Internationales Verkehrswesen
iv
0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2020-0067
91
2020
723
Ridepooling als ÖPNV-Ergänzung
91
2020
Felix Zwick
Eva Fraedrich
Nadine Kostorz
Martin Kagerbauer
Der vorliegende Beitrag zeigt am Beispiel des „Moia On-Demand Ridepooling-Services“ auf, wie sich Verkehrsnachfrage und -angebot während der Corona-Pandemie veränderten. Die Studie liefert Erkenntnisse, die in konkrete Handlungsempfehlungen für Anbieter und Kommunen übersetzt wurden. Es wird diskutiert, wie künftige Kooperationen zwischen öffentlichen Aufgabenträgern und privaten Anbietern ausgestaltet sein sollten, um verkehrliche Angebote zu schaffen, die einen Mehrwert hinsichtlich Flexibilität und Komfort für NutzerInnen sowie der Reduktion des motorisierten Individualverkehrs bieten.
iv7230084
Internationales Verkehrswesen (72) 3 | 2020 84 MOBILITÄT Covid-19-Pandemie Ridepooling als ÖPNV-Ergänzung Der Moia-Nachtservice während der Corona-Pandemie Ridepooling, Corona-Pandemie, Mobilitätsverhalten, ÖPNV, Public Private Partnership Der vorliegende Beitrag zeigt am Beispiel des „Moia On-Demand Ridepooling-Services“ auf, wie sich Verkehrsnachfrage und -angebot während der Corona-Pandemie veränderten. Die Studie liefert Erkenntnisse, die in konkrete Handlungsempfehlungen für Anbieter und Kommunen übersetzt wurden. Es wird diskutiert, wie künftige Kooperationen zwischen öffentlichen Aufgabenträgern und privaten Anbietern ausgestaltet sein sollten, um verkehrliche Angebote zu schaffen, die einen Mehrwert hinsichtlich Flexibilität und Komfort für NutzerInnen sowie der Reduktion des motorisierten Individualverkehrs bieten. Felix Zwick, Eva Fraedrich, Nadine Kostorz, Martin Kagerbauer D ie Corona-Pandemie hat unsere Mobilität über einen Zeitraum von vielen Wochen in teilweise extremem Ausmaß beeinflusst; Verkehrsverhalten wie auch Angebotsstrukturen im Personenverkehr erfuhren deutliche Veränderungen, als das öffentliche Leben zwischen Mitte März und Ende Mai 2020 bundesweit nahezu zum Stillstand kam. Während mit der Lockerung der Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie mittlerweile auch das Verkehrsaufkommen wieder gestiegen ist, sind die Diskussionen um möglicherweise langfristige Implikationen im System der Mobilität noch in vollem Gange. Prominente Themen sind unter anderem die wirtschaftlichen Folgen für bestimmte Mobilitätsbranchen, wie die Automobilindustrie oder Anbieter im öffentlichen Fern- und Nahverkehr, und mögliche Maßnahmen zur Milderung ökonomischer Negativeffekte (vgl. [1, 2]). Außerdem wird spekuliert, ob langfristige Veränderungen des Verkehrsverhaltens zu erwarten sind, beispielsweise durch eine Verlagerung der Nachfrage auf den Individualverkehr - hauptsächlich PKW und Rad - bei gleichzeitiger Abnahme der Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel (vgl. [3-6]). Auch die Folgen für Anbieter im Bereich der geteilten und bedarfsgerechten Mobilität sind Bestandteil der aktuellen Diskussionen; während hier einige die Pandemie als Chance sehen, „dass der Markt nach der Krise sogar besser werden könnte“ (Barbara Lenz in [7]), prognostizieren andere gar, dass „On-Demand-Shuttles und Carsharing- Anbieter [...] Corona nicht überleben“ werden (Andreas Knie in [8]). Gemeinsam ist vielen dieser Diskussionen, dass sie aktuell Unsicherheiten und Spekulationen unterliegen und dass Herausforderungen in Bezug auf Nachfrage- und Angebotsstrukturen wie auch die einzelnen Verkehrsträger bzw. Mobilitätsformen oftmals eher isoliert voneinander betrachtet werden. Daneben sind durch die und während der Pandemie neue Kooperationsformen entstanden, die mit flexiblen und innovativen