eJournals Internationales Verkehrswesen 72/4

Internationales Verkehrswesen
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expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2020-0073
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Internationales Verkehrswesen (72) 4 | 2020 6 IM FOKUS SmartKai - Einparkhilfe für Schiffe W enn in Häfen und Schleusen schlecht einsehbare oder hydrodynamisch schwer einzuschätzende Bereiche den reibungslosen Ablauf von Schiffsmanövern behindern, fällt es selbst ortkundigem Personal oft schwer, wichtige navigatorische Entscheidungen für das Schiff und seine Besatzung zu treffen. Vor allem in tideabhängigen Häfen wie Cuxhaven kann nur mit entsprechenden Wasserständen sicher manövriert werden. Ein erhöhtes Verkehrsaufkommen birgt hierbei zusätzlich ein Schadensrisiko für Schiffe und Hafeninfrastruktur. Ziel des „SmartKai“-Projektes ist deshalb die Entwicklung eines digitalen Assistenzsystems, um diesen Risiken und Gefahren entgegenzuwirken. In einer dreitägigen Testkampagne wurden innerhalb des Projektes „Smart- Kai“ erste Systemtests in Wilhelmshafen durchgeführt. Zunächst wird ein neuartiges lasergestütztes Sensorsystem an Hafeneinfahrten, Schleusen oder Kaianlagen installiert. Über eine Schnittstelle liefert es ein konsistentes Lagebild. Lotsen- und Schiffspersonal können das System effizient über ein Tablet, die sogenannte Pilot Portable Unit, direkt auf der Schiffsbrücke nutzen und so das Schiff auf engstem Raum sicher manövrieren. Durch die höhere Sicherheit bei punktgenauen Anlege- und Ablegemanövern sowie beim Passieren von engen Einfahrten und Schleusen werden Schäden an Schiffen und Hafeninfrastruktur zukünftig vermieden. Das Informatikinstitut „Offis“ entwickelt in diesem Forschungsprojekt das System und führt die Testkampagnen durch. Dabei werden die Regularien der International Maritime Organization (IMO) berücksichtigt sowie die praxisnahen Anforderungen der aktiv berufstätigen Lotsen. Wichtige Prüfkriterien für ein digitales maritimes Assistenzsystem sind unter anderem Genauigkeit, Integrität, Verfügbarkeit und Zuverlässigkeit, um Lotsen- und Schiffspersonal zukünftig bei Manövern zu unterstützen. Bislang wurden insgesamt über 20 Szenarien abgeleitet und entwickelt, die im Rahmen des ersten erfolgreichen Feldtests aufgezeichnet wurden. Sensorenhersteller und Projektpartner Sick AG hat eine sogenannte Lidar-Sensorik konzipiert und in Wilhelmshaven am Hannoverkai installiert. Getestet wurde auf dem Offis- Forschungsboot „Josephine“ und zugleich auf dem Vermessungsschiff „Argus“ aus der Flotte der Hafeninfrastrukturgesellschaft Niedersachsen Ports (NPorts). NPorts als Verbundkoordinator im „SmartKai“-Projekt ist besonders daran interessiert, künftig Schäden an der Hafeninfrastruktur zu vermeiden. Der Oldenburger Softwareentwickler Humatects GmbH setzt als weiterer Projektpartner die Benutzeroberfläche für das Lotsen- und Brückenpersonal um. www.offis.de Foto: Axel Hahn/ OFFIS-Institut für Informatik Chinesischer Hochgeschwindigkeitszug mit automatischer Umspurung vorgestellt D er chinesische Schienenfahrzeughersteller CRRC Changchun Railway Vehicles Co. Ltd stellte Ende Oktober einen neuen Hochgeschwindigkeit-Triebzug mit Spurwechseltechnik für unterschiedliche Spurweiten vor. Details sind derzeit noch kaum bekannt, doch soll der Zug mit bis zu 400 km/ h unterwegs sein und internationale