eJournals Internationales Verkehrswesen 72/3

Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2020-0056
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Radverkehrsförderung 3.0

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2020
Peter Pez
Antje Seidel
Barrierefrei, netztransparent, digital – konzeptionelle Folgerungen aus 30 Jahren Beobachtungen und Forschung (nicht nur) in der Region Lüneburg – Teil 1
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Internationales Verkehrswesen (72) 3 | 2020 20 INFRASTRUKTUR Radverkehr Radverkehrsförderung 3.0 Radverkehr, Verkehrsmittelwahl, Stadtverkehr, Verkehrsplanung Barrierefrei, netztransparent, digital - konzeptionelle Folgerungen aus 30 Jahren Beobachtungen und-Forschung (nicht nur) in der Region Lüneburg - Teil 1 Peter Pez, Antje Seidel I m Zuge der Klimawandeldiskussion erfährt der Radverkehr in Deutschland eine zunehmende Beachtung. Nachdem seine Förderung auf kommunaler Ebene bereits seit den 1970er Jahren in den Fokus von Politik und Planung geriet, ist dies mit dem Nationalen Radverkehrsplan seit 2002 [1] auch auf bundespolitischer Ebene der Fall. Trotz dieser förderlichen Entwicklung ist die Diskrepanz zu anderen Ländern, insbesondere den Niederlanden und Dänemark, enorm groß (Bild 1). Dieser Beitrag vertritt die These, dass diese Diskrepanz kaum kleiner wird, wenn nicht neue Strukturen und Vorgehensweisen einer neuen Phase der Radverkehrspolitik Einzug halten. Barrierefreiheit, Netztransparenz und digitale Navigation sind dafür drei herausragende Kernelemente, sie werden in diesem zweiteiligen Betrag erläutert, differenziert und auch ergänzt. Rückblickend lassen sich für die Bundesrepublik Deutschland Stadien der Radverkehrspolitik identifizieren. Für diesen Beitrag mag eine grobe Einteilung der Radverkehrsförderung (RVF) in zwei wesentliche Phasen genügen, aus der die Forderung nach dem Übergang in eine neue, dritte Periode abgeleitet wird. RVF 1.0: Radwegebau als wenig förderliche Separierung Die Anlage von Radwegen verfolgte über Jahrzehnte hinweg ein Separierungsziel - teils mit dem Ziel der Steigerung der Sicherheit des Radfahrens, teils aber auch zur Trennung vom Fortschritt symbolisierenden motorisierten Verkehr zwecks dessen Beschleunigung. Dieses Motiv erhielt mit der Massenmotorisierung, beginnend in den 1950er, boomend seit den 1960er Jahren, Aufschwung, denn der Straßenraum in den Städten wurde schnell zum extrem knappen Gut sowohl für den fließenden als auch ruhenden KFZ-Verkehr. Den „Bremsfaktor“ des langsamen Radfahrers aus dem Fahrbahnareal zu verbannen, Platz zu schaffen für den modernen, motorisierten Verkehr, erwies sich neben der Verlagerung öffentlicher Verkehrsmittel unter die Erdoberfläche als ein wichtiges Instrument damaliger Planungsvorstellungen. Der Ölpreisschock von 1973/ 74 und eine beginnende Diskussion um die Umweltauswirkungen des Verkehrs veränderten die Zielsetzung. Radverkehr galt nicht mehr als überkommene Art der Fortbewegung, die analog zur Entwicklung in Nordamerika bald aus dem Straßenbild verschwinden würde, sondern wurde als stadtadäquate Form der Mobilität erkannt. Das Planungsinstrumentarium änderte sich jedoch nicht. Nach wie vor galt der Bau von Radwegen, also die Separierung vom Auto- und Fußverkehr, als Mittel der Wahl. Dabei galt die bauliche Anlage - häufig noch in der damals vorgeschriebenen Mindestbreite von 1 m - schon als protegierte Form, denn noch bis in die frühen 1980er Jahre hielt sich auch das farbliche Aufmalen von Radwegen auf Gehwegflächen mit weißen Begrenzungslinien und Fahrradpiktogrammen. Förderung des Radverkehrs war dies nicht, denn Konflikte und Risiken mit dem Fußverkehr wurden damit geschürt und die Verbannung