Lösungsansätzen auf die plötzlichen Veränderungen im Verkehrsbereich reagiert haben. Die gemeinsame Angebotsbereitstellung während der Nachtzeit der Stadt Hamburg - bzw. ihres Verkehrsverbunds HVV - mit Mobilitäts- und Taxidienstleistern ist ein Beispiel dafür, wie Städte und Anbieter während der Krise in Kooperation ein Verkehrsangebot sicherstellen, das effizient und flexibel ist. Daraus lassen sich auch für die Zukunft Erkenntnisse ableiten, wie „klassische“ öffentliche und bedarfsgerechte Verkehre sinnvoll verzahnt werden können. Derzeit wird mit der Lockerung der pandemie-bedingten Maßnahmen vielerorts eine weitere Zunahme des motorisierten Individualverkehrs befürchtet (vgl. [9, 10]). Gleichzeitig ist bereits abzusehen, dass voraussichtlich bis mindestens zur zweiten Jahreshälfte 2021 mit wiederkehrenden Einschränkungen durch erneute (lokale) Infektionswellen mit damit verbundenen starken Schwankungen bei Verkehrsangebot und -nachfrage zu rechnen ist (vgl. [4]). Vor diesem Hintergrund ist es wichtiger denn je für Kommunen und deren Verkehrsanbieter, attraktive Alternativen zum Privat-PKW im bestehenden Verkehrssystem zu etablieren, die außerdem größere Flexibilität auf der Nutzungswie auch der Angebotsseite bieten. Die Stadt Hamburg hat dieses Potenzial erkannt und möchte als Gastgeber des nächsten ITS- Weltkongress mit seiner ITS-Strategie die Chancen der Digitalisierung aktiv ergreifen. Das Themenfeld „Mobility as a Service (MaaS)“ ist darin als ein Handlungsfeld festgelegt, um alternative Mobilitätsangebote zu fördern und damit wiederum den ÖPNV als „Rückgrat der Mobilität“ zu stärken. Der vorliegende Beitrag setzt hier an und nimmt den Zusammenhang zwischen Verkehrsnachfrage und Verkehrsangebot während der Corona-Pandemie am Beispiel des Moia On-Demand Ridepooling-Services in den Blick, um einerseits aufzuzeigen, wie verkehrliche Anbieter auf die Herausforderungen in dieser Zeit reagieren. Vor diesem Hintergrund soll insbesondere die Rolle von Ridepooling als neues, bedarfsgerechtes Verkehrsangebot in Hinblick auf eine sinnvolle Ergänzung des ÖPNV diskutiert und daraus erste Implikationen für die Zukunft abgeleitet werden. Andererseits wird über eine empirische Studie ein Teil der realisierten Verkehrsnachfrage in Hamburg zur Zeit der örtlich geltenden Beschränkungen zur Eindämmung des Coronavirus [11] erfasst. Die Untersuchung zeigt, wer Ridepooling während des nächtlichen Angebots nutzte, aus welchen Gründen die VerkehrsteilnehmerInnen unterwegs waren und wie sich ihr Verhalten aber auch ihre Einstellungen im Verlauf der Monate April und Mai 2020 sowie im Vergleich zum regulären Betrieb entwickelten. Die Ergebnisse wur- Internationales Verkehrswesen (72) 3 | 2020 85 Covid-19-Pandemie MOBILITÄT den sowohl mit Resultaten aus einer umfangreichen Befragung vor der Corona-Pandemie zur Ridepooling-Nutzung als auch mit allgemeinen Daten zur bundesweit größten Befragung zur Alltagsmobilität [12] in Beziehung gesetzt. Angebots- und Untersuchungsdesign Um während der Corona-Pandemie und der damit verbundenen verkehrlichen Herausforderungen das Angebot zu stärken, beauftragte die Stadt Hamburg verschiedene Mobilitätsanbieter. Der Ridepooling-Dienst Moia und das Taxengewerbe (selbstständige Unternehmer, Uber und Free Now) beteiligten sich mit je 100 Fahrzeugen an den Maßnahmen des Hamburger Verkehrsverbunds (HVV), mit denen zwischen dem 1. April und dem 24. Mai 2020 ein zusätzliches Nachtangebot im gesamten Hamburger Stadtgebiet ergänzend zu Schnellbahn- und Buslinien geschaffen wurde. VerkehrsteilnehmerInnen, die z. B. aus beruflichen Gründen auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen waren, konnten den Moia-Service im Rahmen des HVV-Tarifs ohne Zusatzkosten täglich zwischen 0 und 6 Uhr zu Sonderkonditionen nutzen. Ohne ein HVV- Ticket kostete der Service pauschal 4 EUR. Die Buchung erfolgte in der regulären Moia-App. Während der Zeit des Zusatzangebots wurde eine Online-Befragung mit 1.977 Personen (1.827 nach Bereinigung) durchgeführt, die zwischen dem 1. April und dem 24.