Strecken, beispielsweise Peking - Moskau, ohne zeitraubenden Wechsel der Radsätze zurücklegen können. Außerdem soll der Zug unter verschiedenen Bahnstrom- und Sicherheitssystemen sowie bei Temperaturen zwischen minus 50 und plus 50 °C einsetzbar sein. Damit sollte sich der neue Triebzug für die meisten Hochgeschwindigkeitsstrecken der Welt eignen. Durch Tausch ganzer Radsätze umspurbare Wagen für den Güterverkehr auf Bahnen in russischer Breitspur und normalspurigen Bahnen wurden bereits Mitte der 1920-er Jahre eingesetzt. Auch das Prinzip der automatischen Umspurung ohne Drehgestell-Tausch ist nicht neu. Dabei ist zu unterscheiden, ob die Räder während der Umspurung entlastet oder belastet sind. Beispielsweise hat die spanische Firma Talgo ein System entwickelt, bei dem Einzelräder auf Stummelachsen samt ihren Lagern seitlich verschoben werden können. Zum Wechsel der Spurweite werden die entlasteten Räder durch Führungen auseinander- oder zusammengedrückt, bis sie für die andere Spurweite passen. Der Neigetechnikzug Talgo XXI aus dem Jahr 2000 gilt als erstes während der Fahrt umspurbares Triebfahrzeug für den Hochgeschwindigkeitsverkehr. www.news.cn Internationales Verkehrswesen (72) 4 | 2020 7 IM FOKUS Nurflügler „Flying V“ hebt ab - als Modell R und fünf Minuten dauerte der Testflug eines künftigen Langstreckenfliegers auf dem Fliegerhorst Faßberg in Niedersachsen. Es handelte sich um das skalierte Modell eines futuristischen Nurflüglers, eines V-förmigen Flugzeugs, das im Prinzip nur aus seinen Flügeln besteht. Entwickelt hatte das innovative Passagierflugzeug „Flying V“ Justus Benad, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachgebiet Systemdynamik und Reibungsphysik am Institut für Mechanik der TU Berlin und damals noch Student der Luft- und Raumfahrt. Ingenieure der TU Delft in den Niederlanden hatten es weiterentwickelt, die Luftfahrtgesellschaft KLM den Bau des zweieinhalb Meter langen flugfähigen Modells finanziert. Vor wenigen Jahren hatte Justus Benad ein selbstgebautes Modell und die Idee dahinter zum ersten Mal präsentiert. Die war ihm 2015 als Praktikant bei Airbus in Hamburg gekommen: ein Passagierflugzeug mit der Kapazität eines Airbus mit einer Spannweite von 65 Metern, bei dem die Passagiere direkt in den Flügeln sitzen und das auf diese Weise mindestens 20 % der üblichen Treibstoffmenge sparen soll. Airbus hatte daraufhin ein Patent eingereicht, an dem Justus Benad als Erfinder beteiligt ist. Die niederländische Luftfahrtgesellschaft KLM ließ Benads Modell von Flugzeugingenieuren der TU Delft weiterentwickeln und schließlich als skaliertes flugfähiges Modell bauen. Der nun erfolgte Jungfernflug des Modells lieferte ausreichend Daten, mit denen ein aerodynamisches Software-Modell entwickelt sowie Flugeigenschaften im Flugsimulator untersucht und verbessert werden können. Außerdem sollen Überlegungen angestellt werden, welche Antriebe oder Treibstoffe wie etwa Wasserstoff eingesetzt werden könnten. Daniel Reckzeh, Senior Manager R&T Projektpartner Airbus: „Dieser Test ist ein wichtiger Meilenstein für die Demonstration der flugphysikalischen Machbarkeit der Konstruktion. Es ist auch ein sichtbarer Beweis für die Glaubwürdigkeit dieser unkonventionellen Idee.