Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2020-0069
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2020
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Mobilität in Zeiten der Pandemie
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2020
Claudia Nobis
Christine Eisenmann
Viktoriya Kolarova
Christian Weber
Barbara Lenz
Um die Ausbreitung des Corona-Virus zu bremsen, wurden in Deutschland ab März 2020 zahlreiche Schutzmaßnahmen ergriffen. Unser Alltag hat sich dadurch erheblich verändert. Neben den kurzfristigen Auswirkungen der Pandemie auf das Mobilitätsverhalten stellt sich Wissenschaft und Praxis die Frage nach den mittel- und langfristig Effekten. Eine repräsentative Panelbefragung des DLR-Institut für Verkehrsforschung zeigt: Während der öffentliche Verkehr an Boden verliert, nimmt die Bedeutung individueller Verkehrsmittel, insbesondere des privaten PKW, zu.
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Internationales Verkehrswesen (72) 3 | 2020 94 MOBILITÄT Covid-19-Pandemie Mobilität in Zeiten der Pandemie Auswirkungen von Corona auf Einstellungen und Mobilitätsverhalten Mobilitätsverhalten, Corona, Mobilitätserhebung, Multimodalität Um die Ausbreitung des Corona-Virus zu bremsen, wurden in Deutschland ab März 2020 zahlreiche Schutzmaßnahmen ergriffen. Unser Alltag hat sich dadurch erheblich verändert. Neben den kurzfristigen Auswirkungen der Pandemie auf das Mobilitätsverhalten stellt sich Wissenschaft und Praxis die Frage nach den mittel- und langfristig Effekten. Eine repräsentative Panelbefragung des DLR-Institut für Verkehrsforschung zeigt: Während der öffentliche Verkehr an Boden verliert, nimmt die Bedeutung individueller Verkehrsmittel, insbesondere des privaten PKW, zu. Claudia Nobis, Christine Eisenmann, Viktoriya Kolarova, Christian Winkler, Barbara Lenz D as Jahr 2020 ist weltweit durch die Corona-Pandemie geprägt. In Deutschland haben Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung des Corona-Virus von Mitte März an für mehrere Wochen das wirtschaftliche und öffentliche Leben auf ein Minimum reduziert. Die anschließende Phase der vorsichtigen Lockerungen hat zu Teilen eine Rückkehr zur Normalität ermöglicht. Von einem Alltagsleben wie in der Zeit vor Corona sind wir auch heute noch weit entfernt. Je länger dieser Ausnahmezustand anhält, umso tiefer prägen sich die in dieser Zeit erprobten Verhaltensweisen ein und beeinflussen durch den Aufbau neuer Routinen das zukünftige Verhalten. Dies gilt auch und gerade für das Mobilitätsverhalten. Die Auswertung von Mobilfunkdaten zeigt, dass das Verkehrsaufkommen in Deutschland im Laufe der zweiten und vor allem der dritten Märzwoche stark abgenommen hat [1]. Wesentliche Gründe hierfür waren die corona-bedingten Schließungen von Schulen, Kindergärten und Universitäten, die je nach Bundesland verhängten Kontakt- und Ausgangssperren, die von vielen Arbeitgebern forcierte Verlagerung der Arbeit ins Homeoffice sowie die weltweiten Reisewarnungen, Grenzschließungen und Aufforderung der Bundesregierung auf unnötige Aktivitäten und Reisen zu verzichten. Zum Zeitpunkt des tiefsten Lockdowns Ende März war ein Rückgang des Wegeaufkommens um 40 % im Vergleich zum Vorjahr zu verzeichnen. In den folgenden Wochen ist das Verkehrsaufkommen nach und nach wieder angestiegen. Anfang Juni wurde das Ausgangsniveau der Zeit vor dem Lockdown erreicht [1]. Mobilfunkdaten können mengenmäßige Effekte im Verkehr abbilden. Sie sagen jedoch nichts über die dahinterstehenden Personengruppen und deren Beweggründe