- Mai 2020 das nächtliche Ridepooling- Angebot von Moia nutzten. Alle NutzerInnen erhielten im Anschluss an ihre Fahrten eine personalisierte E-Mail mit der Bitte um Teilnahme an der etwa fünfminütigen Umfrage - eine Teilnahme war dabei nur einmalig möglich. Die Befragung umfasste Soziodemografie, Nutzungsverhalten und spezifische Einstellungen der NutzerInnen und wurde zusätzlich mit pseudonymisierten Buchungs- und Fahrtdaten der Personen fusioniert 1 . Ergänzend wurden aggregierte Buchungsdaten in die Analyse miteinbezogen, um einen gesamtheitlichen Überblick über den Moia-Nachtservice zu erhalten. Um zu einigen ausgewählten Aspekten des Nutzungsverhaltens vor der Corona- Pandemie Vergleiche herstellen zu können, wurden außerdem Ergebnisse aus einer noch laufenden Langzeitstudie - der „Moia Begleitforschung“ - zu den Implikationen von Ridepooling auf das städtische Verkehrssystem ergänzt. In der Studie wurden Ende 2019 über 11.000 Moia-NutzerInnen sowie Nicht-NutzerInnen in einer umfangreichen Mobilitätserhebung befragt. Weitere Vergleiche wurden über die größte bundesdeutsche Verkehrserhebung [12] ergänzt. Ergebnisse Allgemeine Kennzahlen zum Moia-Nachtservice Insgesamt wurden über den gesamten Zeitraum, in der das ergänzende Angebot bestand (1. April bis 24. Mai 2020), bei einer konstanten Flottengröße von 100 Moia- Fahrzeugen in etwa 60.000 Fahrten durchgeführt und dabei knapp 70.000 Personen befördert, viele auch mehrfach. Obwohl die Bündelung von Fahrten (das sogenannte Pooling) auf maximal zwei Personen aus unterschiedlichen Buchungen begrenzt war, wurden knapp 34.000 (ca. 59 %) Fahrten gepoolt. Während diese Quote im April noch bei 46 % lag, stieg sie im Mai auf 69 %. Im zeitlichen Verlauf zeigt sich eine deutliche Zunahme der Anzahl an beförderten Personen (siehe Bild 1). Haben in der Woche vom 6. bis 12. April etwa 6.000 Personen den Nachtservice genutzt, so waren es zwischen 18. bis 24. Mai bereits 12.000. Eine ähnliche Entwicklung einer allmählichen Zunahme der alltäglichen Mobilität und des Verkehrs insgesamt im April und Mai konnte auch in anderen Erhebungen festgestellt werden (vgl. [13, 5, 14, 15]). Aufgrund der konstanten, unveränderbaren Flottengröße von max. 100 Fahrzeugen und der steigenden Nachfrage kam es insbesondere in den letzten Wochen des Angebots zu spürbaren Kapazitätsengpässen. Das bedeutet, dass es zu den per App angemeldeten Fahrtwünschen keine passenden oder verfügbaren Fahrzeuge mehr gab und der Fahrtwunsch nicht befriedigt werden konnte. Die Nachfrage nach Moia-Fahrten war im Durchschnitt in den Zeiträumen zwischen 0 und 2 Uhr sowie ab 5 Uhr am höchsten und nahm im Verlauf einer jeden Woche Richtung Wochenende hin konstant zu. Diese auf Tageszeit und Wochentag bezogenen Ganglinien entsprechen im Wesentlichen den Nutzungszeiten im Regulärbetrieb vor der Pandemie zur gleichen Zeit nachts. Bei einem Großteil der Fahrten (86 %) befanden sich Start und Ziel innerhalb des regulären Moia-Bediengebiets (siehe Bild 2). Größere Nachfragecluster außerhalb dieser Gegend gab es außerdem in den dicht besiedelten Gebieten Wilhelmsburg, Harburg und Bergedorf. Immerhin 9 % der Befragten gaben an, ihren Moia-Weg auch noch mit einem anderen Verkehrsmittel kombiniert zu haben - hauptsächlich mit Bus und