eJournals Internationales Verkehrswesen 72/4

Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2020-0074
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Verkehrswende! - Verkehrswende?

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Gerd Aberle
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Gerd Aberle KURZ UND KRITISCH Internationales Verkehrswesen (72) 4 | 2020 9 Verkehrswende! - Verkehrswende? S eit Jahrzehnten wird eine Verkehrswende gefordert, verstärkt durch die Erfordernisse der Klimapolitik. Es überlagern sich generelle Forderungen nach deutlicher Veränderung des Modal Split zulasten des Straßenverkehrs und Verlagerung auf den Bahntransport und den ÖPNV. Etwa: Elektrifizierung des Straßenverkehrs mit grünem Strom, Anlastung von Klimaschäden durch Zusatzbesteuerung des Einsatzes fossiler Energieträger, räumliche Fahrverbote für emissionsintensive Fahrzeuge, Einschränkungen des städtischen Verkehrs mit Kraftfahrzeugen, Reduzierung des Baus und Ausbaus von Straßen, Verbot von Verbrennungsmotoren, Umleitung der Straßenbaumittel in den Schienenverkehr usw. Der Forderungskatalog ist lang. So verlangt eine neue Publikation des Wuppertal-Instituts (Mitte Oktober 2020), den Autoverkehr in Deutschland bis 2035 zu halbieren, den PKW-Stadtverkehr um 30 %, sowie 30 % des Güterverkehrs auf die Schiene zu verlagern. Notwendige Veränderungen in den Mobilitäts- und Verkehrsabläufen sind nicht strittig, wohl aber die Wege und Umstellungszeiträume. Hier kollidieren komplexe Systemzusammenhänge des gesamten Mobilitätsgeschehens mit fundamentalen Änderungsvorstellungen. Tatsächlich sind die Voraussetzungen für eine mittelfristige Verkehrswende äußerst ungünstig. Zwar können kurzfristig - wie entschieden - die Kosten der Nutzung fossiler Treibstoffe nachhaltig angehoben werden. Vor dem Hintergrund der Systemkomplexität werden diese Preismaßnahmen jedoch nur eine unzureichende Verlagerung bewirken. Und die Voraussetzungen für eine Verkehrsverlagerung? Vor der Corona-Pandemie stöhnten Bahnnutzer über gravierende Kapazitätsengpässe bei Infrastruktur und Fahrzeugen im Personennah- und Fernverkehr. Überfüllte Züge und Busse, Verspätungen und Zugausfälle, Weichen- und Signalstörungen. Noch gravierender die Probleme im Schienengüterverkehr, insbesondere bei DB Cargo als Hauptverlustbringer der DB AG ( 2019 Konzernverlust rd. 3,7 Mrd. EUR). Ursächlich: vor allem die differenzierten Kundenanforderungen an ein logistisch leistungsfähiges Transportsystem, wobei der LKW als Qualitätsmaßstab fungiert, beim Preis wie auch bei Zuverlässigkeit und logistischer Integrationsfähigkeit. Der für den Schienenverkehr wichtige Anteil traditioneller Massengüter sinkt kontinuierlich zugunsten komplexer Industrie- und Konsumgüter. Diese sind dominierend LKW-affin, die zudem noch zu über 50 % von ausländischen Fahrzeugen transportiert werden. Und das rasante Wachstum des Online-Handels mit 3,6 Mrd. LKW-Sendungen/ Jahr nimmt mit steigender Digitalisierung weiter zu. Seit 52(! ) Jahren (Leber-Plan) wird erfolglos versucht, alternative Strategiekonzepte für Gütertransportverlagerungen auf die Schiene umzusetzen. Der DB-Rückkauf von Schenker 2004 hat das Ziel einer wechselseitigen Geschäftsbelebung von logistischer Kompetenz und Schienengüterverkehrsleistungen nicht erreicht. Die Unternehmensphilosophien zwischen Wettbewerbsausrichtung und reguliertem, stark gewerkschaftlich geprägtem Schienenbetrieb waren unvereinbar. Mit logistischer Qualität und Nutzung von über 35.000 LKW realisiert Schenker vor allem durch Mehrwertleistungen seit Jahren beträchtliche Gewinne für den Konzern DB AG. Warum wollen Bundesrechnungshof und sonstige Stimmen den Verkauf der derzeit einzigen Ertragsperle der Staatsbahn erzwingen? Es müssen Zweifel angemeldet werden, wenn nun versucht wird, bei DB Cargo eigene Logistikkompetenz zu erarbeiten, die zu einer Umkehrung der Negativentwicklung führen soll. Aus der Kiste der vielen gescheiterten Versuche, Güterverkehr stärker auf die Schiene zu bringen, werden immer wieder alte Hüte aufgegriffen. So etwa Gütertransport durch ÖPNV oder speziell durch U-Bahnen mit Nachtbelieferung, Konzept für einen unterirdischen Röhren-Superspeed-Gütertransport, der Aufbau von Rail- Ports, usw. Die Elektrifizierung des Straßenverkehrs wird dem ÖPNV und der Bahn vermehrt Probleme bringen. Die Batterietechnologie dürfte als Übergangslösung hin zur grünen Wasserstoffstrategie dienen. Für Busse und Zugbetrieb laufen zahlreiche Prototypen. Die LKW-Industrie sieht bei schweren LKW keine Chance für Batterieeinsätze. Vor allem der hohe Strompreis in Deutschland verunsichert die Wasserstoffdiskussion. Transport, Speicherung und Tankstellenkapazitäten von Wasserstoff sind kein wirklich relevantes Hemmnis, wie zahlreiche Studien zeigen. Die Attraktivität des Straßenverkehrs wird langfristig dadurch nicht reduziert. Und wenn das ebenfalls hoch favorisierte autonome Fahren eingeführt wird, dürften die PKW-Zahlen in Ballungsgebieten und auf Fernstraßen eher steigen denn zurückgehen. Autonomes Fahren reduziert wesentlich die Anforderungen an die Nutzer. Führerschein? Alkoholgrenzen? Mindestalter? Handikaps? - Warum dann mehr mit dem ÖPNV? Wo ist da der Entscheidungsraum für die Verkehrswende im Personen- und Güterverkehr? ■ Prof. Gerd Aberle zu Themen der Verkehrsbranche