Internationales Verkehrswesen
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expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2020-0076
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Angebotsoffensive Bus Hamburg
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Niklas Hoffmann
Torben Greve
Mindestens 50 % mehr Fahrgäste im ÖPNV: Dieses ambitionierte Ziel soll in Hamburg bis 2030 Wirklichkeit werden. Eine der wichtigsten Voraussetzungen dafür ist das Ziel selbst. Damit die Verkehrswende keine leere Worthülse bleibt, braucht es eine klare Vision. Durch Data Mining werden Lücken und Potenziale im Angebot identifiziert, konkrete Maßnahmen abgeleitet und mit der Angebotsoffensive in die Tat umgesetzt.
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Internationales Verkehrswesen (72) 4 | 2020 12 Angebotsoffensive Bus-Hamburg Wie man 50 % zusätzliche Fahrgäste in zehn Jahren gewinnen kann - Angebotsoffensive für eine steigende Nachfrage Angebotsoffensive, Hamburger ÖPNV, Busnetz, Angebotsorientierung, Datenanalyse Mindestens 50 % mehr Fahrgäste im ÖPNV: Dieses ambitionierte Ziel soll in Hamburg bis 2030 Wirklichkeit werden. Eine der wichtigsten Voraussetzungen dafür ist das Ziel selbst. Damit die Verkehrswende keine leere Worthülse bleibt, braucht es eine klare Vision. Durch Data Mining werden Lücken und Potenziale im Angebot identifiziert, konkrete Maßnahmen abgeleitet und mit der Angebotsoffensive in die Tat umgesetzt. Niklas Hoffmann, Torben Greve H amburg war lange und ist es in weiten Teilen bis heute: eine autogerechte Stadt. Wie viele andere Städte auch ist Hamburg durchzogen von einem dichten und leistungsfähigen Straßennetz. Es ist auf die Bedürfnisse der vielen Pendler, des starken Wirtschaftsverkehrs und der Bürger ausgerichtet worden [1]. Doch ein Großteil der Bevölkerung wünscht sich einen Richtungswechsel hin zu mehr Radwegen, mehr Platz für das Stadtleben und einen Beitrag zum Klimaschutz [2]. Mit dem neuen Koalitionsvertrag setzt die Politik ein Zeichen in diese Richtung. Unter dem Hamburg-Takt wird das Ziel vermarktet, jedem Hamburger ein öffentliches Verkehrsangebot innerhalb von fünf Minuten bereitzustellen [3]. Mit der Angebotsoffensive wird die Umsetzung dieser Versprechen im Bereich des ÖPNV vorgenommen (Bild 1). Zusammen mit der Hamburger Hochbahn, den Verkehrsbetrieben Hamburg-Holstein (VHH), dem Hamburger Verkehrsverbund (HVV) und der Behörde für Wirtschaft und Innovation (BWVI) hat das Mobility Institute Berlin (mib) die Strategie und das Zielnetz für die Angebotsoffensive für den Bereich Bus entwickelt. Der Bereich Bus ist dabei Bestandteil einer integrierten Systemstrategie, X22 ist eine der ersten ExpressBus-Linien, die schnelle Verbindungen anbieten und SchnellBus und EilBus mittelfristig ersetzen. Quelle: Hochbahn POLITIK Öffentlicher Nahverkehr Internationales Verkehrswesen (72) 4 | 2020 13 Öffentlicher Nahverkehr POLITIK die alle öffentlichen Verkehrsträger umfasst. Im Dezember 2019 wurden bereits die ersten Maßnahmen umgesetzt. Sie bilden den Anfang einer radikalen Ausweitung des Angebotes in Hamburg. Insgesamt sollen die jährlichen Fahrgastzahlen um 50 % gesteigert werden. Dies entspricht 150 Mio. zusätzlichen Busfahrgästen. Erreicht werden soll dies durch ein deutlich attraktiveres Angebot sowie den Wechsel von einer nachfragezu einer angebotsorientierten Planung. Ein systematischer Analyseprozess findet Lücken und Potenziale Innerhalb des einjährigen Projektes entwickelte die Projektgruppe ein Ziel-Liniennetz in zwei Phasen. In der ersten Phase wurde eine systematische Analyse zur Aufdeckung von Lücken im Nahverkehrsnetz durchgeführt. Solche Lücken bestehen insbesondere dort, wo der Motorisierte Individualverkehr (MIV) deutlich attraktiver als der ÖPNV ist. Sie decken die Differenz zwischen den aktuellen Verkehrsbedürfnissen und dem aktuellen Angebot auf. Durch einen Screening-Prozess relevanter Daten für das gesamte Stadtgebiet wurden diese Lücken identifiziert, priorisiert und Potenziale