hinter Reihen parkender Fahrzeuge entzog die Radfahrer aus dem Sichtfeld des Autoverkehrs mit der Folge zunehmender Risiken im kreuzenden Verkehr an Knotenpunkten, einschließlich Grundstückszufahrten. RVF 2.0: Teil nachhaltiger Stadtentwicklung - auf der Zielebene In vielerlei Hinsicht besitzen seit langem die Niederlande eine verkehrspolitische Vorbildfunktion, indem dort entwickelte Innovationen mit Zeitverzögerung (nicht nur) nach Deutschland diffundieren. So waren die Woonerf (Wohnhöfe) die Vorstufe des verkehrsberuhigten Bereiches, und die Öffnung von Einbahnstraßen für den Radgegenverkehr sowie die Führung von Radlern auf statt neben der Straße via Radfahr- und Schutzstreifen wurden dort längst erfolgreich angewandt, als man in Deutschland über die Einsatzmöglichkeiten noch stritt. Was neuerdings als Radschnellwege in Deutschland gefordert und gefördert wird, kannte man in den Niederlanden schon in den 1980er Jahren als Velorouten. Immerhin wirkte sich das Vorbild der Nachbarn in vielen Änderungen der deutschen Straßenverkehrsordnung und Planungsrichtlinien aus, sich konzentrierend in den Empfehlungen für Radverkehrsanlagen [3]. Neben Radfahr- und Schutzstreifen betrifft das verkehrliche Anordnungen, kaum ein Verkehrsschild markiert das besser als StVO-Z 1022-10 „Radfahrer frei“. Fußgängerzonen, bisherige Nur-Gehwege, Zu- Bild 1: Bevölkerungsanteile, die das Fahrrad als häufigstes Verkehrsmittel verwenden, in Europa-2014 Quelle: [2] nach Daten der Europäischen Kommission und des Verkehrsclub Österreich 2015 Internationales Verkehrswesen (72) 3 | 2020 21 Radverkehr INFRASTRUKTUR fahrtsverbote, Einbahnstraßen und Abbiegegebote konnten damit für Radfahrer durchlässig gemacht werden. Mitunter fand es auch bei für Nichtmotorisierte durchgängigen Sackgassen Anwendung, häufiger wurde jedoch ein ADFC-Aufkleber verwendet, der in Fortsetzung der Sackgasse einen Geh-/ Radweg andeutete. Seit 2009 ist in der Zeichenverordnung die durchlässige Sackgasse regulär enthalten (StVO-Z 357-50, siehe Bild 2). Dies alles resultierte aus der Erkenntnis in der zweiten Phase seit den 1980er Jahren, dass der Radverkehr erhalten bleibt, wenn flächig-diffuse, automobilaffine Stadtstrukturen wie in Nordamerika vermieden werden. Er ist darüber hinaus regenerationsfähig, wenn er intensiv gefördert wird. Die hohen Anteile des Zweirades am Modal Split fahrradfreundlicher Städte lieferten dafür statistisch und eindrucksvoll erlebbar den Beweis. Verbunden damit war die Anerkennung des Radverkehrs als wichtigem Baustein einer umwelt- und sozialverträglichen Stadtmobilität. Dieser Wandel manifestierte sich sprachlich im Übergang der autoorientierten Generalverkehrszur Verkehrsentwicklungsplanung [4]. Hierzu gehörte formal die Anerkenntnis einer flächigen Radverkehrsförderung [5]. Die Realität sieht jedoch anders aus und dies prägt die aktuellen Defizitstrukturen. Kennzeichnend für die heutige Lage ist eine fortwährende Konzentration auf bauliche Infrastrukturen, gestützt durch die Förderpolitiken von Bund und Ländern. Auf kommunaler Ebene scheint - nicht nur im Verkehrsbereich - ein permanenter Wettbewerb um Fördermittel zu bestehen. Nicht nur zwischen den Kommunen, sondern mehr noch innerhalb der Verwaltungen sind Verwaltungsmitarbeiter von der Spitze bis zur planungsausführenden Ebene in hohem Maße um die Definition von Projekten bemüht, die sich für Förderzuschüsse eignen. Dies sind neben größeren Radabstellanlagen vor allem Radwege und besondere Knotenpunktlösungen mit der Folge einer räumlichen Fixierung auf die Radverkehrsführung entlang stark befahrener Straßen. Fördermittelakquise als quantifizierbarer Leistungsmaßstab der Mitarbeiter ist auch für die kommunale Politik wichtig, denn