“ www.jbenad.com Video: www.tudelft.nl/ en/ ae/ flying-v Digitaler Zwilling und Künstliche Intelligenz automatisieren Umschlaglager B rummer als Spezialist für temperaturgeführte Transport- und Lagerlogistik und das internationale Consulting- und Technologieunternehmen Logivations mit Sitz in München haben eine umfangreiche Kooperation zur Digitalisierung und Automatisierung der Warenverteilläger der Brummer Logistik vereinbart. Alle Läger und die Logistikprozesse sollen vollständig digitalisiert werden. Ferner soll Logivations bis Ende 2021 rund 125 autonome mobile Roboter für die weitgehende Automatisierung aller Boden-Boden-Transporte liefern. Die Simulations- und Optimierungs-Software W2MO erkennt mithilfe von Kameras und Künstlicher Intelligenz Fahrzeuge wie Gabelstapler und andere Roboter und optimiert selbstständig die Fahrwege. Es erkennt aber auch gelagerte Ware und alle Abläufe im Lager und der Produktion und berechnet die optimale Platzierung von Produkten für eine gleichmäßige Lastverteilung im Lager. Buchungen erfolgen anhand der erkannten Warenbewegungen automatisch. Für den automatischen Transport von Paletten können autonome Roboter zusammenarbeiten. Weil bei Brummer die Paletten meist mit Folie umwickelt sind, können Laserscanner die Einfahrkanäle der Paletten nicht erkennen. Die Erkennung von Paletten erfolgt daher ebenfalls mittels Künstlicher Intelligenz. Anhand umfangreichen Bildmaterials wurden alle denkbaren Erscheinungsbilder von Paletten trainiert, so dass die AI-AGVs schnell und sicher in Paletten einsteuern und diese aufnehmen können. www.logivations.com Bild: Logivations Symbolgrafik: TU Delft „Wir kombinieren - Sie profitieren! “ www.contargo.net Kombinierte Transporte: + Umweltschonend + Individuell & flexibel + Just in time! Internationales Verkehrswesen (72) 4 | 2020 8 IM FOKUS Lastenfahrrad mit Leichtbau-Funktionsrahmen W issenschaftler des Fraunhofer LBF konnten im Projekt „L-LBF“ am Beispiel eines Lastenfahrrades zahlreiche Leichtbaupotenziale zeigen. Sie fanden neue Möglichkeiten, die sichere Nutzung elektrisch unterstützter Lastenfahrräder zu verbessern und gleichzeitig die Reichweite der Fahrzeuge zu erhöhen. So wurde am Vorderwagen eines Zweispur-Lastenrades durch eine neue Rahmenkonstruktion ein Drittel des Gewichts eingespart. Die Batterie wurde neu gedacht, die Kapazität erhöht und das Gehäuse durch die direkte Integration in den Rahmen eingespart. Die im Fahrrad umgesetzten Features bieten hohes Potenzial für viele Anwendungen in unterschiedlichen Branchen, auch außerhalb der Mobilität. Im Projekt „L-LBF“ wurden, basierend auf eigens durchgeführten Fahrbetriebsmessungen sowie Ausgangsdaten über Gewicht und Geometrie des gewählten kommerziellen Lastenrades, CAD-Modelle erstellt und Paneldatenmodelle, sogenannte FE-Modelle, abgeleitet. Diese Modelle wurden für die Entwicklung des Leichtbaurahmens und die Auslegung neuer Leichtbaufelgen verwendet. Strukturauslegung und Aufbau des neuen leichten Fahrradrahmens mit zentralem Hohlprofilträger aus höherfesten Aluminiumlegierungen bieten die Basis für weitere Arbeiten in den anderen Teilprojekten. Am Beispiel Lastenfahrrad konnten alleine durch die neue Vorderwagenkonstruktion rund 40 Prozent Gewicht gegenüber dem Referenzfahrzeug eingespart werden. Darüber hinaus wurde das Hohlprofil gewählt, um darin das eigens entwickelte Batteriesystem TES (Tubular Energy System) versteckt einzubauen. Die Batterie ist somit ohne weiteres Gehäuse witterungs- und thermisch geschützt sowie diebstahlsicher verstaut. Im „Tubular Energy System“ sind die Li- Ion-Zellen