aus. Begleitende Erhebungen sind daher von hoher Bedeutung. Weltweit durchgeführte Studien, z. B. [2-8] adressieren bisher vor allem die Zeit während des Lockdowns. In dieser Phase mussten die Menschen in kürzester Zeit mit drastischen Verhaltensänderungen auf die zur Eindämmung des Corona-Virus verhängten Maßnahmen reagieren. Die Reduktion des Verkehrs ging dabei viel weiter, als die Wissenschaft dies ohne Ausnahmesituation unter Nachhaltigkeitsgesichtspunkten je gefordert hätte [9]. Durch die Krise ausgelöste neue Verhaltensweisen bergen gleichermaßen Chancen wie Risiken für das Gelingen der Verkehrswende. Dem Ausprobieren umweltfreundlicher Verkehrsmittel, allen voran dem Fahrrad, von ansonsten nur schwer dafür zu gewinnenden Personengruppen und dem Verzicht auf physische Wege, z. B. durch Homeoffice, steht die Verlagerung von öffentlich genutzten zu individuell genutzten Verkehrsmitteln gegenüber. Um die langfristigen Auswirkungen der Krise auf die Verkehrsnachfrage zu verstehen, gilt es daher zwei Fragen zu beantworten: • Wie hat sich das Mobilitätsverhalten während des Lockdowns verändert, und welche Erfahrungen haben die Menschen dabei gemacht? • Welche dieser Verhaltensweisen setzen sich auch nach der Phase des Lockdowns fort? Datengrundlage Zur Beantwortung dieser und weiterer Fragen hat das DLR-Institut für Verkehrsforschung die Panel-Studie „Mobilität in Krisenzeiten“ konzipiert. Ziel der Studie ist es, dieselben Personen zu drei verschiedenen Zeitpunkten zu befragen, um die Veränderungen auf individueller Ebene zu messen. Ab der zweiten Erhebung wird der Ausfall von wiederholt befragten Personen durch die Aufnahme neuer Probanden ausgeglichen. Auf diese Weise können neben Längsschnittjeweils auch repräsentative Querschnittsanalysen der Einzelerhebungen durchgeführt werden. Die erste Welle der Befragung war in der Woche vor Ostern (6.-10. April 2020) im Feld. Zu diesem Zeitpunkt galten in Deutschland die strengsten Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie. Die Verkehrsnachfrage lag weit unter dem sonst üblichen Niveau [1]. Die zweite Welle wurde vom 29. Juni bis 8. Juli 2020 durchgeführt. In beiden Fällen wurden 1.000 Personen über das Access Panel des Erhebungsinstituts Kantar GmbH im Rahmen einer Online-Erhebung befragt. Die zweite Welle setzt sich aus 566 Wiederholern und 434 neu angeworbenen Probanden zusammen. Themen der Befragungen sind die Verkehrsmittelwahl und die Mobilität auf Einkaufs-, Freizeit- und Arbeitswegen vor der Pandemie und zum jeweiligen Erhebungs- Internationales Verkehrswesen (72) 3 | 2020 95 Covid-19-Pandemie MOBILITÄT zeitpunkt sowie private und dienstliche Reisen, Einstellungen und persönliche Strategien im Umgang mit der Krise. Die dritte Erhebung soll im Herbst 2020 stattfinden. Bildung von Modalgruppen Schwerpunkt der hier vorgestellten Ergebnisse sind der Vergleich des Mobilitätsverhaltens vor der Verbreitung des Corona- Virus, während der Phase des Lockdowns sowie zum Zeitpunkt weitgehender Lockerungen Ende Juni/ Anfang Juli. Die Analyse erfolgt anhand der Einteilung von Personen auf Basis der von ihnen im Verlauf einer Woche genutzten Verkehrsmittel in Modalgruppen. Personen, die nur eines der drei Verkehrsmittel Auto, Fahrrad und öffentliche Verkehrsmittel (ÖV) nutzen, sind monomodal. Personen, die zwei oder alle drei der genannten Verkehrsmittel nutzen, sind multimodal. In Summe können drei monomodale und vier multimodale Personengruppen unterschieden werden. Wege zu Fuß werden bei der Einteilung nicht berücksichtigt, damit die Anzahl