diese fordert angesichts knapper eigener Kassen die Verwaltung auf, Förderoptionen für die Aufgabenerledigung maximal auszuschöpfen. Für die Radverkehrspolitik ist das mittlerweile eher schädlich, denn Anträge und Mittelbewirtschaftung binden Arbeitszeit und damit Planungskapazitäten in erheblichem Umfang. Zudem sehen Förderungen immer Eigenanteile vor, die nicht selten den schmalen kommunalen Radverkehrsetat absorbieren. Damit setzt sich die Bau-Politik der ersten Entwicklungsphase nahtlos fort. Es sind aber nicht nur finanzielle Rahmenbedingungen, die diese Konzentration auf teure Infrastrukturen fördern, sondern wohl auch Effekte der Ausbildungssozialisation. Die Befähigung zur textlichen und zeichnerischen Lösung komplexer baulicher Aufgaben unter Einhaltung von Regelwerkmaßen besitzt in der Verkehrsplanung einen nachvollziehbar großen Stellenwert. Die Beschäftigung mit der Vielzahl kleiner, vermeintlich vernachlässigbarer Mängel in der Fläche, die dem Radler täglich das Fortkommen erschweren, werden jedoch nicht oder kaum thematisiert und gelten als Sisyphusarbeit, die keine Lorbeeren einbringt. Die Bereitschaft, sich mit Bordsteinkantenabsenkungen, Schieberillen/ -rampen an Treppen oder Beschilderungsänderungen zu befassen, fällt dementsprechend gering aus. Ob jedoch die Fixierung auf bauliche Infrastrukturen eine bessere Mittel-Wirkungsrelation aufweist, müsste längst kritisch hinterfragt werden. Der schlichte Umstand, dass in den vergangenen Jahrzehnten viele Bordsteinradwege gebaut wurden, wo sie tatsächlich benötigt werden, senkt den Grenznutzen weiterer Projekte. Und wenn, wie im Fall Lüneburgs, ein noch passabler Radweg einer Grundrenovierung zugeführt werden soll, weil vor allem reichlich Fördermittel in Aussicht stehen [6], ist der Zugewinn an Nutzen für den Radverkehr sehr fraglich. Demgegenüber könnten vielfach schon kleinere Korrekturen beispielsweise in der Oberflächenbeschaffenheit, der verkehrsrechtlichen Erlaubnis der Durchfahrt und der Beseitigung von physischen Hindernissen (Umlaufsperren und Steckpfosten, die eine Durchfahrt mit Lastenfahrrädern oder Anhängern erschweren bis unmöglich machen) ausreichen, um deutlich günstigere Radverkehrsbedingungen in der Fläche zu schaffen. RVF 3.0 - Elemente: Flächendeckende Netzdurchlässigkeit, Barrierefreiheit Ein wesentliches Merkmal einer an Elementarbelangen des Radverkehrs orientierten Förderung muss daher die Herstellung flächendeckender Netzdurchlässigkeit und Barrierefreiheit sein. Nur so kann man einerseits der hohen Umwegeempfindlichkeit gerecht werden, die dem Einsatz der Körperkraft zur Fortbewegung geschuldet ist, andererseits dem Umstand, dass sich potenzielle Ziele überall im Nahraum befinden. Letzteres kontrastiert jedoch mit der üblichen Planung mittels Wunschliniennetzen. Hierbei werden zwischen Hauptquellbereichen (Wohngebiete) und Hauptzielorten (z. B. Ausbildungsstätten, Gewerbegebiete, Ortszentrum) Ideallinien definiert und anschließend auf das reale Wegenetz umgelegt. Diese Methodik ist mit dem aus der KFZ-Verkehrsplanung stammenden Bündelungsprinzip verwandt, welches der Freihaltung der Wohnbereiche von Durchgangsverkehr dient. Positiv ist zwar für den Radverkehr die Konzentration von Investitionen auf hoch frequentierte Verkehrsbeziehungen, was eine gute Mittel-Zweck-Relation verspricht, aber es gibt zwei erhebliche Nachteile: Nachteil 1: Nahraummobilität innerhalb von Wohnquartieren und Stadtteilen findet durch die Hauptlinienorientierung selbst nach jahrzehntelanger Radverkehrsplanung keine Beachtung. Viele eher diffus verlaufende Wegebeziehungen zu Mitschülern, Kollegen, Bekannten, dem Bäckerladen, Kiosk oder Briefkasten des Quartiers, der Grundschule, Kirche