aufgezeigt. Die Schließung dieser Lücken erfolgte in der darauffolgenden Konzeptionsphase. Als Basis dienten vorab festgelegte Prämissen wie beispielsweise Erschließungs-, Auslastungssowie Taktstandards und Bewertungsgrundlagen. Zudem wurden durch einen Erfahrungsaustausch mit Verkehrsunternehmen aus Berlin, Kopenhagen, München, Wien und Zürich externe Best Practices einbezogen. Daraus wurden Maßnahmen entwickelt, die in einem Zielnetz zusammengefasst, aufeinander abgestimmt und anschließend mit Visum bewertet wurden. Zuletzt wurde das Gesamtnetz ausgewertet und das Ziel von 50 % mehr Fahrgästen verifiziert. Daten geben Antworten auf zentrale Fragen Für die Analyse der Lücken und Potenziale stand eine große Datenmenge von über 200-Mio. Datenpunkten zur Verfügung (Tabelle- 1). Um einen Einblick in die konkrete Nutzung dieser Daten zu geben, werden im Folgenden anhand von drei Fragen die Datenquellen und deren Nutzung beispielhaft skizziert: 1. Wo liegen Unterschiede zwischen der Nutzung des MIV und des ÖV? Durch die Analyse von Daten der Studie Mobilität in Deutschland aus Hamburg und Umgebung wurden die Unterschiede zwischen den Verkehrsmitteln deutlich. So fahren die Hamburger zwischen den Hauptverkehrszeiten häufiger mit dem Auto, während im ÖV die Morgenspitze ausgeprägter ist (Bild 2). Viel Potenzial für eine Verkehrsverlagerung findet sich im Zeitraum nach dieser morgendlichen Verkehrsspitze. In Hamburg wurde bislang nachfrageorientiert geplant. Diese Erkenntnis dient als Grundlage dafür, eine angebotsorientierte Planung anzustreben, um das Angebot über den Tag hinweg einheitlicher zu verteilen. Datenquelle Verwendung Analyse Soziodemographische Daten Mobilitätsbedürfnisse Wegetagebücher der Studie Mobilität in Deutschland 2008 und 2017 Mobilitätsbedürfnisse und -verhalten Automatisches Fahrgastzählsystem Bus (24 Mio. Zählpunkte)* ÖPNV-Nachfrage (Auslastung Buslinien) Verkehrsstärken und GPS-Daten des MIV Verkehrsverhalten MIV-Nutzer, Quelle-Ziel-Relationen Räumlich strukturelle Daten (z. B. Wohnbau, Arbeitsplätze, Infrastrukturen, Erschließung ÖV) Nachfrageverteilung, Angebotslücken Fahrplanauskünfte HVV (159 Mio. Anfragen)* Quelle-Ziel-Relationen, Angebotslücken Betriebs- und unternehmensbezogene Daten Kosten und Einnahmen, betriebliche Stabilität *Analyse mit vom mib entwickelten Tools und Boards Tabelle 1: Analysierte Daten für die Angebotsoffensive Bild 1: Beschließung des Hamburg-Taktes (v. l. n. r.): Dr. Tobias Haack (Hadag), Kay Uwe Arnecke (S-Bahn Hamburg), Henrik Falk (Hochbahn), Dr. Peter Tschentscher (Erster Bürgermeister Hamburg), Dietrich Hartmann (HVV) und Toralf Müller (VHH) Quelle: Hochbahn Bild 2: Tagesgang der Verkehrsmittelnutzung im ÖV und MIV in Hamburg von Montag bis Freitag Darstellung: Mobility Institute Berlin, Datenquelle: Mobilität in Deutschland 2017 POLITIK Öffentlicher Nahverkehr Internationales Verkehrswesen (72) 4 | 2020 14 2. Wo ist der ÖV langsam auf stark nachgefragten Relationen? Das Auto ist für die meisten Fahrten in Hamburg das beliebteste Verkehrsmittel [4]. Damit Kunden sich vermehrt für den öffentlichen Verkehr entscheiden, müssen Bus und Bahn vor allem schnell sein. Mit den Daten der Fahrplanauskunft des HVV wurden Relationen identifiziert, die häufig nachgefragt und im Vergleich zum MIV mit öffentlichen Verkehrsmitteln besonders langsam bedient werden. Anhand von Durchschnittswerten wurde eine langsame Verbindung mit einer Geschwindigkeit von unter 12 km/ h definiert. Mit einem eigens entwickelten Analyse-Tool hat das mib die 159 Mio. Suchanfragen eines Jahres interaktiv dargestellt (Bild 3). Ausgehend von dieser Aufbereitung wurden langsame Relationen z. B. mit neuen Linien oder Linienverläufen deutlich beschleunigt. 