der Modalgruppen überschaubar bleibt. Zudem legen sehr viele Menschen im Verlauf einer Woche Wege zu Fuß zurück, sodass sich diese Wege weniger gut als differenzierendes Merkmal eignen [10]. Wenn von monomodalem Verhalten gesprochen wird, bezieht sich dies im Nachfolgenden lediglich auf die der Einteilung zugrundeliegenden Verkehrsmittel. Mit den Modalgruppen können sowohl die Verkehrsmittelwahl und das damit verbundene Mobilitätsverhalten als auch die intrapersonelle Variabilität des Mobilitätsverhaltens abgebildet werden [10]. Im Gegensatz zu Wegetagebüchern hält sich der Aufwand der Probanden bei der Erhebung in Grenzen. Während die generelle Nutzung der Verkehrsmittel auch retrospektiv für die Zeit vor Corona beantwortet werden kann, können Wegetagebücher nur mit geringem Abstand zum Stichtag sinnvoll ausgefüllt werden. Verkehrsmittelnutzung vor und während der Corona-Pandemie In Bild 1 ist die Verteilung der Modalgruppen vor Corona, während der tiefsten Phase des Lockdowns und nach Einführung von Lockerungen Ende Juni/ Anfang Juli dargestellt. Zu allen drei Zeitpunkten fällt die Gruppe der monomodalen Autofahrer mit Abstand am größten aus. Ihr Anteil variiert jedoch deutlich. Zwei Drittel aller Befragten haben sich in der Woche vor Ostern ausschließlich mit dem Auto fortbewegt. Vor der Krise traf dies nur auf die Hälfte der Befragten zu. Die ausschließliche Nutzung des Fahrrads ist generell eine seltene Verhaltensweise. Vor der Krise haben nur 6 % der Befragten dieser Gruppe angehört. Das Fahrrad wurde zu diesem Zeitpunkt im Verlauf einer Woche vor allem in Kombination mit anderen Verkehrsmitteln genutzt, allen voran dem Auto. In der Krise steigt die Bedeutung der monomodalen Nutzung des Fahrrads jedoch um die Hälfte an. Die Nutzung in Kombination mit dem Auto nimmt dagegen-ab. Demgegenüber sinken die Anteile aller Modalgruppen mit ÖV-Nutzung. Öffentliche Verkehrsmittel sind damit der große Verlierer der Krise. Dies gilt auch für die Zeit nach dem Lockdown. Entspricht das Bild Ende Juni/ Anfang Juli bereits zu weiten Teilen wieder dem der Zeit vor Corona, so gilt dies nicht für den ÖV. Das Auto wird nun wieder deutlich seltener als ausschließliches Verkehrsmittel genutzt. Der Anteil dieser Gruppe liegt zum zweiten Erhebungszeitpunkt aber immer noch fünf Prozentpunkte über dem Wert vor der Krise. Die Gruppen mit Fahrradnutzung weichen dagegen nur noch minimal vom Ausgangsniveau ab. Verhaltensänderung auf individueller Ebene Betrachtungen auf individueller Ebene zeigen bei welchen Modalgruppen es während des Lockdowns zu einer Änderung des Mobilitätsverhaltens gekommen ist. Das Ausmaß der Veränderung variiert dabei erheblich zwischen den Gruppen (siehe Bild 2). Monomodale Personen weisen eine prinzipiell höhere Konstanz in ihrer Verkehrsmittelnutzung auf. Dies gilt vor allem für die Autofahrer: 90 % der monomodalen Autofahrer bleiben ihrer ausschließlichen Nutzung des PKW auch in der Krise treu. Selbst bei den monomodalen ÖV-Nutzern trifft dies noch auf 46 % der Personen zu. Dagegen haben die meisten multimodalen Personen ihr Verhalten während des Lockdowns angepasst. Ihre Strategie ist unabhängig von der konkreten Gruppe die gleiche: Sie nutzen nur noch eines der normalerweise im Alltag genutzten Verkehrsmittel. Viele der Multimodalen werden so zu monomodalen Autofahrern. Ein hoher Anteil der Personen, die ihren Alltag normalerweise mit Fahrrad und öffentlichen Verkehrsmitteln bestreiten, ist nur noch mit dem Fahrrad unterwegs. Hier dürften zwei Aspekte zusammen kommen. Angesichts des