Bahn. Dies ist insofern beachtlich, als dass der Service im gesamten Hamburger Stadtgebiet zur Verfügung stand und 97 % der Befragten angegeben haben, ihren Hauptwohnsitz innerhalb der Stadtgrenzen zu haben. Eine Analyse der räumlichen Verteilung der kombinierten Wege ergab, dass besonders viele am Hamburger Hauptbahnhof starteten. Dies lässt den Schluss auf eine Kombination mit dem schienengebundenen Nah- und Fernverkehr zu. Darüber hinaus endete ein relevanter Anteil der Wege am Fähranleger Teufelsbrück. Von dort fährt eine Fähre zum Airbus-Gelände. 14 15 16 17 18 19 20 21 Kalenderwoche 0 2000 4000 6000 8000 10000 12000 Anzahl Fahrten M D M D F S S Wochentag 0 2000 4000 6000 8000 10000 Anzahl Fahrten 0 1 2 3 4 5 6 Tagesstunde 0 2000 4000 6000 8000 10000 12000 14000 Anzahl Fahrten Bild 1: Übersicht über die Fahrten je Woche, Wochentag und Tagesstunde Internationales Verkehrswesen (72) 3 | 2020 86 MOBILITÄT Covid-19-Pandemie Die NutzerInnen des Moia-Nachtservices Mit einem Anteil von 45 % Frauen ist das Geschlecht der Befragten in etwa gleich verteilt und entspricht darüber hinaus sowohl der Verteilung der NutzerInnen, die Ende des Jahres 2019 bei der großen Umfrage im Rahmen der Begleitforschung ermittelt wurde (45 %), als auch in etwa der Hamburger Gesamtbevölkerung (49 %) [12]. Das durchschnittliche Alter der befragten Personen liegt mit 32 Jahren allerdings deutlich unterhalb des Durchschnittsalters von Moia-NutzerInnen in der Zeit vor der Pandemie (41 Jahre) und spiegelt sich gleichzeitig auch im beruflichen Status wieder: 21 % der Befragten befinden sich in der Ausbildung (z. B. als Studierende), während dies wiederum nur für 5 % der Befragten aus der Umfrage vor Corona zutrifft. Auf die Frage, wie die Teilnehmenden vom Nachtservice erfahren haben, gaben 51 % den Moia-Newsletter oder die Moia- App an, 27 % wurden von FreundInnen oder KollegInnen informiert, aber nur 8 % über Social Media und 7 % über den Hamburger Verkehrsverbund (HVV). Allerdings waren unter den 1.827 Befragten etwa 87 % auch schon vor dem Start des Nachtservice bei Moia registriert; und unter allen ca. 17.000 Nachtservice-NutzerInnen betrug der Anteil der BestandskundInnen 76 %. Gefragt nach ihren Mobilitätswerkzeugen gaben 74 % der Personen an, über eine ÖV-Zeitkarte zu verfügen, 33 % können auf einen PKW zugreifen und 52 % besitzen ein Fahrrad. Auch hier bestehen deutliche Unterschiede zu den Angaben von Moia-KundInnen vor der Pandemie: hier haben 45 % eine Zeitkarte, 72 % können jederzeit über einen PKW verfügen und 80 % besitzen ein Fahrrad. 7 % der BefragungsteilnehmerInnen berichteten, dass sie den Weg für ihre letzte Fahrt ansonsten gar nicht zurückgelegt hätten, wenn der Moia-Nachtservice nicht zur Verfügung gestanden hätte. Der Anteil dieser induzierten Wege lag laut der Ergebnisse der Befragung von Ende 2019 im regulären Betrieb bei nur 1 %. Die zusätzlichen Wege während des Nachtservices wurden zu 75 % für freizeitbezogene Fahrten und überwiegend in den ersten Stunden nach Mitternacht unternommen. Wegezwecke Die Frage nach dem Wegezweck dient dem- Verständnis, wieso Personen während der Corona-Pandemie und zu Zeiten der umfangreichen Ausgangsbeschränkungen nachts unterwegs waren. Im gesamten Zeitraum der Befragung haben 61 % der Befragten angegeben, entweder zu oder von FreundInnen/ Familie oder Freizeitangelegenheiten gefahren zu sein, während 34 % den Weg von der oder zur Arbeit bzw. von/ zu einer geschäftlichen Angelegenheit als Grund des Unterwegsseins nannten. Da sich die Angabe in der Befragung nur auf die jeweils letzte Fahrt einer Person bezieht, lässt dieses Ergebnis noch wenig Rückschlüsse auf die Verteilung von