oder Sportstätte des Stadtteiles und vieles mehr kommen nie in den dringend benötigten Genuss einer Wegeverbesserung, weil es nicht gelingt (und an Hauptverkehrsstraßen wohl niemals gelingen wird), die Priorität genießenden Radwegemagistralen auf ein zufriedenstellendes Qualitätsniveau zu bringen. Die reale, städtische Diffusität des Radverkehrs wird durch die Wunschlinienplanung systembedingt ignoriert, was vor allem denjenigen zum Nachteil gereicht, die zu den Nicht- oder Teilerwerbstätigen gehören, die verstärkt Haushalts-, Familienversorgungs- und Erziehungsaufgaben wahrnehmen und damit oft vielfältigere, aber kürzere Aktionsradien als one-way-radelnde Vollerwerbstätige aufweisen. Es ist angebracht, Bild 2: Verkehrszeichen 357-50 weist seit 2009 auf eine für Radverkehr und Fußgänger durchlässige Sackgasse hin. Internationales Verkehrswesen (72) 3 | 2020 22 INFRASTRUKTUR Radverkehr hier von einer „gender gap“ der Radverkehrsplanung zu sprechen. Nachteil 2: In der Verkehrsumlegungspraxis werden Hauptverkehrsstraßen mit ihren begleitenden Radwegen allein schon durch ihre dominante Hervorhebung in Plänen vorschnell als Leitlinien auch des Radverkehrs proklamiert. Gerade für längere Strecken erweisen sich solche Wege jedoch häufig als unsicher (wegen vieler KFZ-Querungen an Zufahrten und Knotenpunkten), unattraktiv (weil lärmbelastet) und langsam (da gesäumt mit Lichtsignalanlagen sowie Tempobremsungen durch kreuzenden Verkehr und diverse Hindernisse). Abseitige Strecken über Nebenstraßen, Park-/ Wald- und Feldwege sowie straßenverbindende (Geh-)Wege bieten sich dem hingegen als Alternativen an, werden prinzipiell auch genutzt, jedoch häufig in Unkenntnis der Routenverläufe mangels Wegweisung von vielen Radlern (wenn überhaupt) erst nach längerer Wohnzeit am Ort entdeckt. Wenn dann noch, wie im untersuchten Fallbeispiel Lüneburg, „Radcityrouten“ nur entlang von Hauptverkehrsstraßen ausgewiesen werden, erfüllt sich die Prophezeiung, dass auch Radler Hauptverkehrsstraßen als vermeintlich schnell und komfortabel präferieren, quasi von selbst und zusätzlich wird Autofahrern suggeriert, es gäbe keine schnelleren und schöneren Wege als die, die sie bereits mit dem PKW befahren. Bündelungsprinzip und Wunschlinienplanung sind deshalb mittelfristig keine geeignete Grundlage für Radverkehrsplanung, weil sie die Kriterien schnellen, sicheren und komfortablen Radverkehrs nicht hinreichend flächendeckend identifizieren bzw. umsetzen. Wie groß die Defizite sind, zeigen Erhebungsergebnisse einer 2018 in Lüneburg (78.000 Einwohner) und sieben Vorortgemeinden (zusammen 32.600 Einwohner) durchgeführten Analyse verkehrsrechtlicher und physischer Hindernisse: Zufahrtsverbote, Nur-Gehwegschilder, Einbahnstraßen und Abbiegegebote, nicht als durchlässig gekennzeichnete Sackgassen, Umlaufsperren/ Steckpfosten, die mit dem Lastenrad kaum noch gequert werden können, und weitere „Stolperfallen“ addierten sich zu insgesamt 492 Mängeln, die in Meldeblättern textlich, kartografisch und fotografisch dokumentiert wurden. 70,7 % davon entfielen auf die Kernstadt, 29,3 % auf den suburbanen Raum (Tabelle 1), was den Einwohnerproportionen fast bis auf die Nachkommastelle entspricht. Freilich werden insbesondere die ordnungsrechtlichen Schilderhemmnisse von Radlern längst nicht immer akzeptiert, sie nehmen sich als legitim empfundene, aber de jure illegale Nutzungsrechte heraus. Dieses zahlreich zu sehende Verhalten wird durch die Vermeidung sachlich unnötiger Geschwindigkeitsnachteile gerechtfertigt. Empirisch ist dem zuzustimmen, wie Reisezeitexperimentdaten für Lüneburg (und auch für Hamburg) 2012 zeigten. Der Attraktivitätsbereich von Radlern mit „strikter Verkehrsregelakzeptanz“ differiert