höheren Infektionsrisikos in öffentlichen Verkehrsmitteln wird dem sichereren Verkehrsmittel Fahrrad der Vorzug gegeben. Öffentliche Verkehrsmittel kommen bei multimodalen Personen vor allem auf dem Weg zur Arbeit oder zur Ausbildungsstätte zum Einsatz [10]. Diese Wege sind während des Lockdowns zu großen Teilen entfallen. Bei monomodalen Personen, die ihr Verhalten während des Lockdowns geändert haben, kommen andere Verhaltensweisen zum Tragen: Vielfach wird keines der drei Verkehrsmittel genutzt. Sie schränken ihre Mobilität damit stärker ein als multimodale Personen und sind entweder gar nicht oder nur zu Fuß unterwegs. Dieser Mangel an Alternativen mag erklären, warum die Gruppe der ÖV-Nutzer zu großen Teilen an ihrem angestammten Verkehrsmittel trotz höheren Infektionsrisikos festhält. Generell zeigt dies, dass auch in der Krisensituation nicht ohne weiteres neue Verkehrsmittel in den Alltag eingebaut werden. Es kommt vielmehr zur Variation bereits genutzter Verkehrsmitteloptionen. Bild 1: Anteil der Modalgruppen vor, während und im Anschluss an den Lockdown Internationales Verkehrswesen (72) 3 | 2020 96 MOBILITÄT Covid-19-Pandemie Änderung des Verkehrsaufkommens Mobilfunkdaten legen nahe, dass das Verkehrsaufkommen zum Zeitpunkt der zweiten Erhebung bereits weitgehend das Niveau vor der Pandemie erreicht hat. Die individuelle Wahrnehmung der Erhebungsteilnehmer ist eine andere. 43 % der Befragten haben in der zweiten Erhebung angegeben, dass sie im Vergleich zu der Zeit vor der Ausbreitung des Corona-Virus weniger oder viel weniger Wege zurücklegen (siehe Bild 3). Von diesem Rückgang sind vor allem die öffentlichen Verkehrsmittel betroffen. Die Hälfte aller Befragten berichtet, mit diesen seltener oder viel seltener als vor der Krise unterwegs zu sein. Die anderen Verkehrsmittel werden dagegen weit überwiegend genauso oft genutzt. Von der Krise profitiert hat nur das Zufußgehen: 22 % der Personen geben bei der zweiten Befragung an, nun mehr Wege zu Fuß zurückzulegen, lediglich 13 % berichten einen Rückgang. Beim Fahrrad und Auto als Fahrer besteht genau das umgekehrte Verhältnis. Trotz Ansturms in den Fahrradläden und des vor allem in den Städten teilweise hohen Fahrradaufkommens hat der generelle Rückgang der Mobilität bei vielen auch die Anzahl der Fahrradwege reduziert. Auswirkungen der Krise auf Einstellungen gegenüber Verkehrsmodi Um auch den emotionalen Aspekt der Verkehrsmittelwahl zu beleuchten, wurden die Probanden zu beiden Erhebungszeitpunkten befragt, wie wohl sie sich aktuell fühlen bzw. fühlen würden, wenn sie ein bestimmtes Verkehrsmittel nutzen (Bild 4). Dabei zeigt sich: Der privat genutzte PKW weist gegenüber anderen Verkehrsmitteln einen deutlichen Wohlfühlfaktor auf. Fast alle Befragten geben an, sich im Auto genauso wohl oder wohler zu fühlen als vor der Krise. Auch das Fahrrad schneidet bei dieser Bewertung gut ab. Zu den großen Verlierern gehören alle öffentlichen Verkehrsmittel. Ob Nahverkehr, Fernverkehr, Carsharing oder Flugzeug: Mit ihrer Nutzung wird in der aktuellen Situation ein Unwohlsein verbunden, das Anfang April noch stärker ausgeprägt war als Ende Juni/ Anfang Juli. Das Unbehagen in Zusammenhang mit öffentlichen Verkehrsmitteln ist nicht in allen Bevölkerungsgruppen gleich ausgeprägt. Frauen sehen die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel in der aktuellen Situation kritischer als Männer, besonders unwohl fühlen sich zudem junge Personen und Städter. Dies sind genau die Gruppen, die im normalen Alltag häufig öffentliche Verkehrsmittel