eJournals Internationales Verkehrswesen 72/4

Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2020-0075
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Autonome Fahrzeuge als Lösung für die heutige Verkehrsbelastung

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Maximilian Richter
Das heutige Verkehrsnetzwerk stößt an seine Belastungsgrenzen. Neue Technologien, die zu einer disruptiven Veränderung der Mobilität führen, sind erforderlich. Autonome Fahrzeuge (AVs) ermöglichen diesen Transformationsprozess; aber nur, wenn sie von politischen Entscheidungsträgern bedacht implementiert werden. Eine förderliche Regulierung und ein strategischer Plan zur Einführung von AVs ist eine Voraussetzung für deren Erfolg. Die Forschungsergebnisse, die auf einer systematischen Literaturrecherche sowie Simulationen basieren, geben politischen Entscheidungsträgern einen Leitfaden an die Hand, was bei der Einführung von AVs schon heute zu beachten ist. Denn es ist wichtig zu wissen, dass autonome Fahrzeuge nicht zwangsläufig zu einer Verbesserung der heutigen Verkehrsprobleme führen.
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POLITIK Autonomes Fahren Internationales Verkehrswesen (72) 4 | 2020 10 Autonome Fahrzeuge als-Lösung für die heutige Verkehrsbelastung Wie Politiker autonome Fahrzeuge zum Erfolg führen können Autonomes Fahren, Politische Entscheidungsträger, Verkehrsbelastung Das heutige Verkehrsnetzwerk stößt an seine Belastungsgrenzen. Neue Technologien, die zu einer disruptiven Veränderung der Mobilität führen, sind erforderlich. Autonome Fahrzeuge (AVs) ermöglichen diesen Transformationsprozess; aber nur, wenn sie von politischen Entscheidungsträgern bedacht implementiert werden. Eine förderliche Regulierung und ein strategischer Plan zur Einführung von AVs ist eine Voraussetzung für deren Erfolg. Die Forschungsergebnisse, die auf einer systematischen Literaturrecherche sowie Simulationen basieren, geben politischen Entscheidungsträgern einen Leitfaden an die Hand, was bei der Einführung von AVs schon heute zu beachten ist. Denn es ist wichtig zu wissen, dass autonome Fahrzeuge nicht zwangsläufig zu einer Verbesserung der heutigen Verkehrsprobleme führen. Maximilian Richter S eit Autos auf dem Massenmarkt verfügbar sind, wurde der gesamte Stadtraum durch Straßen und Parkflächen beansprucht [1]. Der motorisierte Individualverkehr wurde jahrelang von der Politik gefördert, da mehr Straßen und Infrastruktur mit mehr Wohlstand assoziiert wurden [2]. Dieser Trend führte zu einer Überlastung der Straßen und daraus resultierenden negativen Auswirkungen, wie z. B. ein hoher Schadstoffausstoß, eine hohe Zahl an Todesopfern, Mangel an öffentlichem Raum oder sozialer Ungerechtigkeit. In historisch geplanten Städten wie Barcelona, Hongkong und Manhattan werden mehr als ein Drittel der öffentlichen Fläche durch Straßen oder Parkplätze beansprucht [2]. Darüber hinaus zählen Autounfälle zu den zehn häufigsten Todesursachen; sie zählen sogar zu den Haupttodesursache für junge Menschen im Alter von fünf bis 29- Jahren [3]. Zusammengefasst führt der heutige Verkehr zu einer verminderten Lebensqualität. In Zeiten aufkommender Klimadebatten ist der Verkehr für fast ein Viertel aller Treibhausgase verantwortlich. Während das verkehrsbedingte CO 2 in den letzten Jahren kontinuierlich um etwa 1,6 % zugenommen hat, sind Straßenfahrzeuge wie PKW und Busse für bis zu drei Viertel dieser Emissionen verantwortlich. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation leben über 90 % der Weltbevölkerung an Orten, an denen die Luftverschmutzung nicht den Richtlinien der Organisation entspricht. Zukunftsszenario - AVs als Lösung für die heutige Verkehrsbelastung In den letzten Jahren ist das autonome Fahren Realität geworden. Unternehmen wie Waymo oder NuTonomy haben bereits vor drei Jahren offiziell Pilotprojekte innerhalb von Städten implementiert. Wenn solche Unternehmen ihre Geschäftsfelder von Pilotprojekten auf flächendeckende Dienstleistungen in Städten auf der ganzen Welt ausdehnen, werden wir eine grundlegende Revolution in der Mobilität und eine dramatische Veränderung des Verkehrs und der Stadtform erleben. Es wird zwischen drei verschiedenen Arten des autonomen Fahrens unterschieden. Autonome Fahrzeuge können im Besitz von Privatpersonen sein und entsprechend das Fahrzeug alleine für sich nutzen. Eine weitere Möglichkeit ist, dass autonome Fahrzeuge von einem Flottenanbieter dem Konsumenten angeboten werden und dieser entsprechend das Fahrzeug nicht selbst besitzen und kaufen muss. Bei dieser Art der Nutzung kann zum einen die Fahrt privat durchgeführt werden - keine weiteren Personen werden der Fahrt hinzusteigen - oder zum anderen als geteilte Fahrt - Personen, die in ähnliche Richtung fahren, werden mitgenommen (Bild 1). Künftig könnten AVs die Verkehrssituation drastisch entspannen. Der Einsatz von AVs könnte Schadstoffemission in städtischen Gebieten um bis zu 45 % reduzieren [6]. Ein AV würde elf bis 20 Parkplätze [7] einsparen. Selbst eine 50-%-ige AV-Penetrationsrate könnte zu einer Reduzierung von 90 % der Parkplätze in Städten führen, und eine 100-%-ige AV-Penetrationsrate die Anzahl der Unfälle um etwa 90 % senken [4-8]. Dennoch stellen autonome Fahrzeuge eine Gefahr für die derzeitige Verkehrssituation dar. Beispielsweise führen Leerfahrten und Reduzierung der Reisekosten pro Kilometer dazu, dass die Anzahl der gefahrenen Kilometer auf unseren Straßen um bis zu 300 % zunehmen könnte. Des Weiteren haben autonome Fahrzeuge das Potenzial, die Mobilität der derzeit unterversorgten Bevölkerung zu erhöhen, z. B. Menschen ohne Führerschein, reisebeschränkende medizinische Bedingungen oder Senioren. Diese drei Gruppen führen zu einer Steigerung von 14 % der regelmäßigen Nutzung des Individualverkehrs [9, 12]. Was sind entscheidende Schritte, um AVs erfolgreich zu implementieren? Politische Entscheidungsträger müssen die Notwendigkeit und die Auswirkungen von AVs frühzeitig verstehen, um sinnvolle Rahmenbedingungen zu schaffen. Denn nur wenn die Auswirkungen von AVs auf die Städte verstanden und ihre Implementie- Internationales Verkehrswesen (72) 4 | 2020 11 Autonomes Fahren POLITIK rung systematisch gesteuert wird, kann ein positives Zukunftsszenario umgesetzt werden. Anderenfalls, wenn AVs als modernisierte Version von traditionellen Fahrzeugen eingesetzt werden, kann sich die derzeitige Verkehrssituation sogar verschlechtern. Vier Empfehlungen, die den Erfolg von AVs sicherstellen, können schon heute gegeben werden. Verhinderung der Kannibalisierung des öffentlichen Verkehrs, um eine radikale Verlagerung vom Massenzum Individualverkehr zu vermeiden AVs erhöhen die Mobilität von derzeit nicht bedienten Bevölkerungsgruppen, wie zum Beispiel Menschen ohne Führerschein, mobilitätseingeschränkten Personen oder Senioren. Wenn diese Personengruppen vom öffentlichen Verkehr auf autonome Fahrzeuge umsteigen, wird der Verkehr um bis zu 14 % zunehmen [9]. Die Steigerung der Attraktivität des öffentlichen Verkehrs verhindert eine Verlagerung zu AVs. Zudem muss sichergestellt werden, dass AVs das bestehende Verkehrsnetz ergänzen, anstatt es zu disruptieren. Dementsprechend müssen die Politiker einen Rahmen für den Betrieb von AVs setzen. Insbesondere muss sichergestellt werden, dass AVs dort verfügbar sind, wo das öffentliche traditionelle Verkehrsnetz endet. Vermeidung von Leerfahrten, um einen stabilen Verkehrsfluss zu gewährleisten Wenn sich mehrere Benutzer nacheinander ein autonomes Fahrzeug teilen, entsteht durch die Neupositionierung