gegenüber Kollegen mit „Normalverhalten“ in Relation zum PKW bereits spürbar, bei den Pedelec-Nutzern eklatant (Bild 3). Dessen ungeachtet sorgt formal regelwidriges Verhalten von Radfahrern bei Fußgängern und Autofahrern sowie in vielen Diskussionen von Politik, Planung und Polizei für Verdruss und trägt nicht wenig zu einer skeptischen bis verurteilenden Haltung bei. Die eigentlich auch nicht wenigen sich rechtskonform verhaltenden Radler fallen dabei nicht entlastend auf, weil sie meist präventiv die genannten Hindernisse auf anderen Strecken umfahren. Für beide Gruppen besteht Handlungsbedarf: Rechtstreuen Radfahrern sollten die möglichen komfortablen Abkürzungen eröffnet werden, und die Überführung bislang illegalen Verhaltens (ohne Gefährdungen/ Belästigungen Anderer) in die Legalität durch Umbeschilderungen verbessert das Radverkehrsklima durch entfallende Anlässe für Ärgernisse. So einfach und aus Kostenperspektive gar verlockend billig diese Option erscheint, in der Politik- und Planungspraxis dominiert Lethargie. Erschütternd prägnant drückte das 2005 ein Lüneburger Lokalpolitiker aus: „Warum müssen wir uns die Mühe machen, das zu ändern. Die Radler fahren doch sowieso, wie sie wollen.“ Netztransparenz analog und digital Wege abseits der Hauptverkehrsstraßen besitzen eine hohe raumästhetische Qualität, weshalb für den regionalpolitischen Kontext der Begriff der „Radschönrouten“ geprägt wurde. Er erweist sich in Vorträgen und Diskussionen immer wieder als besonders plakativ, assoziiert doch das Wort schon einen zentralen Aspekt. Obwohl es im Lüneburger Raum ein sehr dichtes, geradezu spinnwebartiges Netz solcher Wege gibt, sind lediglich drei davon per Wegweisung beschildert (Bild 4). Einer davon trägt die Bezeichnung „Radnebenroute“ in Abgrenzung zum Radweg entlang der Landesstraße 216. Diese Begrifflichkeit repräsentiert nicht das besondere Qualitätsmerkmal von attraktiver und lärmfreier Umgebung, assoziiert vielmehr nachteilige Umwege. Das trifft weder im besagten Fall zu, noch wären Umwege automatisch ein Wesensmerkmal der Radschönrouten. Diese verlaufen viel- Nicht für den Radverkehr flexibilisierte Nicht gekennzeichnete, durchlässige Sackgassen Umlaufsperren, zu enge Steckpfosten/ Poller Bordsteine Treppen Andere Einbahnstraßen Zufahrtsverbote Abbiegegebote Nur- Gehwege Lüneburg 39 30 21 47 79 47 27 12 46 Vororte 1 15 1 1 69 35 5 0 17 Tabelle 1: Netzmängel im Raum Lüneburg 2018 Reisezeitexperiment Lüneburg 2012 Reisezeitexperiment Lüneburg 2012 0,142/ 0143 km Pedelec/ Fuß 0,153/ 0,162 km Rad/ Fuß 0,162 k Bild 3: Reisezeiten in Differenzierung strikter Verkehrsregelakzeptanz (gestrichelte) und Normalverhalten (durchgezogene Linien) im nichtmotorisierten Verkehr in Lüneburg Internationales Verkehrswesen (72) 3 | 2020 23 Radverkehr INFRASTRUKTUR mehr oftmals direkter als die städtisch ausgeschilderten Wege, sind allemal wesentlich ampelärmer und damit nicht selten schneller befahrbar. Sie eignen sich deshalb keineswegs nur für den Freizeit-, sondern explizit auch für den Alltagsverkehr, in Abhängigkeit von der Beleuchtungssituation würden sie sich also als (weitere) Hauptrouten empfehlen. Ein anderer, in der Literatur zu findender Begriff der „Grünwege“ geht zwar assoziativ in die richtige Richtung, aber gar zu viele Nebenstraßenwege im urbanen Raum sind nicht als Zonen üppigen Begleitgrüns anzusprechen. Unabhängig von der Frage einer adäquaten Begrifflichkeit: Die fehlende Wegweisung erschwert das Finden dieser attraktiven Strecken, das gilt vor allem für Neubürger. Nach eigenen Berechnungen liegt die Zahl neuer Haushalte durch Zu-/ Fortzüge in der Universitätsstadt bei 9 % (96-Zu-, 84 Fortzüge pro 1.000 Ew. [7] jährlich. Auch in den Vororten sind Mieterwechsel häufig. Das bedeutet: Neben einem Grundstock langjähriger Bewohner von ca. 30 bis 40 % gibt es eine hohe Fluktuation mit Wohnzeitspannen von meist deutlich unter zehn Jahren, sodass die Angleichung der „mental maps“, also der subjektiven Vorstellungen über die Raumstrukturen an die realen Wegeangebote, nur unvollständig gelingt. Der Oberbürgermeister von Lüneburg meinte 2017 in einem kurzen Gespräch: „Die Lüneburger kennen die Wege doch.