehmen stellen, etwa aus dem Export-Land Deutschland. Transportunternehmen aus EU- Staaten mit niedrigem Lohnniveau finden es daher höchst unfair, dass sie daran gehindert werden, diesen Wettbewerbsvorteil für den Export ihrer Dienstleistungen zu nutzen - etwa durch Kabotage-Einschränkung und Mindestlohnvorschriften. Sie fühlen sich um wirtschaftliche Entwicklungsmöglichkeiten betrogen. Auch in Westeuropa gibt es Wirtschaftswissenschaftler, die meinen, solche volkswirtschaftlichen Entwicklungschancen seien wichtig, damit die Handelsbilanzen zwischen den EU-Staaten besser ins Gleichgewicht kommen und die makroökonomischen Ungleichgewichte nicht noch größer werden als sie es schon sind. Klar ist aber auch, dass die EU-Bevölkerung einen Binnenmarkt mit völlig offenem Lohnwettbewerb nicht akzeptieren würde, besonders nicht in den Hochlohnländern. Zu Recht. Arbeitskraft ist eben kein „Produktionsfaktor“ wie andere. Die richtige Balance zwischen Chancen und Schutz ist hier entscheidend, damit EU-Politik akzeptiert wird. Ähnlich sieht es bei der Verteilung von EU-Haushaltsmitteln aus. Finanzschwächere Regionen und Länder brauchen Unterstützung, um die Folgen der Corona-Pandemie zu überwinden und sich wirtschaftliche Chancen zu erschließen - etwa durch eine bessere Verkehrsinfrastruktur. Dabei dürfen die „abgebenden“ EU-Staaten aber nicht überfordert werden. Je größer die wirtschaftlichen Unterschiede sind, desto größer werden die Konflikte. Das „Wohlstandsversprechen“ der EU für ihre Mitglieder ist eines ihrer attraktivsten Angebote. Sehen die Menschen ihre Hoffnungen aber enttäuscht - ob in Ost oder West - werden sie sich abwenden. Um das zu verhindern, muss die EU mehr für Kohäsion und gegen ein zu starkes wirtschaftliches Gefälle in der EU tun - nicht nur auf dem Markt für Straßengüterverkehr.-- ■ Frank Hütten EU-Korrespondent der DVZ Deutsche Verkehrs-Zeitung B E R I C H T A U S B R Ü S S E L VON FRANK HÜTTEN Zu große wirtschaftliche Unterschiede in der EU gefährden den Zusammenhalt