eine Leerfahrt zwischen den Fahrten. Dies führt zu einem Anstieg des Verkehrs um bis zu 15 % [9]. Bei der privaten Nutzung von Fahrzeugen entstehen Leerfahrten hauptsächlich durch Parken. Für PAVs gibt es daher nach dem Absetzen des Nutzers drei Möglichkeiten: den nächstgelegenen Parkplatz, den günstigsten Parkplatz - der oft außerhalb der Stadt liegt - zu finden oder so lange herumzufahren, bis der Fahrer das Fahrzeug wieder benötigt (Cruisen). Die ersten beiden Szenarien haben in der Regel marginale Auswirkungen (2 bis 4 %) [10]. Cruisen hingegen hat drastische Auswirkungen und verdoppelt das derzeitige Verkehrsaufkommen selbst bei niedrigen Penetrationsraten [10]. Gebühren für Leerfahrten während der Hauptverkehrszeiten könnten den Druck auf die bestehende Infrastruktur mindern. Förderung von Autonomous Mobility-on- Demand (AMoD), um AVs möglichst effizient einzusetzen Der Zugang zur Mobilität in einem autonomen Mobility-on-Demand-System ist im Vergleich zu traditionellen Mobilitätsmodellen, die auf dem Besitz eines Privatwagens basieren, wesentlich kostengünstiger. Die Anschaffungskosten für ein autonomes Fahrzeug sind hoch. Die Nutzung als On- Demand-Service und Pay-by-Use führt zu einer raschen Einführung von AVs. Beispielsweise kann ein einziges SAV die Nachfrage von etwa zehn bis 20 nicht gemeinsam genutzten Fahrzeugen decken. Wenn nicht nur das Auto, sondern auch die Fahrten geteilt werden, werden die Kosten weiter unter den Fahrgästen aufgeteilt und sinken im Vergleich zum PAV um bis zu 60 % [11]. Heute die Infrastruktur von morgen vorbereiten, um den Weg für die AV-Implementierung zu ebnen Derzeit wird davon ausgegangen, dass AVs in Städten elektrisch betrieben werden. Davon ausgehend, dass eine Stadt etwa 50.000 bis 250.000 On-Demand-Fahrzeuge benötigt [10], wird klar, dass eine Vielzahl von Ladestationen benötigt wird, die es heute in den Städten nicht gibt. Darüber hinaus ist das autonome Fahren auf ein zuverlässiges Mobilfunknetz angewiesen, das eine Interaktion mit der Umwelt ermöglicht. Daher wird ein gemeinsamer Standard für die direkte Vehicle-to-Vehicle-Kommunikation und eine frühzeitige Anpassung der Infrastruktur benötigt. ■ LITERATUR [1] Gehl, J. (2017): Active cities. Online: www.cladglobal.com/ architecture-design-features? codeID=31599 (Abruf: 28.09.2020) [2] UN Habitat (2013): The relevance of street patterns and public space in urban areas. UN-Habitat Working Paper. https: / / mirror. unhabitat.org/ downloads/ docs/ StreetPatterns.pdf [3] WHO (2018, May 24): The top 10 causes of death. Online: www.who. int/ en/ news-room/ fact-sheets/ detail/ the-top-10-causes-of-death [4] MacKenzie, D.; Wadud, Z.; Leiby, P. N. (2014): A first order estimate of energy impacts of automated vehicles in the United States. In: Transportation research board annual meeting, Vol. 93rd. The National Academies, Washington, DC [5] Fagnant, D. J.; Kockelman, K. (2015): Preparing a nation for autonomous vehicles: opportunities, barriers and policy recommendations. Transportation Research Part A: Policy and Practice, 77, pp. 167-181. DOI: 10.1016/ j.tra.2015.04.003 [6] Chan, C.-Y. (2017): Advancements, prospects, and impacts of automated driving systems. In: International Journal of Transportation Science and Technology, 6(3), pp. 208-216. DOI: 10.1016/ j. ijtst.2017.07.008 [7] Clements, L. M.; Kockelman, K. M. (2017): Economic Effects of Automated Vehicles. In: Transportation Research Record: Journal of the Transportation Research Board, 2606(1), pp. 106-114. DOI: 10.3141/ 2606-14 [8] Morando, M. M.; Tian, Q.; Truong, L. T.; Vu, H. L. 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DOI: 10.3141/ 2542-13 Maximilian Richter Universität St. Gallen maximilianalexander.richter@unisg.ch Bild 1: Anwendungsfälle von AVs