“ Eine solche Sichtweise verkennt nicht nur die hohe Wohnsitzmobilität, sondern zusätzlich den Umstand, dass sich der Fahrradverkehr nicht nur aus Ortsansässigen, sondern auch aus vielen Vorortbewohnern mit geringeren Stadtwegekenntnissen generiert. Die systematische Unterschätzung der Bedeutung einer Anpassung von Mental Maps an das gegebene - d. h. im Vergleich zu den meisten Mental Maps real deutlich bessere - Wegeangebot im diffusen Kurz- und Mittelstreckenverkehr per Fahrrad ist daher ein weiterer Problemfaktor auf dem Weg zu einer nutzeradäquaten Radverkehrsförderung. In diesem Sinne reicht auch die oben geforderte Barrierefreiheit via ordnungsrechtlicher Öffnung von Straßen- und Wegeverbindungen sowie Beseitigung überflüssiger Hindernisse nicht aus. Hinzukommen muss eine disperse, der Flächenerschließung genügende Ausschilderung von Radialstrecken zu Ortszentren und verkehrsstarken Zielorten sowie die Ausweisung von Tangentialstrecken zwischen Stadtteilen, Gewerbegebieten und Einzeleinrichtungen, beispielsweise Schulen, außerhalb der Zentrallagen. Zusätzlich wäre die kartografische Visualisierung über Radstadtpläne und Radlerkarten für den Stadt-Umland-Bereich anzuraten. Die dritte kommunikative Ebene weist den Weg von der analogen in die digitale Welt (und zurück): app-gesteuerte Navigation via Smartphone. Dies wird Teil 2 dieses Beitrages in der November-Ausgabe von Internationales Verkehrswesen weiter ausführen. ■ QUELLEN: [1] Bundesministerium für Verkehr, Bau und Wohnungswesen 2002: Nationaler Radverkehrsplan 2002-2012. FahrRad! Maßnahmen zur Förderung des Radverkehrs in Deutschland. Berlin, Köln Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung 2012: Nationaler Radverkehrsplan 2020. Den Radverkehr gemeinsam weiterentwickeln. Berlin [2] Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur 2015: Fahrradportal. www.nationaler-radverkehrsplan.de/ de/ aktuell/ nachrichten/ im-eu-vergleich-nur-im-mittelfeld [3] Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen: 1982: Empfehlungen für Planung, Entwurf und Betrieb von Radverkehrsanlagen. Köln 1996: Empfehlungen für Radverkehrsanlagen - ERA 95. Köln 2010: Empfehlungen für Radverkehrsanlagen - ERA 2010. Köln [4] Pez, P. (1997): Zufußgehen und Radfahren. Auf dem Weg zu einer „Dritten Verkehrsplangeneration“. RaumPlanung, 79, S. 258-266, hier: S. 258-259 [5] Schon der erste Satz im ersten Kapitel der ERA 95 lautete (S. 7): „Einrichtungen für den Radverkehr sollen das Radfahren flächendeckend sicher und attraktiv machen.“ [6] Stüwe, U. (2018): Teures Pflaster für Radler. Der Bund der Steuerzahl kritisiert die veranschlagten Kosten für den geplanten Neubau des Radwegs an der Uelzener Straße. Landeszeitung 22.5.2018, S. 3 [7] Bertelsmann Stiftung 2017: Demographiebericht. Ein Baustein des Wegweisers Kommune. Lüneburg (im Landkreis Lüneburg). Download : www.wegweiser-kommune.de ; abgerufen am 26.2.2020 Peter Pez, Apl. Prof. Dr. Institut für Stadt- und Kulturraumforschung, Leuphana Universität Lüneburg pez@uni.leuphana.de Antje Seidel, Dr. Institut für Ethik und Transdisziplinäre Nachhaltigkeitsforschung, Leuphana Universität Lüneburg antje.seidel@uni.leuphana.de Bild 4: Radcity- und Radschönrouten für Lüneburg und seinen suburbanen Bereich