nutzen. So zeigt sich auch: Wer viel mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs ist, verbindet mit ihnen in der aktuellen Situation ein größeres Unbehagen. Lediglich bei Carsharing ergibt sich ein anderes Bild: Die wenigen in der Studie enthaltenen Carsharing- Mitglieder geben im Vergleich zur Gesamtbevölkerung deutlich häufiger an, sich im Carsharing-Fahrzeug wohler zu fühlen. Das Carsharing-Fahrzeug wird in der aktuellen Situation ein höheres Maß an Sicherheit bieten als der von dieser Gruppe vielfach genutzte ÖV. Zu höheren Nutzungszahlen führt dies allerdings nicht. Die Carsharing- Branche kämpft genauso wie der öffentliche Verkehr mit dem Einbruch der Nutzungszahlen und Umsatzeinbußen. Auswirkung der Krise auf den PKW-Besitz Bei der An- und Abschaffung eines Autos handelt es sich um eine dem Verkehrsverhalten vorgelagerte Entscheidung, die sich langfristig auf die zur Verfügung stehenden Mobilitätsoptionen und damit das Mobilitätsverhalten auswirkt. Personen aus Haushalten ohne Auto weisen ein grundlegend anderes Mobilitätsverhalten auf als Personen mit Auto. Die Analyse zeigt: Während der akuten Phase des Lockdowns haben 32 % der Personen ohne PKW im Haushalt ein Auto vermisst. Zum Zeitpunkt der zweiten Erhebung hat sich dieser Wert auf 20 % reduziert. Vermisst wird das Auto besonders oft von jungen Menschen, Personen in Stadtregionen und etwas häufiger von Frauen als von Männern, also den weniger gut mit PKW ausgestatteten Bevölkerungsgruppen. Zu beiden Erhebungszeitpunkten denken 6 % aller Personen ohne Auto im Haushalt über die Anschaffung eines PKW nach. Corona spielt hierbei eine maßgebliche Rolle. Auch wenn es von der Überlegung einen Bild 2: Verkehrsmittelnutzung während des Lockdowns in Abhängigkeit der Alltagsmobilität vor Corona Bild 3: Subjektive Wahrnehmung der Mobilität nach dem Lockdown im Vergleich zum Alltag vor Corona Internationales Verkehrswesen (72) 3 | 2020 97 Covid-19-Pandemie MOBILITÄT PKW anzuschaffen bis zum letztendlichen Kauf ein weiter Weg ist: Die Krise hat das Potenzial, auch die Langfristentscheidungen über den Besitz von Verkehrsmitteln zu beeinflussen. Mögliche langfristige Auswirkungen Die Pandemie wird uns auch weiterhin begleiten. Die genauen Auswirkungen hängen maßgeblich von ihrer weiteren Entwicklung ab und der Frage, ob erneut die Notwendigkeit besteht, die derzeit geltenden Einschränkungen wieder zu verschärfen. Eines zeichnet sich jedoch bereits jetzt ab: Ein „Wie davor“ wird es nicht geben. Die Frage ist vielmehr, wie die neue Normalität aussieht und ob die positiven Impulse des durch die Krise ausgelösten, in der Form nie dagewesenen „Verhaltensexperiments“ aufgegriffen werden. Zu der positiven Seite der Krise für den Verkehr zählt der Popularitätsgewinn der aktiven Verkehrsmodi Radfahren und Zufußgehen. Im urbanen Raum wurde diese Entwicklung ohne großen bürokratischen Aufwand durch das Entstehen von z.B. Popup-Radwegen unterstützt. In der Krise haben viele Menschen zum ersten Mal im Homeoffice gearbeitet. Dienstliche Termine wurden in die digitale Welt verlegt. Hier können neue Modelle der Arbeitsorganisation entstehen, die langfristig zu einer teilweisen Einsparung von Arbeits- und Dienstwegen führen können. Zu der Schattenseite der Krise zählt die Rückbesinnung auf individuelle, weniger nachhaltige Verkehrsmittel. Das eigene Auto geht als deutlicher Gewinner aus der Krise hervor, der öffentliche Verkehr als Verlierer. Auch nachhaltige Mobilitätskonzepte wie Carsharing wurden in der Krise geschwächt. Der Weg zur Verkehrswende