3. Wo und wann werden Busse gut oder schlecht genutzt? Zahlen des Automatischen Fahrgastzählsystems (AFZS) werden in Hamburg schon seit vielen Jahren verwendet. Für die interaktive Nutzung der Daten hat das mib eine eigene Anwendung entwickelt. Durch die Anwendung können schnell und einfach Linien(abschnitte) identifiziert werden, die über- oder unterdurchschnittlich oft genutzt werden. In beiden Fällen kann durch passende Maßnahmen das Angebot verbessert werden. Bei stark frequentierten Buslinien kann eine Taktverdichtung oder eine ergänzende Buslinie sinnvoll sein. Bei weniger stark genutzten Linien hingegen sind beispielsweise Beschleunigungen, die Herstellung besserer Anschlüsse oder eine Durchbindung zum nächsten Zentrum zielführend. Hypothesen können zusätzlich mit anderen Datenquellen überprüft werden, um Ursachen einer schlecht genutzten Busverbindung zu ergründen. Potenzial wird in Angebotsmaßnahmen übersetzt Mit den Verkehrsunternehmen hat das Mobility Institute Berlin im Rahmen von über 40 Workshops und Entscheidungsrunden das Potenzial in Angebotsmaßnahmen übersetzt und ein Zielnetz entwickelt. Dabei wurden die Maßnahmen in den Planungsworkshops immer konkreter. Hamburg wurde in sechs Teilnetze gegliedert, um das Vorgehen zu strukturieren. Inhaltlich ist das Netz anhand der folgenden Stellhebel systematisch geprüft und verbessert worden: • Verbindungen beschleunigen • Erschließung verbessern • Zentren direkter verbinden • Netz besser verknüpfen • Takt verdichten und gleichmäßiger verteilen • betriebliche Stabilität gewährleisten • Bedienzeiten ausweiten • Anschlüsse optimieren • Kapazität erhöhen • Angebot transparent und einfach gestalten Auf Basis einer ersten qualitativen Bewertung nach Dominanzprinzip und Analogieschlüssen haben wir die Maßnahmen priorisiert und in Visum bewertet. So ist für jede Linie eine Kosten- und Nutzen-Abschätzung entstanden. Abschließend wurde das gesamte Zielnetz modelliert und aufgezeigt, dass mit knapp 60 % sogar mehr als der angestrebte Fahrgastzuwachs von 50 % durch das Zielnetz erreicht werden kann. Die Umsetzung ist erfolgreich gestartet Der reale Fahrgastzuwachs wird sich in den kommenden Jahren der Umsetzung zeigen, denn bereits zum Fahrplanwechsel im Dezember 2019 wurde ein erster Teil der Maßnahmen eingeführt (siehe Bild Seite 12). Damit sind auch die im Projekt neu entwickelten Produkte ExpressBus und Quartier- Bus eingeführt worden. Genauer haben Hochbahn und VHH zwei neue MetroBus-, vier neue Express- und StadtBus-Linien sowie einen QuartierBus eingeführt. Darüber hinaus bieten die Verkehrsbetriebe auf einigen Linien einen dichteren Takt und einen 24/ 7-Nachtbusbetrieb im Hauptliniennetz Harburgs an [5]. Das Angebot läuft in den nächsten zehn Jahren linear hoch. Auch in anderen Städten gibt es viel Potenzial, das durch Optimierung des bestehenden Angebotes und eine gezielte Ausweitung gehoben werden kann. So können in Zukunft mehr Autofahrer für den ÖPNV begeistert werden. Vorhaben wie die Angebotsoffensive stehen und fallen mit dem politischen und institutionellen Rückenwind und erfordern einen starken Einbezug aller relevanten Stakeholder. Die Ambitionen können besonders dann gut kanalisiert werden, wenn es ein gemeinsames Ziel und eine ambitionierte Vision gibt. ■ QUELLEN [1] Bardua, S.; Kähler, G. (2012): Die Stadt und das Auto: Wie der Verkehr Hamburg veränderte. Schriftenreihe des Hamburgischen Architekturarchivs 27. München: Dölling und Galitz Verlag [2] infratest dimap: HamburgTREND Januar 2020. Januar 2020 [3] Senatskanzlei: Umfassender Ausbau des Öffentlichen Nahverkehrs in Hamburg. 11. Dezember 2019 [4] infas Institut für angewandte Sozialwissenschaft GmbH: Mobilität in Deutschland. Kurzreport, Hamburg und Metropolregion. November 2018 [5] Pressestelle des Senats: Zahlen und Fakten im Überblick. Zweite Angebotsoffensive für Bus und Bahn rollt auf Hamburg zu. 25. Juni 2019 Niklas Hoffmann, Consultant, Mobility Institute Berlin nih@mobilityinstitute.com Torben Greve, Gründer und Geschäftsführer, Mobility Institute Berlin tog@mobilityinstitute.com Bild 3: Stark nachgefragte Relationen mit Durchschnittsgeschwindigkeiten unter 12 km/ h nach Fahrplanauskunft HVV in Winterhude Quelle: Mobility Institute Berlin, Grundlagenkarte © OpenStreetMap-Mitwirkende