Wegezwecken über alle Fahrten zu. Befragte, die angaben, zuletzt eine arbeitsbezogene Fahrt gemacht zu haben, haben den Nachtservice durchschnittlich 7,7 Mal genutzt. Demgegenüber haben Personen, die angaben, zuletzt freizeitbedingt unterwegs gewesen zu sein, durchschnittlich lediglich 2,9 Fahrten durchgeführt. Daher kann angenommen werden, dass der Anteil der arbeitsbezogenen Wege insgesamt den der freizeitbezogenen Wege deutlich übersteigt. Vor allem der Anteil der arbeitsbezogenen Fahrten liegt im Vergleich zum Ergebnis aus der Befragung Ende 2019 zum regulären Servicebetrieb deutlich höher - dort verteilen sich knapp 20 % der Fahrten auf arbeitsbedingte Wegezwecke. Im Nachtservice zeigt sich eine deutliche Zunahme der freizeitbezogenen Fahrten über die Zeit, was wiederum auf eine Veränderung bzw. ,Normalisierung‘ des Mobilitätsverhaltens schließen lässt, siehe oben. Während im April noch 53 % der Befragten angaben, zu Freizeitzwecken unterwegs zu sein, waren es im Mai bereits 73 % (siehe Bild 3). Bild 4 zeigt, für welchen Wegezweck die Befragten zu welchen Tageszeiten und Wochtentagen jeweils unterwegs waren. So haben mehr als 60 % aller Befragten, die einen arbeitsbezogenen Wegezweck angaben, den Service nach 4 Uhr genutzt. Freizeitbezogene Fahrten fanden dagegen überwiegend in den ersten Stunden nach Mitternacht statt. Während sich die arbeitsbezogenen Fahrten, mit Ausnahme einer überraschenden Nachfragespitze am Donnerstag, relativ gleichmäßig über die gesamte Woche ver- Bild 2: Räumliche Verteilung der Nachtservicefahrten, in schwarz die Landesgrenze Hamburgs und Bediengebiet des Nachtservices, in rot das reguläre Moia-Bediengebiet. Hintergrundkarte: © 2011-2020 Esri und seine Lizenzgeber April n = 1.090 Mai n = 737 0% 20% 40% 60% 80% 100% Anteil Nennungen 42% 22% 53% 73% Arbeitsbezogen Freizeitbezogen Sonstige Bild 3: Anteil der angegebenen Wegezwecke für die Monate April und Mai Internationales Verkehrswesen (72) 3 | 2020 87 Covid-19-Pandemie MOBILITÄT teilen, finden die meisten freizeitbezogenen Wege zwischen Freitag und Sonntag statt. Berufsgruppen Um zu verstehen, welche Berufsgruppen nachts besonders häufig unterwegs waren und dabei das Moia-Angebot nutzten, wurden die Befragten gebeten, sich einer Berufsgruppe zuzuordnen [16]. Die Zuordnung aller Befragten, die einen arbeits- oder freizeitbezogenen Wegezweck angegeben haben, zu einer Berufsgruppe ist in Bild 5 dargestellt. Es zeigt sich, dass der Anteil der Berufsgruppen aus den Bereichen Gesundheit/ Soziales, Verkehr/ Logistik und Sicherheit/ Militär an den arbeitsbezogenen Wegen mehr als doppelt so hoch ist als ihr Anteil an den freizeitbezogenen Wegen. Auch eine manuelle, stichprobenhafte Auswertung von Freitextfeldern zeigt deutlich, dass Menschen, die nachts zu Arbeitszwecken unterwegs waren, zu einem großen Teil in Pflegeberufen oder im Beförderungssektor (z. B. als BusfahrerIn) beschäftigt sind. Einstellungsbezogene Fragen In der Umfrage wurden die Teilnehmenden gebeten, unterschiedliche Aussagen zu ihrem Mobilitätsverhalten und -empfinden während der Corona-Pandemie auf einer Skala von „trifft voll zu“ bis „trifft gar nicht zu“ zu bewerten. Bild 6 zeigt die durchschnittliche Bewertung der Aussagen. 