ist dadurch weiter geworden. Für ihr Gelingen ist ein starker ÖV als Rückgrat des Verkehrs unabdingbar. Hierauf sollte in Zukunft ein deutliches Augenmerk gelegt werden. ■ LITERATUR [1] Schlosser, F.; Maier, B. F.; Hinrichs, D.; Zachariae, A., Brockmann., D. (2020): COVID-19 lockdown induces structural changes in mobility networks - Implication for mitigating disease dynamics. arXiv preprint: 2007.01583v2 [2] Axhausen, K. W. (2020): The impact of COVID19 on Swiss travel. Internet access. Webinar: Automation and COVID-19: on the impacts of new and persistent determinants of travel behaviour (TRAIL and TU Delft webinar 2020). IVT, ETH Zurich [3] Circella, G. (2020): The COVID-19 Pandemic: What does it means for Mobility? What are the temporary vs. longer-term impacts? Webinar: UC Davis Institute of Transport Studies, 3 Revolutions Programm [4] Mohammadian, A. K.; Shabanpour, R.; Shamshiripour, A., Rahmi, E. (2020): How much will COVID-19 affect travel behavior? Webinar: The National Academie of Science, engineering, medicine. Transport Research Board [5] Askitas, N., Tatsiramos, K., Verheyden, B. (2020): Lockdown strategies, mobility patterns and covid-19. arXiv preprint: 2006.00531 [6] Kraemer, M. U., Yang, C.-H., Gutierrez, B., Wu, C.-H., Klein, B., Pigott, D. M., Du Plessis, L., Faria, N. R., Li, R., Hanage, W. P. (2020): The effect of human mobility and control measures on the COVID-19 epidemic in China. Science, 368, 493-497 [7] De Vos, J. (2020): The effect of COVID-19 and subsequent social distancing on travel behavior. Transportation Research Interdisciplinary Perspectives, 100121 [8] De Haas, M., Faber, R., Hamersma, M. (2020): How COVID-19 and the Dutch ‘intelligent lockdown’ change activities, work and travel behaviour: Evidence from longitudinal data in the Netherlands. Transportation Research Interdisciplinary Perspectives, 100150 [9] Becker, S. (2020): Ist die Coronakrise gut für die Verkehrswende? Interview, www.bmbf.de/ de/ ist-die-coronakrise-gut-fuer-dieverkehrswende-11561.html [10] Nobis, C. (2014): Multimodale Vielfalt: Quantitative Analyse multimodalen Verkehrshandelns. Dissertation, Mathematisch-Naturwissenschaftliche Fakultät II, Humboldt-Universität zu Berlin Claudia Nobis, Dr. rer. nat. Gruppenleiterin „Mobilitätsverhalten“, Institut für Verkehrsforschung, Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR), Berlin claudia.nobis@dlr.de Christine Eisenmann, Dr.-Ing. Gruppenleiterin „Transformation der Automobilität“, Institut für Verkehrsforschung, Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR), Berlin christine.eisenmann@dlr.de Christian Winkler, Dr.-Ing. Abteilungsleiter „Personenverkehr“, Institut für Verkehrsforschung, Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR), Berlin christian.winkler@dlr.de Barbara Lenz, Prof. Dr. rer. nat. Institutsleiterin, Institut für Verkehrsforschung, Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR), Berlin barbara.lenz@dlr.de Viktoriya Kolarova, M. Sc. Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Institut für Verkehrsforschung, Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR), Berlin viktoriya.kolarova@dlr.de Bild 4: Das subjektive Empfinden bei Nutzung eines Verkehrsmittels während und nach dem Lockdown Trialog Publishers Verlagsgesellschaft | Schliffkopfstraße 22 | D-72270 Baiersbronn Tel.: +49 7449 91386.36 | Fax: +49 7449 91386.37 | office@trialog.de | www.trialog-publishers.de Redaktionsleitung: Tel.: +49 7449 91386.44 eberhard.buhl@trialog.de redaktion@internationales-verkehrswesen.de