rohrförmig angeordnet - ideal für die Integration in das Rahmenhohlprofil. Das System besteht aus insgesamt 80- Zellen und weist damit eine Kapazität von 1.000 Wattstunden (1 kWh) auf. Damit ist es doppelt so groß wie das handelsübliche Batteriesystem, das im Referenzfahrzeug regulär verbaut ist. Der Ladezustand wird über eine eigens aufgesetzte App auf dem Smartphone angezeigt. Damit wird-dem Radfahrer nicht nur die Möglichkeit gegeben, deutlich längere Strecken mit-elektrischer Unterstützung zurückzulegen, sondern auch den Verbrauch und die Restenergie, besonders in Abhängigkeit von der transportierten Nutzlast, zu überwachen. www.lbf.fraunhofer.de/ l-lbf Foto: Ursula Raapke/ Fraunhofer LBF Elektrisch angetriebener LKW-Trailer spart Emissionen im Schwerverkehr E lektrisches Fahren steht überall auf der Agenda, doch speziell für den Langstrecken-Gütertransport sind batterieelektrische Fahrzeuge aufgrund hoher Massen und Batteriekosten schwierig umzusetzen. Forscher des Fraunhofer-Instituts für Betriebsfestigkeit und Systemzuverlässigkeit LBF entwickelten nun in einem Verbundprojekt einen besonders leichten Hochvolt- Energiespeicher für einen elektrisch angetriebenen Sattelauflieger. Durch den elektrischen Antrieb des Trailers konnten sie den Verbrauch des Gesamtfahrzeugs auch auf langen Strecken um rund 20 % senken. Die Traktionskomponenten des von Industrie, TU Darmstadt und zwei Fraunhofer-Instituten entwickelten autarken Sattelaufliegerfahrzeugs mit elektrischem Antriebsmodul sind so dimensioniert, dass neben der Bremsenergie-Rückgewinnung auch eine kurzzeitige Traktionsunterstützung sowie die Lastpunktverschiebung der Sattelzugmaschine erreicht wird. Dies führt zu einer deutlich verbesserten Kraftstoffeffizienz, was auch für den Langstreckentransport gilt. Die Forschergruppe rüstete den „evTrailer“ mit einer innovativen, in den Königszapfen integrierten Dünnschichtsensorik sowie eigener Steuerungs- und Regelungstechnik aus. Auf diese Weise ist nur wenig Fahrzeugkommunikation notwendig, und mit geringer Geschwindigkeit, beispielsweise im Logistikzentrum, lässt sich die Zugmaschine unabhängig manövrieren. Für die Batterie nutzte das Fraunhofer LBF eine Vielzahl von Einzelzellen mit Lithium-Metalloxid-Kathodenmaterial. Das Energiespeichersystem selbst verfügt über eine Gesamtkapazität von 100 kWh und einen Spannungsbereich von 590 bis 670 V. Dies machte es notwendig, mehr als 10.000 Einzelzellen im Rahmen einer Systemverschaltung anzuordnen. Für die langjährige Nutzung sollte eine Fahrleistung von wenigstens 700.000 Kilometern nachgewiesen werden. Dazu ermittelten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in umfangreichen Untersuchungen zur Degradation der ausgewählten Zellen, dass der Entladehub auf 50 % der maximal möglichen Kapazität begrenzt werden musste. Trotz einer Masse von 475 kg allein für die Zellen beträgt die Gesamtmasse des Energiespeichers einschließlich Kühlsystem, BMS und Gehäuse nur knapp über 600-kg. Das hierfür notwendige Leichtbaukonzept für das Gehäuse nutzt Sandwichstrukturen und glasfaserverstärkte Thermoplaste. Damit war es möglich, ein für Hochvolt-Energiespeicher besonders günstiges Verhältnis zwischen Zellmasse und Gesamtgewicht von 0,8 zu realisieren. Das Verbundforschungsprojekt wurde vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie BMWi gefördert. www.lbf.fraunhofer.de Foto: Fraunhofer LBF / Rüdiger Heim