2 Im zeitlichen Verlauf von nur wenigen Wochen erfuhren einige der Aussagen eine zumindest leichte Veränderung. Insbesondere die Verschiebungen bei den Aussagen zur selbst wahrgenommenen Veränderung des Mobilitätsverhaltens sowie zur Akzeptanz der öffentlichen Verkehrsmittel (im Vergleich zu Moia) lassen vermuten, dass sich nach einer Phase von drastischen Einschränkungen, die sich insbesondere auch auf die Bewegungsfreiheit der Menschen auswirkte, langsam wieder eine Phase der Normalisierung eingestellt hat. Die Maskenpflicht, die ab dem 27. April auch im Moia-Fahrzeug galt, war offensichtlich kein Hindernis für die Befragten - insgesamt stimmten 85 % der Aussage, die Maskenpflicht wäre ein Grund, den Service nicht zu nutzen, nicht oder eher nicht zu (in der Abbildung nicht dargestellt). Diskussion Ein wesentliches Merkmal von bedarfsgerechten Mobilitätsangeboten liegt, wie der Name schon sagt, in einer Orientierung des Serviceangebots am Bedarf bzw. an der tatsächlichen Nachfrage sowie einer schnellen und flexiblen Anpassung. Im vorliegenden Beispiel der Kooperation zwischen der Stadt Hamburg und Moia hat sich gezeigt, dass die starre Begrenzung der Flottengröße auf 100 Fahrzeuge in Kombination mit dem stetigen Anstieg der Nachfrage mit der Zeit zu einer Verschlechterung der Servicequalität insgesamt führte, weil zunehmend Fahrtanfragen abgelehnt werden mussten. Hier sollten bedarfsgerechte Angebote künftig eine ihrer Stärken einsetzen und z. B. Flottengrößen schnell und flexibel anpassen können. Die Auswertungen zeigen auch, dass Ridepooling ein klares Potenzial für intermodale Wege aufweist. Im Nachtservice wurde knapp jeder zehnte berichtete Weg noch mit einem anderen Verkehrsmittel kombiniert, wobei der reale Anteil sogar noch deutlich höher liegen könnte, wenn man annimmt, dass solche Wege häufig Arbeitsbzw. Pendelwege sind, bei denen der Anteil an kombinierten Wegen im Hamburger Durchschnitt insgesamt höher - bei 27 % - liegt [12]. Weil die Servicezeiten im nächtlichen Angebot auf zwischen 0 und 6- Uhr beschränkt waren, sind außerdem, so die Annahme, auch einige Arbeitswege, insbesondere für Beschäftigte in Pflegeberufen, „verloren“ gegangen. Über Auswertungen von Freitextfeldern in der Befragung sowie auf Nachfrage bei den Hamburger Kliniken konnte ermittelt werden, dass eine Nachtschicht üblicherweise um 6: 30-Uhr endet. Auch hier wäre eine größere Flexibilität mindestens im Sinne der NutzerInnen des Angebots wünschenswert gewesen. Auch in Bezug auf die Ausgestaltung des Bediengebiets ist das Thema der Flexibilität relevant und sollte daher künftig stärker berücksichtigt werden. Eine überwältigende Mehrheit der erfassten Fahrten fand in den zentrumsnahen Gegenden von Hamburg statt. Das kann als Hinweis darauf gelesen werden, dass eine Erweiterung von Bediengebieten bedarfsgerechter Mobilitätsangebote bis an die Ränder einer Stadt möglicherweise derzeit noch auf verhältnismäßig geringe Nachfrage trifft. Begleitende Untersuchungen von Buchungswie auch empirischen Daten können hier wiederum wichtige Hinweise liefern, ob und wie sich solche Nachfragemuster verändern, um dann wiederum evidenzbasiert und schnell Anpassungen vornehmen zu können. Grundsätzlich ergänzen sich Ridepooling-Dienste und ÖV nicht nur in Corona-Zeiten gut, da sich die Spitzen der Ganglinien beider nicht überlappen, sondern eher gegenläufig sind. Die Auswertung der Angaben zu den Kommunikationskanälen, auf denen zum nächtlichen Angebot informiert wurde, zeigt einen starken Überhang zu Ungunsten des HVV: Die Tatsache, dass nur 7 % der Befragten angaben, auf diesem Kommunikationskanal über den Service informiert worden zu sein, zeigt ein deutliches Potenzial auf. Vor diesem Hintergrund scheint es für künftige Kooperationen zwischen unterschiedlichen Anbietern wichtig zu sein, gemeinsame Kommunikationsstrategien sowie deren Umsetzung anzustreben. Eine solche Kommunikation kann darüber hin- 0 1 2 3 4 5 6 Angefangene Tagesstunde 0% 5% 10% 15% 20% 25% 30% 35% 40% Anteil Nennungen innerhalb des Wegezwecks M D M D F S S Wochentag 0% 5% 10% 15% 20% 25% 30% 35% 40% Arbeitsbezogen (n=614) Freizeitbezogen (n=1,109) Sonstige (n=104) Bild 4: Verteilung von Fahrten nach Wegezweck im Stunden- (links) und im Wochenverlauf (rechts) Arbeitsbezogen n = 614 Freizeitbezogen n = 1.109 0% 20% 40% 60% 80% 100% Anteil Nennungen 25% 12% 14% 24% 16% 7% 5% 11% 10% 11% 7% 3% 22% 30% Sonstiges Sicherheit, Militär Verwaltung, Betriebswirtschaft, Buchhaltung, Recht Wissenschaft, Medien, Kultur Verkehr & Logistik Kaufm. Dienstleistungen, Handel & Vertrieb, Tourismus Gesundheit, Soziales Bild 5: Anteil von unterschiedlichen Berufsgruppen für arbeits- und freizeitbezogene Wege Internationales Verkehrswesen (72) 3 | 2020 88 MOBILITÄT Covid-19-Pandemie aus helfen, Nachfragen zu steuern bzw. zu regulieren. So hätte im vorliegenden Beispiel eine Bewerbung des Angebots in Krankenhäusern, Pflegeeinrichtungen, etc. möglicherweise auch zu einer noch höheren Nachfrage in diesem Bereich geführt. Über die Analyse von empirischen und Buchungsdaten zum Ridepooling-Nachtangebot konnten Erkenntnisse generiert werden, die in konkrete Handlungsempfehlungen für Anbieter und Kommunen übersetzt wurden. Solche Empfehlungen können erste Hinweise liefern, wie künftig ähnliche Kooperationen zwischen öffentlichen Aufgabenträgern und privaten (Ridepooling-) Anbietern ausgestaltet sein müssen, um verkehrliche Angebote zu schaffen, die einen Mehrwert hinsichtlich Flexibilität und Komfort für NutzerInnen sowie der Reduktion des motorisierten Individualverkehrs bieten. Vor allem in Zeiten, in denen die Nachfrage insgesamt nicht hoch und der Öffentliche Verkehr mit großem Angebot (Bahnen und große Busse) eher schwach besetzt ist, kann eine Kombination mit On-Demand-Diensten ökonomisch und ökologisch sinnvoll sein. In Gebieten mit niedrigen Nachfragemengen ergänzen diese Angebote den Öffentlichen Verkehr und können so helfen, den privaten PKW-Besitz zu reduzieren. Auch die über die Befragung ermittelte auffällig geringe Verfügbarkeit von Mobilitätswerkzeugen (z. B. Rad oder PKW) der NutzerInnen des Moia-Services zu Zeiten der Pandemie zeigt, dass Verkehrsverbünde durch Kooperation mit Ridepooling-Anbietern der Daseinsvorsorge verstärkt nachkommen können. Aufgrund eines möglicherweise erhöhten Infektionsrisikos in vollbesetzen Massenverkehrsmitteln sowie der Herausforderung von evtl. wiederkehrenden Infektionswellen über einen längeren Zeitraum ist es wichtig, VerkehrsteilnehmerInnen ohne Alternative zum ÖPNV eine weitere Form der Mobilität zu bieten. ■ 1 Für dieses Vorgehen wurde eine Erklärung aufgesetzt, in denen die Befragten Hinweise zum Datenschutz erhielten und anschließend ihr Einverständnis erklären mussten, bevor sie mit der Befragung starten konnten. 2 Die fünfstufige Skala ist auf der Abbildung nicht zur Gänze abgebildet, sondern beginnt stattdessen in der Mitte bei „Weder noch“. LITERATUR [1] Balser, M.; Bauchmüller, M.; Beisel, K. (2020): EU: Bis zu 100 Milliarden für Mobilitätssektor. Süddeutsche Zeitung. Online verfügbar unter www.sueddeutsche.de/ politik/ eu-konjunkturprogramm-corona-krise-automobilindustrie-1.4913344 [2] Götz, S. (2020): Corona-Krise: Hilfe in Milliardenhöhe für die Deutsche Bahn geplant. ZEIT ONLINE. Online verfügbar unter www.zeit. de/ mobilitaet/ 2020-05/ corona-krise-deutsche-bahn-eigenkapitalerhoehung-wirtschaftliche-folgen [3] Eisenmann, C.; Kolarova, V.; Nobis, C.; Winkler, C; Lenz, B. (2020): DLR-Befragung: Wie verändert Corona unsere Mobilität? Verkehrsmittelnutzung, Einkaufs-, Arbeits- und Reiseverhalten. DLR Institut für Verkehrsforschung. Online verfügbar unter https: / / verkehrsforschung.dlr.de/ de/ news/ dlr-befragung-wie-veraendert-corona-unsere-mobilitaet [4] Richert, J.; Cobián Martin, I.; Schrader, S. (2020): Wie kann es nach “Corona” weitergehen? Strategien für den ÖPNV zur Rückgewinnung von Fahrgästen bei vorerst unklarer Risikolage. Der Nahverkehr. Ausg. 6/ 2020. S. 20-22. [5] Follmer, R.; Leppler, D. (2020): Alles anders oder nicht? Unsere Alltagsmobilität in der Zeit von Ausgangsbeschränkung oder Quarantäne. Ausgabe 3. Infas und Motiontag. Online verfügbar unter www. infas.de/ fileadmin/ user_upload/ infas_mobility_CoronaTracking_ Nr.03_20200513.pdf [6] Gehrs, B.; Tiemann, M. (2020): Städtische Mobilität nach Corona: Auto-Kollaps oder Fahrrad-Boom? Online verfügbar unter www. greenpeace.de/ sites/ www.greenpeace.de/ files/ publications/ s02871_es_gp_mobilitaet_radverkehr_studie_5_20_fin.pdf [7] „mal angenommen“ - Tagesschau Podcast (2020): Wie Corona Mobilität verändern könnte. Ausgabe vom 07.05.2020. Online verfügbar unter www.tagesschau.de/ multimedia/ podcasts/ malangenommen-corona-mobilitaet-101.html [8] NahverkehrHamburg (2020): Mobilitätsforscher: „On-Demand- Shuttles und Carsharing-Anbieter werden Corona nicht überleben“. Ausgabe vom 25.03.2020. Online verfügbar unter www.nahverkehrhamburg.de/ mobilitaetsforscher-on-demand-shuttles-undcarsharing-anbieter-werden-corona-nicht-ueberleben-14526/ [9] Hägler, M. (2020): Mobilität in der Corona-Krise: Der Keim fährt mit. Süddeutsche Zeitung. Online verfügbar unter www.sueddeuts c h e . d e / w i r t s c h a f t/ m o b i l i t a e t-ve r k e h r s we n d e c o ro n a - 1.4914992? reduced=true [10] Hübner, I. (2020): Nach der Coronakrise: Deutsche fahren lieber mit dem Auto als mit den Öffis. Elektronik automotive. Online verfügbar unter www.elektroniknet.de/ elektronik-automotive/ sonstiges/ deutsche-fahren-lieber-mit-dem-auto-als-mit-den-oeffis-176510. html [11] Hamburger Senatskanzlei (2020): Corona. Allgemeinverfügungen und Verordnungen. Online verfügbar unter www.hamburg.de/ allgemeinverfuegungen/ [12] Infas, DLR, IVT und infas 360 (2018): Mobilität in Deutschland (im Auftrag des BMVI) [13] Apple Maps (2020): Mobility Trends Reports. Change in routing requests since 13 January 2020. Online verfügbar unter www.apple. com/ covid19/ mobility [14] Google (2020): COVID-19 Community Mobility Reports. Online verfügbar unter www.google.com/ covid19/ mobility/ [15] Molloy, J. (2020): MOBIS: COVID-19. Mobilitätsverhalten in der Schweiz. Coronavirus-Studie. ETH Zürich und Universität Basel. Online verfügbar unter https: / / ivtmobis.ethz.ch/ mobis/ covid19/ [16] Bundesagentur für Arbeit. Statistik (2013): Klassifikation der Berufe. Systematik und Verzeichnisse der KldB 2010. Online verfügbar unter https: / / statistik.arbeitsagentur.de/ nn_10414/ Statischer-Content/ Grundlagen/ Klassifikationen/ Klassifikation-der-Berufe/ KldB2010/ Systematik-Verzeichnisse/ Systematik-Verzeichnisse.html Eva Fraedrich, Dr. rer nat. MOIA GmbH, Berlin eva.fraedrich@moia.io Nadine Kostorz, M.Sc. Institut für Verkehrswesen, Karlsruher Institut für Technologie (KIT), Karlsruhe nadine.kostorz@kit.edu Felix Zwick, M.Sc. MOIA GmbH, Hamburg felix.zwick@moia.io Martin Kagerbauer, Dr.-Ing. Institut für Verkehrswesen, Karlsruher Institut für Technologie (KIT), Karlsruhe martin.kagerbauer@kit.edu Weder noch Trifft eher zu Trifft voll zu Es ist für mich in Ordnung, dass andere Fahrgäste mit mir befördert werden können. MOIA ist für mich hygienisch eine gute Mobilitätsoption. Im MOIA Fahrzeug fühle ich mich in Zeiten der Corona-Pandemie besser geschützt als in den öffentlichen Verkehrsmitteln. Mein Mobilitätsverhalten hat sich durch die Corona-Pandemie verändert. April (n=1.043) Mai (n=711) Bild 6: Durchschnittliche Einstellungen zu mobilitätsbezogenen Aussagen
